Univ.-Prof. Dr. phil. Peter Wiesinger, tätig in den Forschungs-
u. Lehrgebieten Deutsche Sprache und ältere deutsche Literatur, deutsche
Dialektologie, Sprachgeschichte, Soziolinguistik, österreichisches
Deutsch, Namenforschung, Geschichte der. Sprachwissenschaft, deutsche Literatur
d. Spätmittelalters hat gemeinsam mit Daniel Steinbach in der Edition
Praesens 2001 anlässlich des 150. Jahrestages der im Jahre 1850 erstmals
eingerichteten Lehrkanzel für Germanistik an der Universität
Wien eine fachlich kompetente Geschichte der Wiener Germanistik publiziert.
Sowohl Früh-, Alt- und Neugermanisten werden in chronologischer
Folge ihres Wirkens dargestellt. Ebenso die differenzierten fachlichen
Entwicklungen und Verzweigungen konkret im Zeitrahmen von 1850 bis 1970
wie ihre nicht unbedeutenden Querverbindungen zur Skandinavistik und zur
Volkskunde.
Einmal mehr wird deutlich, wie sehr dieses Fach zur Herausbildung eines
deutschnationalen Kulturverständnisses insgesamt über lange Zeit
beigetragen hat.
Bestürzend ist die Affinität einzelner Professoren zum Deutschnationalismus
wie in Folge zum Nationalsozialismus. So wird etwa Rudolf Much, Lehrtätigkeit
von 1894 bis 1934, der bereits 1900 eine Deutsche Stammeskunde veröffentlichte,
als Wegbereiter der nationalsozialistischen Ideologien in der Altgermanistik
und der damit verbundenen Volkskunde festgemacht. Ob seiner Verdienste
ehrte die Wiener Universität 1952 Much mit der Aufstellung einer Büste
im Arkadenhof.
Da gerade die Germanistik und besonders die das Germanentum behandelnde Altgermanistik den Ideologien des Nationalsozialismus willkommen war, und umgekehrt zahlreiche Germanisten den schon zuvor in Österreich von Georg von Schönerer vorbereiteten deutschnationalen Strömungen aufgeschlossen waren, kam es zu unterschiedlicher nationalsozialistischer Beteiligung, sei es freiwillig in nationalsozialistischen Organsiationen und durch den illegalen Eintritt von 1933 bis 1938 verbotene NSDAP oder sei es unter dem an der Universität seit dem Anschluss herrschenden Druck, der auf die Germanistik besonders stark war. Allein zwei Wissenschafter hätten sich in der Altgermanistik diesem Druck entzogen, Wiessner durch Abwendung und Rudolf Kriss im Widerstand, den er beinahe mit seinem Leben bezahlt hätte.
Der geistig liberale Altphilologe Max Hermann Jelinek wurde bereits
1929/30 als „Vertreter des Judentums“ angefeindet und 1934 vorzeitig dienstentlassen.
Alle Versuche, 1912, 1922 und 1928 ihn zum regulären Ordinarius zu
befördern, blieben erfolglos.
Der 1895 gegründete Wiener Akademische Germanistenverein verlangte
bereits nach dem Ersten Weltkrieg von seinen Mitgliedern arische Abstammung
und deutsches Denken.
Ebenso in Ruhestand versetzt wurden noch während des Ständestaates
ob ihrer jüdischen Abstammung Robert Franz Arnold und zwei weitere
Fakultätsmitglieder.
Nach 1945 erwies sich die Zugehörigkeit zur NSDAP nur kurzzeitig
als Nachteil. Nachdem der Lehrbetrieb mit dem nicht disqualifizierten Personal
nur in Teilen aufrecht erhalten werden konnte, bzw. in der Altgermanistik
völlig zusammengebrochen wäre erfolgten in den bis 1954 durchgeführten
Entnazifizierungen grössten Teil Wiederzulassungen.
Im weiteren konnte Otto Höfler wiederum von 1957 bis 1971 seine
Venia legendi in der Altgermanistik an der Wiener Universität fortsetzen.
Höfler hatte 1939 eine antisemitisch rassistische Denunzierung des
Literaturwissenschaftlers Friedrich Gundolf im Sinne der Nazis veröffentlicht.
Höfler wurde Mitarbeiter der von Heinrich Himmler getragenen SS-Kulturorganisation
"Ahnenerbe". Nach 1945 wurde er als Mitläufer eingestuft und erhielt
ab 1950 in München wieder die Lehrbefugnis für Skandinavistik.
1954 durfte er wieder seine volle Lehrtätigkeit für "Nordische
Philologie und Germanische Altertumskunde" ausüben. 1957 wurde er
an die altgermanistische Lehrkanzel der Universität Wien berufen.
Höfler ist Schüler von Rudolf Much gewesen. Erst die Studentenunruhen
1968, in denen auch Höflers Vorlesungen gestört wurden, bewogen
ihn zum endgültigen Rückzug.
Die wiederrichtete sprachwissenschaftliche Lehrkanzel wurde 1958 mit
Eduard Kranzmayer, der 1945 wegen seiner NSDAP Zugehörigkeit aller
Ämter enthoben worden war, besetzt, und er hatte sie bis 1968 inne.
Erst 1971 beendete er seine Vorlesungstätigkeit. Der gebürtige
Klagenfurter steht für eine besondere österreichisch deutschnationale
Traditionslinie, die aktuell die österreichische Innenpolitik erneut
erregt.
1919/20 beteiligte er sich am Kärntner Freiheitskampf. Seine etymologischen
Studien zu Kärntner Ortsnamen
Zur Ortsnamenforschung im Grenzland,
mit der Behandlung deutsch-slowenischer Doppelnamen und eingedeutschter
Ortsnamen slawischen Ursprungs bildeten die Bewertungsgrundlage seiner
Habilitation 1933 bei Rudolf Much.
1944 erschien seine einschlägige Studie "Die deutschen Lehnwörter
in der slowenischen Volkssprache", die im Sinne des nationalsozialistischen
Zeitgeistes die Bedeutung der deutschen Einflüsse im fremdsprachigen
Gebiet hervorkehrte und damit eine eigenständige slowenische Kultur
in Frage stellte.
Vergleichbare Karrieren gab es ebenso im neugermanistischen Zweig. So
lehrte etwa Hans Rupprich, der 1938 dem NS-Dozentenbund beigetraten war,
von 1951 bis 1972 an der Lehrkanzel für neuere deutsche Literatur.
1954 übernahm Moriz Enzinger, ebenso 1945 wegen NS-Zugehörigkeit
suspendiert, die Lehrkanzel für österreichische Literaturgeschichte
und Allgemeine Literaturwissenschaft von Oskar Benda. Benda hingegen war
von den Nazis ob seiner prononciert österreichischen Haltung ausser
Dienst gestellt worden.
Besonders bemerkenswert ist, dass die Fakultät im Falle Enzinger
erstmals
frei und unabhängig über die Besetzung der neuen Lehrkanzel entscheiden
konnte. 1965 folgte Herbert Seidler Enzinger. Seidler hatte sich bereits
1944 bei seinem Vorgänger habilitiert. Seidler musste seine Habilitation
jedoch 1949 bei seinem wieder eingestellten Lehrer an der Universität
Innsbruck wiederholen, da die erste wegen Zugehörigkeit Seidlers zur
NSDAP nicht mehr anerkannt wurde. Bis 1958 dozierte Seidler in Innsbruck.
Danach unterrichtete er sechs Jahre im rassistischen Südafrika. 1964
wurde er an die neu gegründete Universität in Salzburg berufen.
In Wien lehrte er bis 1975.......
Einmal mehr wird auf das nationalsozialistische Ideengut des Ordinarius des 1943 neugegründeten Instituts für Theaterwissenschaft Heinz Kindermann (Dozent für Neugermanistik 1924-1927) hingewiesen. Der nach 1945 von der Wiener Universität verwiesene Kindermann wurde 1954 gegen erbitterte Studentenproteste erneut als Extraordinarius wieder eingesetzt und 1959 zum ordentlichen Professor ernannt.
Wie selbstverständlich der Umgang mit diesen vorbelasteten und gewendeten Herren gewesen ist, zeigt ein kleines, aber charakteristisches Detail, das mir kürzlich bekannt geworden ist, also nicht im besprochenen Buch erwähnt wird.
Ernst Haeusserman, Theaterdirektor, Regisseur, Filmproduzent, 1945-49
US-Programmdirektor des Senders Rot-Weiß-Rot in Salzburg, 1948-53
Leiter der Film-, Theater- und Musikabteilung der US-Botschaft in Wien,
Direktor des Theaters in der Josefstadt in Wien, Direktor des Wiener Burgtheaters,
Direktoriumsmitglied. der Salzburger Festspiele; Professor an der Hochschule
f. Musik u. darst. Kunst; ab 1975 gemeinsam mit Marcel Prawy Leiter des
Institutes für kulturelles Management legte am 31.Jänner 1966
dem Prof. Heinz Kindermann und dem referentiellen Prüfer Prof. Hans
Rupprich eine Dissertation mit dem Thema Max Reinhardts Theaterarbeit
in Amerika zur Begutachtung vor und wurde am 16.Dezember.1966 zum Doktor
der Philosophie promoviert.
Nachdenklich stimmt nicht der qualifizierte Inhalt der Dissertation
über die amerikanischen Aktivitäten von Max Reinhardt, sondern eben die Personenkonstellation
des reifen Werkstudenten Haeusserman, hauptberuflich zu diesem Zeitpunkt Direktor des
Wiener Burgtheaters und zweier Professoren, die beide Jahrzehnte zuvor
einer Weltanschauung huldigten, einer davon als besonderer Propagandist
der nationalsozialistischen Kulturvorstellungen, die Reinhardt zuerst die
Arbeit in Deutschland verunmöglichten und 1938 aus Österreich
ins amerikanische Exil gezwungen haben.
Rupprich überstand den Umbruch weitgehend unbeschadet,
während Kindermann 1945 bis auf weiteres als schwer Belasteter aus
der Wiener Universität entlassen wurde. Doch er kehrte zurück,
wie andere auch.
Ähnliche Konstellationen habe ich bereits in meiner Arbeit Die
Pürggschaft; österreichische Kulturpolitik unter den Bedingungen
des Kalten Krieges, offen gelegt.
Dass Ernst Haeusserman zu Beginn der 70 er Jahre eine Biografie Herbert
von Karajans veröffentlichte, so sei nebenbei noch erwähnt.
Franz Koch, der sein Dozentenamt der Neugermanistik von 1927 - 1935
ausübte, hatte sich bereits 1926 in seiner Begründung stammesgeschichtlicher
Literaturgeschichte für die Arbeit Josef Nadlers eingesetzt. 1935
wurde Koch nach Berlin berufen. Er trat 1938 der NSDAP bei und setzte sich
aktiv für eine nationalsozialistische Germanistik ein. Zu seinen bevorzugten
zeitgenössischen Schriftstellern zählte er Guido Erwin Kolbenheyer
und Josef Weinheber.
Sein Vorgänger Cysarz (1922-1927) stellte 1941 die Geschichte
der deutschen Literatur unmissverständlich als im Dritten Reich
erfüllten "Geisteskampf um Volk und Reich" dar.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich mit dieser markanten Auswahl
eine verkürzte Perspektive herstelle, die in eine bestimmte Richtung
weist. LeserIn des Buches wird mir jedoch nach Lektüre dieses geschichtlichen
Abrisses der Wiener Germanistik diese Heraushebungen verständnisvoll
zugestehen, dass die Wahl durchaus der von den Autoren offen gelegten Faktenlage
entspricht und letztendlich eine unübersehbare Tendenz vorhanden ist..
Gerade in der Vorbelastung dieser Lehrenden wäre durchaus eine
eingehendere Darstellung der Änderung der von ihnen in der 2.Republik
ausgehenden Lehrmeinung dringend vonnöten. Dem wichen die Autoren
jedoch weitgehend aus und so entsteht eben das Bild einer tatsächlich
befangenen Wissenschaft, die aus deutschnationaler Orientierung, aus einem
germanisch völkischen Kulturverständnis schöpfte, die u.a.
die germanische und nordische Götter- und Sagenwelt zum Gegenstand
wissenschaftlicher Forschung gemacht hat, die bis hin zur Mundartkunde
einen deutschnationalen und wie nationalsozialistischen Kulturbegriff festgeschrieben
hat, der auch vor dem offenen Rassismus nicht halt machte, und sich nach
1945 in ideologisch unverfaenglicher Weise weiter artikulieren konnte.
So hat Josef Nadler, Verfasser der Literaturgeschichte des deutschen
Volkes - Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften
1934 einen Aufsatz
Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde in Dichtung
und Volkstum veröffentlicht. Nadler wurde zwar nach 1945 nicht
wiederbestellt, spielte aber doch bis zu seinem Tod eine kulturpolitisch
nicht zu übersehende Rolle. Nadler wurde zwar von Bormann ehrenvoll
aus der Partei entlassen, weil er als bekennender Katholik mitunter
von der nationalsozialistischen Rassenlehre abgewichen sei. Von seinem
Lehramt der Neugermanistik 1931 - 1945 wurde er deswegen jedoch nicht enthoben.
Die Positionen Nadlers dürften in diesem Zusammenhang mit denen des
österreichisch- römischen Bischofs Alois Hudal in Vergleich zu
setzen sein.
Seine vierbändige Literaturgeschichte arbeitete er um zu einer
einbändigen, ideologisch nun unverfänglichen „Geschichte der
deutschen Literatur“, die 1951 erschienen ist. Genau um diesen Spielraum,
bzw. Diskrepanz von ideologisch geprägter, gefärbter oder willentlich
eindeutiger Ausrichtung und ideologisch unverfänglicher Lehre
geht es jedoch in diesen besonderen personellen Konstellationen in der
Lehre davor und danach... Dem wird entschieden zuwenig kritischer Reflexionsraum
in der Darstellung gegeben. Wahrscheinlich hätte ein derartiges Unternehmen
den Rahmen dieser Jubiläumsschrift bei weitem überstiegen.
Obwohl der Titel die Darstellung der 150 jährigen Geschichte der
Wiener Germanistik bis in die Gegenwart verspricht, schliessen die Autoren
mit den 70 er Jahren. Peter Wiesinger begründet dies im folgenden
so:
Es geziemt sich aber nicht, die seit 1971/75 als fünfte Generation
Lehrenden sowie die seither aus dem Dienst ausgeschiedenen emeritierten
oder pensionierten ProfessorInnen und Dozenten einzubeziehen. So erfahren
wir also nichts über Methodenwandel und anders positionierte Lehrinhalte
des letzten Drittels des 20.Jahrhunderts, nichts über die Beziehungen
zur aktuellen deutschsprachigen, insbesondere der neueren österreichischen
Literatur, die wesentlich andere gesellschaftliche Beziehungen hat, wie
auch anderen Formkriterien folgt, die mit der klassischen deutschen wie
österreichischen Literatur, auf der Nationalismus sich gründen
konnte, nur mehr wenig zu tun haben.
Das gerät zum offenbleibenden Nachteil dieser an sich aufschlussreichen
wie erhellenden Geschichte der Wiener Germanistik, von der ein nicht zu
übersehender Beitrag zur katastrophalen kulturellen Entwicklung in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgegangen ist. So leistet
die Arbeit leider keinen dringend nötigen synoptischen Beitrag zur
aktuellen Bestimmung der tatsächlich von den unerträglichen Altlasten
befreiten Lehre der deutschen Sprache und der deutschsprachigen Literatur
der Gegenwart.
Peter Wiesinger / Daniel Steinbach
150 Jahre Germanistik in Wien
Ausseruniversitäre Frühgermanistik und Universitätsgermanistik
Edition Praesens, 2001, Wien
ISBN: 3-7069-0104-8