Besprochen von Franz Krahberger
Gerald Steinacher zeigt mit seiner Studie Nazis auf der Flucht, erschienen in der
Reihe Innsbrucker Forschungen zur ZeitgeschichteBand 26, wie Nazi-Kriegsverbrecher ueber Italien nach Uebersee entkamen . Er analysiert das als Rattenlinie bekannte Fluchthelfernetzwerk, das mit der Hilfe des Roten Kreuzes, zustaendig fuer die Ausstellung von Identitaetsdokumenten, ohne deren Gueltigkeit verantworten zu muessen, mit der Hilfe des Vatikans und der Priesterschaft und in Folge mit der Unterstuetzung der CIA rechnen konnnte.
Bevor den Fluechtigen die Rotkreuzpaesse ausgefolgt wurden, bestaetigte der Vatikan die neue Identitaet. Vorraussetzung dazu war die Staatenlosigkeit. Offiziell galten volksdeutsche Fluechtlinge aus Mittel- und Osteuropa als staatenlos. So konnte man sich leicht als Volksdeutscher tarnen. Hatte man einmal ein vatikanisches Papier, stellte das Rote Kreuz den Pass den nun Staatenlosen aus. So verwandelte sich Erich Priebke in Otto Pape aus Lettland, Klaus Barbie in den Volksdeutschen Altmann und Josef Mengele wurde zum gebuertigen Suedtiroler Helmut Gregor aus Tramin. Adolf Eichmann verwandelte sich ebenso in einen Traminer Buerger und hiess fortan Enrico Klement.
Suedtirol fungierte als ideale Transferzone der Weisswaschmaschine. So wurden fluechtige Nazibonzen, SSler und Kriegsverbrecher auf Anweisung des bischoeflichen Ordinariats in Brixen wieder getauft. Kriegsverbrecher konnten sich bis zu zwei Jahre problemlos in Suedtirol aufhalten, bis sie ihre Reisedokumente und die Reisekosten zusammen gekratzt hatten. Es ging alles nicht so voellig einfach und vor allem nicht so zentral gesteuert, wie es der Mythos der Organisation Odessa lange Zeit vorgetaeuscht hatte, aber es funktionierte.
Steinacher hat die Zwischenstationen der Verwandlung anhand exemplarischer Personen bis zur Ausreise in Genua und der Aufnahme in Argentinien penibel recherchiert und moeglichst korrekt wie belegt dargestellt. So wirkt es zwar bedeutend unspaektakulaerer als der Odessa Mythos, doch die Fakten sind gesichert und der Boden der Tatsachen erhellt.
Tatsaechlich duerfte der Odessa Mythos fuer anderes nuetzlich gewesen sein. Steinacher beschreibt konkret das Engagement der Kirche von den kleinen Pfarren, der Bistuemer, des Vatikans und der National Catholic Welfare Conference Kardinal Spellmans in den USA im Recycling ehemaliger Nazis. In Oesterreich gruendete zbsp. der Salzburger Bischof Rohracher in den Nachkriegsjahren mit Hilfe der Politiker Alois Gorbach und Josef Klaus eine Art katholisches Versoehnungswerk zur Reintegration der Nazis bzw. der rueckkehrenden Wehrmachtssoldaten ins zivile politische Leben. Da war aber auf der anderen Schale der Waage das unuebersehbare Faktum des Holocausts, in dem alle menschlichen Regeln und goettlichen Gebote ausser Kraft gesetzt worden sind. Niemand hatte wissen sollen, dass der eigentliche Fluchthelfer der Nazis der Vatikan gewesen ist, dass der Vatikan gemeinsam mit den USA die Ehemaligen im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion instrumentalisierte. Weder aus der christlichen Botschaft, auch nicht durch den historisch notorischen Antisemitismus der Katholischen Kirche, und auch nicht aus den fuer die USA verpflichtenden wie grundlegenden Menschenrechte liess sich solch ein Pakt mit dem Teufel legitimieren. Und trotzdem ist er eingegangen worden. Die virtuelle Vorstellung einer allgewaltigen Rest Nazi Organisation namens Odessa diente als Nebelvorhang, als blendender Tarnmantel ueber dem machiavellistischen Tagewerk, ein durchtriebenes wie wirksames Stueck Desinformation. An diese die Grundfesten des christlichen Glaubens wie auch der Menschenrechte erschuetternden Konsequenzen und deren Deutung hat sich Gerald Steinacher nicht herangewagt. Das muss man von einem Historiker auch nicht verlangen. Es gibt jedoch genuegend Hinweise und Auesserungen von Papst Johannes Paul II., die zu erkennen geben, dass er diesen Bruch des menschlichen und goettlichen Grundvertrauens erkannt hat und die Kirche in moralische und faktische Schuld geraten ist, die zutiefst ihren innersten Auftrag in Frage stellt. Hochhuths Anklage des Stellvertreters allein reicht nicht aus, die Abgruende des Geschehens, das nicht allein Angelegenheit der katholischen Kirche ist, auszuloten.
Italien galt allgemein als Fluechtlingsland. So kam es zu grotesken Situationen. Nach 1945 gab es in Oesterreich und Deutschland Displaced Person Lager, in denen Zwangsarbeiter und Juden angehalten wurden, bis fuer sie ein Bestimmungsort feststand. Juden entschlossen sich ebenso zur Flucht und nutzten die selben Fluchhelfernetze in Suedtirol. Sie hatten einen guenstigeren Tarif zu entrichten. So kam es manchmal in einer der verdeckten Herbergen vor, dass in einem Stock eine Gruppe von Juden und im naechsten Stock SS-Schergen naechtigten, ohne voneinander zu ahnen.
Das Suedtiroler Idol Luis Trenker (gemeinsam mit Leni Riefenstahl in Berge in Flammen) soll nach 1945 hin- und wieder als Fluchthelfer ausgeholfen haben.
Der SS Offizier Karl Hass war einer der Verbindungsmaenner des Vatikans und arbeitete im Auftrag katholischer Geistlicher Fluchtrouten fuer geflohene SS-Offiziere in Italien aus, unter anderem fuer seinen Vorgesetzten Erich Priebke. Die Mithilfe katholischer Geistlicher und des Vatikans begruendet Steinacher mit deren Interesse an zuverlaessigen antikommunistischen Kaempfern. Die gleiche Qualifikation war im weiteren fuer die CIA interessant.
Steinacher schreibt, dass Karl Hass ab 1947 als verstorben galt, um seine Taetigkeit als Agent italienischer und US- Dienste leichter ausueben zu koennen. Das laesst annehmen, dass Hass etwa in das Projekt Gladio bzw. dessen Vorformen involviert gewesen ist. 1969 erschien er jedenfalls als Fimschauspieler auf den Kinoleinwaenden der Welt. Im Film Die Verdammten von Luchino Visconti spielte der Totgesagte einen Nazi-Offizier. Ich traue Visconti zu, die wahre Identitaet von Hass gewusst zu haben.
Gerald Steinacher gehoert einer Generation junger Historiker an, die an die allgemein grausame Geschichte des Nationalsozialismus und dessen Folgen unbefangen herantreten.
Sie entfalten einen nuechternen Blick und wollen nichts ausblenden. Die Fakten ruecken in den Vordergrund und bestaetigen die schlimmsten Annnahmen.
In der zunehmenden Globalisierung wird der transnationale Ansatz ohnehin zum verpflichtenden Standard werden. Das Internet erweist sich in solchen Betrachtungen und Recherchen als nuetzliches Instrumentarium.