© Franz Nahrada
Unter den vielen Kommentaren zur HABITAT II Konferenz fand sich auch
einer von Günter Nenning, in dem er eine sehr bemerkenswerte
Tatsache ins Zentrum stellte: Wien ist eine Stadt, die noch um die
letzte Jahrhundertwende den Rang einer geistigen Metropole mit einem
vorderen Platz unter den bevölkerungsreichsten der Weltstaedte
verband. Der relative Positionsverlust von Wien - heute rangiert Wien
unter den Millionenstaedten der Erde statt unter den Top Ten hinter
mindestens zweihundert anderen - sei ein Gewinn für Lebensqualität,
Planbarkeit und die Fähigkeit, urbane Probleme in den Griff zu
bekommen.
Der Positionsverlust ist freilich keine beabsichtigte Strategie
städtischer Entwicklung gewesen, sondern ausgelöst durch politische
und soziale Einschnitte. Die Schwankungen der letzten Jahre in den
demographischen Prognosen über das städtische
Bevölkerungswachstum und die darauf aufbauenden politischen und
planerischen Reaktionen haben gezeigt, daß es nicht nur keinen
wirklichen Konsens zu der Frage gibt, inwieweit die Stadt dem
demographischen Wachstumsdruck nachgeben muß, inwieferne Migration in
die Stadt strukturell zu begrüßen ist - sondern auch inwieweit
Planung hier überhaupt Maßstäbe setzen kann und soll. Auf der
einen Seite stand die Notwendigkeit, sich auf eventuell zu erwartende
Migrations-bewegungen in Europa vorzubereiten, diese als eine positive
Komponente der Stadtentwicklung integrieren zu können, gerade auch in
Hinsicht auf Faktoren wie strukturelle Überalterung etc.. Auf der
anderen Seite stand eine praktizierte Politik des Konservierens des
Status quo ante und der Eindämmung von Zuwanderung, die sich in
durchaus abgemilderter Form in den allgemeinen Trend einfügt, den
Alvin Toffler die "Revolte der Reichen" nannte: Besitzstände zu
erhalten, Krisenlasten zu externalisieren und Ausgrenzungen zu
verstärken.
Der Status quo ist daher wieder geworden: Wien wächst nur moderat,
qualitatives hat statt quantitativem Wachstum den Vorrang. Die Frage
ist freilich, ob diese Festlegung als Konsens ausreicht, ob sie uns
wirklich in die Lage versetzt, mit den Herausforderungen der Zukunft
fertig zu werden und angesichts der verstäkten Dynamik von
Städtekonkurrenz und Globalisierung ein Programm für eine
Verankerung und Funktionsbestimmung Wiens im 21. Jahrhundert enthält.
Hier soll eine etwas unkonventionelle Antwort formuliert werden: nur
wenn es gelingt, aus der Situation des vergleichsweise moderaten (oder
gar negativen) physischen Wachstums der Stadt eine bewußte Stärke
zu machen, die die globale Position und die städtische Funktion Wiens
insgesamt nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern sogar in gewisser
Weise sogar eine positive Bedingung einer neuen Vernetzungsdynamik
-mit Wien als einem zentralen Knotenpunkt - darstellt, wird diese Stadt
auch im nächsten Jahrhundert eine Rolle spielen, die der Rolle in
ihrer Vergangenheit adäquat ist - und ihr die Mittel verschafft, auch
weiterhin ein guter Platz zum Leben zu bleiben.
Die Folge der Informationstechnologie: globale Konkurrenz der Städte
In der gegenwärtigen Debatte um Stadtentwicklung wird den
Informationstechnologien breite Aufmerksamkeit gewidmet, und das zu
recht: ganz sicher ist hier ein Potential entstanden, das die
Bedeutung von Räumen, von Zentralität und Peripherie, radikal zu
ändern imstande ist. In der bisherigen Entwicklung der Technologie
und in der Debatte darüber ergab sich eine Verstärkung der
wirtschaftlichen Gewichtung von Zentralräumen, von "globalen
Städten", die in sich logistische Kontrollfunktionen oder
Supportfunktionen zu konzentrieren vermochten.
"Wirtschaftliche Globalisierung kann aller Erfahrung nach nicht so
interpretiert werden, daß es dadurch zu einer Gleichverteilung der
Kommandozentralen der Wirtschaft auf der Welt kommt. Was ablesbar ist,
ist eine Erweiterung des Systems der Zentralen von europäischen und
US-amerikanischen Städten auf japanische und einige fernöstliche
Städte bei gleichzeitiger Konzentration von Funktionen in den
bisherigen 'Weltzentren'. Wenn die Austrian Airlines ihre ganze
Buchhaltung nach Indien auslagern, dann ist das mit Sicherheit erst
durch die entsprechenden Telekommunikations-verbindungen möglich
geworden. Wo aber in Indien wird diese Buchhaltung gemacht? Nicht am
Land, sondern wieder in einer Stadt, mit einem hohen Potential an
indischen EDV-SpezialistInnen und ProgrammiererInnen".1
Städte, so das durchaus richtige Argument, vermögen durch
Vernetzung ihre interne Effizienz bei weitem schneller zu steigern als
ländliche Räume. Und dieser Prozeß ist selbstverstärkend,
erhöht beständig den Unterschied zwischen der Leistungsfähigkeit
von Wirtschaftsräumen zum Nachteil der ländlichen und peripheren
Räume. Die leistungsfähigen Räume liegen dort, wo Manuel Castells
den "Space of Flows" verortet hat: an den Knotenpunkten der Verkehrs-
und Handelsströme, mit hochentwickelter Kommunikationsinfrastruktur
und einer Vielzahl lokaler Akteure. Dabei sind die Städte zunehmend
auf einer unmittelbar globalen Ebene miteinander konfrontiert: im
globalen Büro von Bangalore können mittlerweile auch die
hochqualifiziertesten Job Descriptions erledigt werden, ob die
Produktion von Software für Tomographen oder der Formelsatz für
Computerbücher - und das alles für einen Bruchteil der Kosten von
London oder gar Wien. Die Boomtown des Infomationszeitalters zieht
natürlich jede Menge von Hilfs- und Supportfunktionen an, Information
Brokers, Medienproduzenten, Steuer- und Handelsrechtsexperten,
Computerlieferanten und so weiter. Der Multiplikationseffekt ist
hinlänglich bekannt, und er wird nochmals multipliziert durch die
globale Bedeutung einer Stadt. Saskja Sassen hat in ihren Büchern
("The Global City", "Losing Control?") diese globale
Agglomerationslogik genau studiert, die darin gipfelt, daß es nicht
nur den Zwang des Zulieferers gibt, "just in time" möglichst nahe an
den Geschäftszentren zu sein, sondern auch den Zwang für
Entscheidungsträger und Manager, im physischen "Information loop" der
globalen Stadt präsent zu sein - auch wenn Datenhighways und emails
scheinbar alle egalitär verbinden. Die „Wissenskulturen” oder
besser „Subkulturen” der Städte gewinnen in der „neuen
Geographie der Macht” an Bedeutung, die „weichen
Standortfaktoren” des Zusammenspiels vieler für das eigene Umfeld
bedeutsamer Akteure werden für die Städte immer wichtiger - je mehr
die sie zu globalen Städten werden. Und diesem Zwang, sich nicht mehr
auf eine "heimische" Wirtschaftsbasis zu stützen, sondern lediglich
ein mehr oder weniger günstig gelegener Standort für sehr
wählerische Unternehmen zu sein, unterliegen alle Städte.
Längst tangiert so das Wachstum einer Stadt nicht nur ihren
unmittelbaren physischen Umraum und die benachbarten Regionalzentren,
sondern hat unmittelbar globale Auswirkungen auf ganze Branchen auf
anderen Kontinenten. In einer Zeit, in der der überwiegende Anteil
der Wertschöpfung von Industrieprodukten aus Information und
Informationsarbeit besteht, hat die Flexibilität und Verlagerbarkeit
von Produktion noch enorm zugenommen. 50% der gesamten Erwerbsarbeit
weltweit , so schätzt man heute, bestehen im wesentlichen schon im
Umgang mit Symbolen und Sprache, und diese Arbeiten sind leichter zu
disloziieren als man es jemals für möglich hielt. Kulturelle
Barrieren für Vertwaltungstätigkeiten werden jedenfalls nicht mehr
lange halten. Daß es immer noch als etwas Bemerkenswertes gehandelt
wird, wenn österreichische Autobahnvignetten in Chicago hergestellt
werden, zeigt nur, wie wenig die Öffentlichkeit und das allgemeine
Bewußtsein das tatsächliche Ausmaß der Globalisierung zur
Kenntnis genommen haben. Zwar stimmt die Faustregel "90% of all
Business is local" nach wie vor, aber in dieser Zahl ist eben nicht
ausgedrückt, wieviel davon Folge- und Begleiterscheinung globaler
Geschäftsbeziehungen ist und ohne sie gar nicht (mehr) existieren
würde.
Städte erhalten im Informationszeitalter mehr denn je Funktionen, die
sie als "Cluster" um den Kristallisationspunkt von erfolgreichen
globalen Positionierungen charakterisieren. Frankfurt oder London ist
Finanzplatz, es gibt auch Medienstädte, Industriestädte,
Verwaltungsstädte oder Touristenstädte. Manche sind mehreres
zusammen und manchmal ergibt sich eines aus dem anderen. Die Frage ist
nicht unberechtigt, ob es für jede Stadt - also auch Wien - nicht
immer wichtiger wird, die eigene Clustersituation bewußt zu steuern;
und ob hier die Informationstechnologien nicht schon wieder eine
Beschleunigung ankündigen, auf die es sich vorzubereiten gilt.
Clustering, Stadtmarketing und Städtisches Informationsmanagment
Eine Stadt, in der - zum Beispiel - ein hoher Standard medizini-scher
Versorgung existiert, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in der
Sphäre telemedizinischer Angebote erfolgreich sein; damit steigt aber
der Grad der Diversifizierung und Wissensintensität am Standort des
îHubs”, der Anreiz für viele Partner, gerade hier präsent zu
sein, während vergleichsweise andere Standorte im Standard
zurückfallen. Es dreht sich also das Verhältnis um und die
telekommunikative Vervielfachung des Angebotes einer Stadt nach außen
erhöht die Chancen, den Standard nach innen zu erhalten. Eine Studie
über makroökonomische Auswirkungen der Telekommunikation (METIER)
im Rahmen des ACTs Programms der Europäischen Union warnte schon vor
Jahren, daß der bloße Ausbau der Infrastruktur ohne gleichzeitige
schnelle Entwicklung angebotsorientierter Strategien im Grunde genommen
wie das Konstruieren von Pipelines zum Abtransport von Kaufkraft zu
betrachten sei. Besser, so der lakonische Grundtenor der Studie, man
baue die Breitbandnetze nicht, als ohne gleichzeitige drastische
Verbilligung den lokalen Unternehmen Anreiz und Chance zu nehmen, sich
zu globalen Playern zu entwickeln.
Die Allianz aus modernem Transportsystem und Telekommunikation tendiert
also dazu, in fast allen Bereichen die Städtekonkurrenz zu
intensivieren und die Städte zu unternehmensähnlichem Verhalten, zu
Stadtmarketing im weitesten Sinne zwingen, schon in Hinblick auf die
Sicherung der inneren Qualität des Levels städtischer
Dienstleistungen im Vergleich mit anderen Städten.
Marketing ist dabei gerade nicht nur das Verkaufen dessen, was man
aktuell hat, sondern es ist der Versuch, sich durch eine genaue Analyse
der eigenen Stärken und Schwächen im Vergleich zu anderen Anbietern
die richtige îNische” zu suchen, in der die eigenen Stärken auf
das richtige Bedürfnis, auf die richtige Nachfrage treffen. Marketing
schließt auch die Entwicklung von Produkten ein, und die moderne
Stadt muß sich und ihre "Wissensbasis" als ein Produkt begreifen,
daß sie sowohl ihren eigenen Akteuren als auch passenden neuen
Akteuren beständig zu verkaufen hat, das sie aber auch selber zu
gestalten hat.
Die Entwicklung von Clustern bedeutet die Entwicklung von Netzwerken
wechselseitigen Supports, die den einzelnen Akteuren maximale
Erfolgsbedingungen verschaffen. Die Geschwindigkeit und Komplexität
dieses Prozeses ist ständig im Steigen begriffen; keine Stadt ist
mehr in der Lage, in diesem Prozeß eine monopolistische Rolle
einzunehmen oder ihn kontrollieren zu können; sie kann nur versuchen,
durch Schaffung bestimmter Rahmenbedingungen den Prozeß günstig zu
beeinflussen.
Dabei dürften mehrere Faktoren eine Rolle spielen, die durchaus
unterschiedlichen Charakter haben:
1. die kommunikative Kultur, die Wahrscheinlichkeit, im städtischen
Rahmen produktive Interaktionen zur Entwicklung von Projekten und zum
Finden geeigneter Partner durchführen zu können;
2. der Konsens über grundsätzliche Leitvorstellungen der
wünschenswerten zukünftigen Entwicklung der Stadt selbst;
3. die „Außenpolitik” der Stadt, also die Leichtigkeit, mit der
kommunikative Kanäle von einem Standort aus beschritten und
Transaktionen durchgeführt werden können
Speckgürtel oder Stadtnetz ?
Im folgenden möchte ich einen in der gegenwärtigen Debatte
vernachlässigten Aspekt hervorheben, nämlich die Frage des
sogenannten städtischen "Hinterlandes" und nach der Rolle die das
geographische Umfeld der Stadt in diesem Globalisierungsprozeß zu
spielen imstande ist.
Schon der Begriff des "Hinterlandes" spiegelt natürlich die
Sichtweise des Städters wider, er ist schon in seiner Wortwahl
tendenziös. Und doch gibt er nur wieder, daß die Dichotomie von
städtischem und ländlichem Raum sich zunehmend auflöst:
"Es fällt allerdings schwer, als städtisch zu bezeichnen, was sich
augenfällig in den Räumen zwischen Wien und Vösendorf oder
Wolkersdorf abspielt und sich als Ansammlung und Abfolge von
Betriebsstandorten, Einkaufszentren, Großsiedlungen, Gartenstadt- und
Einfamilienhaussiedlungen darstellt. Vösendorf ist nicht Wien und
nicht dorf, Atzgersdorf ist Wien und nicht Stadt....Keine Symbiose aus
Stadt und Land, kein Nivellierungsprozeß, in dem sich städtische
und ländliche Elemente gleichberechtigt zu einer Einheit verbunden
hätten, keine Verschärfung des Stadt-Land-Gegensatzes, sondern
Verschwinden der jeweils prägenden Elemente...Was passiert zu sein
scheint, ist keine gegenseitige Befruchtung und Beeinflussung, sondern
eine beiderseitige Verdünnung."2
Die Region versucht von der Nähe zur Stadt zu profitieren, die Stadt
lagert Funktionen und Elemente aus, beide sind voneinander abhängig,
aber dieser Prozeß ist eigentümlich gespalten. Am Fall
Berlin-Brandenburg ließ sich erst unlängst wieder studieren, daß
politische Koordination schwierig und die "mentalen Absetzbewegungen"
vorherrschend sind. Obwohl mit Händen zu greifen ist, daß die Stadt
in die Identität des ländlichen Raumes mehr denn je eingreift, und
zwar sowohl in ihrem unmittelbaren Hinterland als auch in der weiteren
Umgebung, die mit der Zurückdrängung der bäuerlichen
Produktionsweise vor der Wahl steht, entweder zum touristischen
Landschaftsanbieter zu mutieren oder zum beziehungslosen Gemenge eines
Schlafdorfes zu verkommen, wird immer noch - und zwar gerade von den
besten Köpfen! - einer "Identität des ländlichen Raumes" das Wort
geredet, während die Städter sich vom Raum längst keine
Identität mehr vorschreiben lassen, also ihre auch schon längst
verloren haben.
Die Telekommunikationstechnologie löst diese Problematik keineswegs
auf, sie macht sie nur virulenter, denn im Grunde genommen befördert
sie zwar die Agglomeration um die Städte, macht aber die
Identitätslosigkeit der Städte umso schmerzlicher erfahrbar:
"Zur Lösung unserer Alltagsprobleme oder als ökonomischen Werkplatz
brauchen wir die Stadt nicht mehr. Dazu genügen global geschickt
verteilte funktionale Zonen, ein Auto, etwas Telekommunikation. Die
Städte, die wir heute noch antreffen, sind als Ansammlungen von
Gebäuden übriggeblieben aus verschiedenen Epochen wirtschaftlicher
Zentralsation und Dezentralisation. Sie waren Marktstädte,
Handwerkerstädte, Festungen, Wohnstätten, Industriestädte,
Dienstleistungsstädte - heute sind sie dies alles noch, aber nur
zufällig. Shoppingcenters, ausgelagerte Industrien, gesunde
Gartensiedlungen, Backoffices in der Agglomeration haben der Stadt
jede wirtschaftliche Notwendigkeit genommen, leisten alles besser,
billiger und rationeller"3
Viele Autoren vetreten die Ansicht, daß Telematik eher zur
Herausbildung von "Edge Cities" oder "City-Komplementärzentren"
führt. Übersetzt auf den Raum Niederösterreich-Wien hieße das,
daß der Gewinner der telematischen Restrukturierung der Wiener Raum
links der Donau oder die neuen Subzentren z.B. entlang der Vorortelinie
wären, die in räumlicher Nähe zum Stadtzentrum stehen, sich aber
zu eigenständigen zentralen Räumen weiterentwickeln können;
wiederum im Verbund mit Gemeinden im Umland von Wien, mit denen sich
gemeinsam eine Art "Wiener Speckgürtel" entwickelt, in Fortschreibung
der jüngsten Zuwachsraten der niederösterreichischen Randgemeinden
von an die 100% in zehn Jahren.
Von allen Varianten der städtischen und ländlichen Entwicklung ist
dies wohl eine der schlechtesten. Von den vielen Argumenten, die gegen
den "urban sprawl" geltend gemacht werden, hat in jüngster Zeit die
Analyse der anthropogenen und natürlichen Stoffflüsse zu einer
besonders pointierten Polemik gegen weiteres städtisches Wachstum
geführt. Der "ökologische Fußabdruck", die Belastung der
"Referenzfläche"4 und der Ressourcenverbrauch einer Stadt steigen
überproportional an, wenn die Dissipationsräume5 an den
Stadträndern zurückgedrängt werden - auch wenn die Städte
insgesamt in einem selbstorganisierenden Prozeß ein ziemlich
ausgewogenes Verhältnis zwischen Siedlungskernen und
Siedlungsoberflächen auf der Grundlage verschiedenster Strategien
für die Schaffung von Dissipationsrändern entwickeln.6
Die prozeßtechnische Betrachtung der Stadt als technisches und
ökologisches System zwingt zu der Aussage, daß Städte
Optimalgrößen haben, und daß die stoffliche Funktionsweise einer
Millionenstadt eine unangemessene Vergeudung darstellt.
"Die Vision der ökolologischen Stadt entsteht aus den Antworten aus
die immergleiche Frage: Kann ein Stadtsystem so organisiert werden,
daß es weit weniger Ressourcen verbraucht?....Haben wir Phantasie
genug, uns eine derartige Stadt vorstellen zu können? Denn wenn wir
sie uns nicht vorstellen können, werden wir auch nicht entdecken, was
vielerorts schon Wirklichkeit ist, wenn auch nur in Ansätzen"
- sagte Karl Ganser auf dem Kongreß "die ökologische Stadt" im
Wiener Rathaus 1993 und malte sehr zum Erstaunen einiger Zuhörer das
Bild einer mittelgroßen Stadt, "vielleicht 60.000 Einwohner oder auch
150.000....Städte dieser Größe haben heute fast alle Vorteile der
großen Stadt und noch nicht alle Nachteile."7
Solche Ausführungen mögen in der Wiener Situation akademisch
erscheinen, und doch gibt es die Vision der Planungsgemeinschaft Ost
mit einer bewußten Hintanhaltung der Stadtrandwucherungen und einer
Stärkung der Mittelstädte, die ihrerseits wiederum als
Versorgungszentren für dezentrale Siedlungsräume in den
ländlichen Gebieten figurieren. In einer solchen Konstellation
koennte die Ubiquität der modernen Telekommunikationstechnologien in
voller Bandbreite zur Schaffung dezentraler Zentralität eingesetzt
werden, erhalten Nachbarschaftszentren, Infotheken,
Dienstleistungszentren ihren Sinn.8
Freilich stehen nicht nur politische Partikularismen einer solchen
Vision entgegen: die Tendenzen, im Zeitalter der Liberalisierung und
Globalisierung den Ausbau der Telekommunikationsinfrastruktur dem
privaten Marktkalkül zu überlassen, tragen sicher nicht dazu bei,
automatisch eine ausgewogenere und tragfähigere räumliche
Entwicklung zu befördern. Im Gegenteil scheint das kurzfristige
Kalkül mit der zahlungsfähigen Nachfrage wiederum dazu zu führen,
daß Wirtschaftskraft in der Hoffnung auf die Befriedigung dieser
Zahlungsfähigkeit sich in den Ballungsräumen konzentriert,
während die längerfristigen Entwicklungspotentiale des ländlichen
Raumes, aber auch der Klein- und Mittelstädte in diesem Kalkül
keine Berücksichtigung finden.
Kein Wunder, daß der maßgebliche Beamte der
niederösterreichischen Landesplanung sich genötigt sieht, eine
historische Parallele mit der Entwicklung der Eisenbahn zu ziehen,
deren Trassenführung unter kurzfristigen Konkurrenzgesichtspunkten
der Eisenbahnbaugesellschaften und nicht immer unter Bedachtnahme auf
längerfristige Entwicklungspotentiale erfolgt ist, was noch nahezu
ein Jahrhundert später deutlich als Nebenbahnproblem zu spüren
ist.9 Die scheinbar so moderne neoliberale Ideologie erweist sich bei
historischer Betrachtung als gar nicht so neu. Was uns im Nachhinein
als selbstverständliche öffentliche Infrastrukturaufgabe erscheint,
ist im Beginn immer ein scheinbar privater Luxus weniger gewesen, dem
Gutdünken von Investoren überlassen; das Internet befindet sich
hier in der ehrenwerten Gesellschaft der Telephonie und der
Motorisierung. Was sich als eine scheinbar neutrale
Gesetz-mäßigkeit der Entwicklung darstellt, wäre in Wirklichkeit
der Korrektur zugänglich, wenn diese nicht immer bloß mit viel
zusätzlichem Aufwand im Nachhinein erfolgen müßte.
Global City - Global Village
Die Frage bleibt allerdings bestehen: Können wir eine ausgewogene
Entwicklungsperspektive insbesondere des ländlichen Raumes jenseits
von Utopie und Wunschdenken ausmachen, die den planenden und lenkenden
politischen Eingriff in die sich entwickelnden neuen Technologien
rechtfertigt?
Wir können unsere Augen nicht länger vor der tiefen strukturellen
Krise verschließen, in die die globalisierte Marktwirtschaft
eingetreten ist. Die zentrale Rolle des Arbeitsprozesses in der
gesellschaftlichen Reproduktion ist am Schwinden, mit allen damit
verbundenen ökonomischen, sozialen und psychologischen Folgen.
Betroffen sind davon zunächst gerade die "Ränder", die Peripherien
- im Weltmaßstab ebenso wie im regionalen Maßstab.
Das Wachstum der Städte symbolisiert in Wahrheit die Schrumpfung der
Reproduktionsfähigkeit des "Gesamtsystems Marktwirtschaft" und die
damit verbundene Tatsache, daß die Globalisierung und
Flexibilisierung grosso modo sicher keine neue Massenbeschäftigung
schaffen wird. Im Gegenteil, Informations- und
Kommunikationstechnologien erweisen sich als logistischer Hebel bei der
Konzentration von immaterieller Produktion und damit auch der
materiellen. Auch wenn an die Stelle des klassischen "Back-Office"
einer Bank oder Versicherung der virtuelle Firmenverbund
ortsunabhängiger kleiner Einheiten tritt, wenn der Schichtbetrieb der
Überwachung einer automatisierten Produktionsanlage im
Dreistundenrhythmus rund um die Welt geht, so wird dadurch die absolute
Arbeitsmenge keineswegs vermehrt, sondern im Gegenteil drastisch
reduziert:
"Die harte Realität ist, daß die Umstände, mit denen wir
konfrontiert sind, weder temporär noch das Resultat eines
unglücklichen Zufalls sind: sie sind das direkte Produkt des sozialen
und ökonomischen Systems, das wir in Kraft gesetzt haben. Wir haben
sehr zielbewußt alle Umstände einer "arbeitssparenden" Gesellschaft
herbeigeführt- und sind nun irgendwie entgeistert daß immer mehr
Menschen ohne Arbeit sind. Unser Dilemma ist genau das: mit dem langen,
langen Arm der Technologie können wir alles produzieren was wir
benötigen, mit einem Bruchteil der Beschäftigung die wir einst
benötigten. Die wirkliche Frage lautet daher: wie organisieren wir
unser tägliches Leben unter radikal gewandelten Umständen? ...
Wegen der akkummulierten Effekte der Technologie haben wir ein
Zeitalter des Überflusses betreten - ohne es wirklich zu erkennen.
Aus unerfindlichen Gründen begegnen wir den vor uns liegenden
Herausforderungen als wären wir arm und die Welt voll Knappheit.
Dabei liegen folgende Dinge in den Ländern der OECD überreichlich
auf der Straße: Arbeitskraft, Kapital, natürliche Ressourcen,
physische und andere Infrastrukturen, Organisationswissen und so
weiter" 10
Zugleich nehmen die finanziellen Mittel zur zentralen Bewältigung
gesellschaftlicher Infrastrukturprobleme massiv ab, die Gemeinden und
regionalen Körperschaften werden in immer größerem Ausmaß und
mit immer kleineren Budgets für diese Aufgaben verantwortlich
gemacht, die Homogenität als Grundbedingung politischer Identität
scheint zugunsten einer "Verinselung" der Gesellschaft aufzuweichen.
Die Konturen der Antwort auf diese Problemstellung zeichnen sich also
bereits ab: eine Neugestaltung und dauerhafte Integration lokaler,
ungenutzter Resourcen jenseits der Marktvergesellschaftung bietet sich
als Weg aus der Krise der marktwirtschaftlichen Reproduktion geradezu
an. Es kommt nicht darauf an, jedes vorhandene wirtschaftliche
Potential für den Weltmarkt konkurrenzfähig und funktionstauglich
zu machen - umgekehrt dient die Konkurrenzfähigkeit dem gezielten
Aufbau lokaler Reproduktionsräume. Dabei können und müssen
"Globale Stadt" und "Globales Dorf" eine gewisse Arbeitsteiligkeit
anstreben und die Städte müssen nach wie vor und mehr denn je den
globalen, marktwirtschaftlichen Part übernehmen.
Die ländlichen Regionen werden in diesem Kontext zum Sammelpunkt der
lokalen, postmarktwirtschaftlichen Bemühung um die Rekultivierung von
Lebensraum - obwohl sie sich in vielem an der Dichte und an der
Qualität urbanen Lebens orientieren könnten. Die Förderung
jedweder lokaler Initiative, die tragfähige und dauerhafte
Ressourcenautonomie und erhöhte Ressourcenproduktivität zum Ziel
hat, geschieht am besten dadurch, daß man ihr das gesammelte Wissen
der Welt zur Verfügung stellt. Wo die sozialstaatliche Kompetenz
augenscheinlich verloren gegangen ist, muß die Herstellung lokaler
Handlungsfähigkeit und die Bereitstellung der Werkzeuge dafür ganz
oben in der politischen Prioritätenliste rangieren - zumindest
gleichrangig mit der Erhaltung der Position auf den Märkten..
Die Konkurrenz der globalen Städte um Absatzmärkte für
telematische Dienstleistungen muß in den Klein- und Mittelstädten
in mehrfacher Hinsicht als Mittel der Leverage genutzt werden: einmal
zur Entlastung der Kommunen und zur Aufrechterhaltung eines hohen
Niveaus an kommunalen Dienstleistungen durch Delegation dieser Dienste
an Stadtnetzwerke; zweitens durch die bewußte und gezielte
Beteiligung an diesen Stadtnetzwerken durch ausgelagerte
Arbeitsplätze und Abteilungen vor Ort. Eine neue Partnerschaft mit
der "eigenen" Metropole erscheint gerade unter Bedingungen
nicht-ausschließlicher Abhängigkeit wieder attraktiver zu werden.
Es ist also grundverkehrt, Zentralität und Dezentralisierung als
einander ausschließende Alternativen gegenüberzustellen. Kleine
Teams brauchen großen Support, viele Filialen brauchen einen großen
Hub. In dieser Hinsicht sind viele Potentiale des Clustering und der
Synergie im Verhältnis von Wien und Niederösterreich ungenutzt, ist
aber auch die Frage der Funktionsteilung der niederösterreichischen
Mittelstädte in einem neuen Licht zu sehen. Wichtiger als die alten
Standortkämpfe und die Frage wo die Hauptstadt ist, wird die
Bereitstellung billiger Bandbreite und die Erprobung effektiver Formen
der Telekooperation sein, um die kritische Masse für die Entwicklung
von flächendeckenden Diensten aller Art in diesem Großraum zu
erreichen. Die Konzentration des gesamten Großraumes auf ein globales
Angebot im Bereich Dorferneuerung, Umwelttechnik und Stadttechnologien
sowie dem gesamten Umfeld in kultureller und sozialer Hinsicht
entspricht dem vorhandenen Grundstock an Wissen, Kompetenz und
politischen Intentionen und könnte mehr für die Dynamisierung der
Region und ihre Attraktivität für die Kooperation mit den
natürlichen Partnerstädten (Brünn, Bratislava, Graz) tun als jede
politische Absichtserklärung - und ihr in der bevorstehenden
gesellschaftlichen Transformation einen besonders sanften Übergang
garantieren.
1Puchinger, Kurt (1996), global village - Telekom und
Stadtentwicklung,In: Zolltexte, 19, S. 30 - 32
2Elisabeth Holzinger, Rurbanisierung oder Pluralisierung. Raum 24/96
3 aus einem Typoskript des Schweizer Autors P.M., "NaQuas-Die Metropole
an der Limmat". Die dort entworfene Utopie von Wiedergewinung
städtischer Identität im Zeitalter der Globalisierung sollte sich
kein Stadtplaner engehen lassen.
4 Mit Referenzfläche ist die Fläche gemeint, die zur natürlichen
oder technischen Reproduktion der verbrauchten Ressourcen in Anspruch
genommen wird. Nirhends deutlicher wird sichtbar, daß die Städte
weit über ihren Bevölkerungsanteil hinaus ntürliche Ressourcen
verbrauchen.
5 Der Dissipationsraum oder die Dissipationsoberfläche ist die
physische Oberfläche, die das Stadtsystem benötigt, um die
überproportional beanspruchten Stoffmengen (-> Referenzfläche) auch
wieder loszuwerden. Vgl. die Arbeiten im Rahmen der Wiener
Internationalen Zukunftskonferenz, in: "Zukunft kommt", Perspektiven
Sondernummer 1996, passim
6 Humpert, Brenner,Becker: Von Nördlingen bis Los Angeles, fraktale
Gesetzmäßigkeiten der Urbanisation. Spektrum der Wissenschaft, Juni
1996, p.18ff
7 Karl Ganser, Die Vision der ökologischen Stadt, Typoskript, 1993
8 vgl. dazu: GIVE/IBM Consulting Group/Forschungsstelle f.
Sozioökonomie der Öst Ak d Wiss: Bruck an der Leitung,
Forschungsbericht im Auftrag der niederösterreichischen
Landesregierung.
9 So Gerhard Silberbauer auf der Veranstaltung "Global Village 95" in
Diskussion mit dem Wiener Planungsdirektor Klotz; das Transkript dieser
sehr aufschlußreichen Diskussion findet sich im World Wide Web unter
http://www.give.at/give/gv95.
10 Eric Britton (1995) Rethinking the city - The changing shape of
Work in a knowledge society, Keynote speech auf der Global Village 95,
Veröffentlichung in Vorbereitung.