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DU WIRST SCHON SEHEN

von Helmut Peschina

Auszug aus einem Hörspieltext

Aufführungsrechte bei Thomas Sessler Verlag, Wien

mit freundlicher Genehmigung des Autors.


Anfangs!

Wenn es viel war, dann die ersten zwei Jahre. Zwei Jahre! Am Beginn von vierzig gemeinsamen Jahren. Fast nie getrennt voneinander. So viele Jahre, in denen Du mich gedemütigt hast, gepackt und mich angefaucht:

"Wie kommst Du dazu, so gesund zu sein?!"

Aber wenn ich wirklich einmal krank war, sehr selten, dann warfst Du mir vor, ich stelle mich krank.

"Um faulenzen zu können", so hast Du Dich ausgedrückt.

Listig

Ich habe alle meine Krankheiten in meinem Kalender genau eingetragen.

Sie blättert darin

Ein einziger Kalender über all die Jahre.

"Es lohnt sich nicht, jedes Jahr einen neuen Kalender zu kaufen. Was für Termine haben denn wir schon?"

Es stimmte natürlich. Wir hatten keine Termine. Aber allein das Gefühl, einen Kalender zu besitzen. Für jedes Jahre einen neuen Kalender. Auch wenn ich ihn nie gebraucht hätte, irgendwie wäre ich mir damit wichtiger vorgekommen. Mit dem Kalender die Sicherheit haben, nichts zu versäumen oder vergessen zu können. Der Kalender als Verbindung nach draußen.

Sie lacht leise

Einen Kalender für keine Termine. Aber einen Kalender haben! Vierzig Jahre lang eine Seite für einen Tag.

18.März.1958: "Ich bin mir jetzt sicher, er hat mich angesehen.

Pause

Das war beim Fleischhauer. Ich weiß es noch genau. Jeden Dienstag gibt es die frische selbstgemachte Wurst, die die hast Du so gerne gegessen. Und an diesem Dienstag fiel mir auf, daß er mich ansah.

Pause

Nach drei Dienstagen hatte ich ihn aus den Augen verloren. Seit diesem Tag habe ich ihn nie wiedergesehen. Er sah anders aus als Rudolf. Nicht so dick und größer. Es war der 10.April 1958. Er war nicht da. Und dann kam er nie wieder.

15.April: "Habe umsonst auf ihn gewartet."

Dir war natürlich eine Veränderung an mir aufgefallen.

"Sticht Dich vielleicht der Hafer?", hast Du gefragt und laut gelacht.

"Sieh Dich im Spiegel an, Du wirst doch wohl nicht ernsthaft glauben, daß Du jemals noch eine Partie machen kannst."

Pause

So gerne hätte ich mich schön gemacht für ihn. "Zum Fleischer in diesem Kleid", hast Du mich verspottet, als ich mich am zweiten Dienstag besonders schön für ihn anziehen wollte. Vom Schminken ganz zu schweigen.

Nachdenklich

Schminken! Dreimal im Jahr war unser Schminktag. Jawohl, dreimal im Jahr mußte ich Dich schminken und ich durfte dann auch geschminkt sein.

Sie lacht

Zu Weihnachten und an unseren Geburtstagen.

"Morgen ist Schminktag", befahlst Du.

Nicht: "Morgen ist Weihnachten oder morgen ist Dein Geburtstag."

Nein:"Schminktag".

"Wenn wir uns schminken, so schminken wir uns besonders, nicht wie all die anderen."

Ich mußte uns dicken, weißen Puder auftragen und die Lippen mit einem grellen Rot anstreichen. Wie leblose Puppen saßen wir uns gegenüber. Versteinerte Gesichter mit grellen roten Lippen und weißem Puder.

Immer dasselbe: Wortlos saßen wir uns fast eine Stunde lang gegenüber.

"Zur Besinnung", sagtest Du zu Weihnachten immer.

Und dann aus dem Schweigen heraus plötzlich:

"Spiel!"

Ich mußte mich ans Klavier setzen und "Stille Nacht, heilige Nacht" spielen. Du hast dazu gesungen. Aber das war mehr ein Krächzen.

Ahmt sie nach

"Stille Nacht, heilige Nacht.." So ähnlich, wenn nicht ärger.

Du Totenvogel! Vierzig Weihnachten griffst Du danach unter Deine Wolldecke:

"Da, gesegnete Weihnachten", und zogst das Kuvert hervor. Sofort fuhrst Du in Dein Zimmer. Alle Jahre wieder war Geld im Kuvert.

Um mich meine finanzielle Abhängigkeit erst recht fühlen zu lassen. Für meine Geschenke hast Du Dich nie bedankt. Du hast sie einfach beiseite gelegt. Wo sie Wochen und Monate liegen blieben. An den Geburtstagen hieß es:

"Denke über Dein Leben nach und sei über jeden Tag glücklich, der Dir geschenkt wird."

Dabei hast Du Deine Hand mit dem Kuvert ausgestreckt, als wenn Du mich segnen wolltest. Und dann wieder Dein Satz:

"Du wirst schon sehen, wie sehr Du mich gebraucht hast, wenn ich erst einmal unter der Erde bin."

Über mein Leben nachdenken? Über welches Leben. Ein ungelebtes Leben.

"Sei dankbar, daß Du heil und gesund bist!"

Warum sollte ich dafür dankbar sein? Was konnte ich damit schon anfangen? Du mußtest doch dankbar sein, daß ich heil und gesund war.

Pause

Ein einziges Mal, ein meinem Fünfzigsten, da hast Du mir statt Geldes ein altes, großes Fotoalbum geschenkt.

"Du weißt gar nicht, was es für mich bedeutet, es Dir zu schenken. Halte es in Ehren, auch wenn ich einmal nicht mehr sein werde."

Und dann hast Du geweint. Ich bin neben Dir gesessen mit dem alten, wertvollen, leeren Fotoalbum, das immer leer bleiben sollte. Welche Fotos hätte ich denn einkleben sollen? Ich hatte ja keine. Kein Foto von Rudolf, keine Hochzeitfotos, keine Kinder und Enkelkinder. Keine Ferien. Nichts. Mein Leben, ein leeres Fotoalbum.

Sie lacht auf

Ich sollte Dein altes Fotoalbum in Ehren halten. Ja, ich werde es in Ehren halten! Ein einziges Foto kommt hinein. Dein Rollstuhl. Dein alter Rollstuhl. Ein Foto von unserem Rollstuhl. Dieser Rollstuhl, der mir mehr ans Herz gewachsen ist als Du. Ein Foto von ihm in Deinem Album und keine einziges von Dir. Alljährlich an Deinem Geburtstag werde ich ein Foto von Deinem Rollstuhl machen, in das Album kleben, und das Jahr dazu schreiben.

Wie ein Kalender.

Pause

Über vierzig Jahre an einen Rollstuhl gefesselt sein. Wie Du Deine linke Hand an die Lehne gepreßt hast. Das Leder ist ganz abgegriffen und rauh davon. Ich brauche einen neuen Rollstuhl.

Pause

Vierzig Jahre mußte ich neben Dir sitzen und Dein linke Hand halten. Stundenlang. Abends, wenn wie uns eine Opernübertragung anhörten. Ich war dann wie gelähmt, daß ich kaum aufstehen konnte.

Zuerst war ich darüber erschrocken. Ich konnte meine Hände nicht mehr bewegen. sie waren ganz taub und ohne Gefühl. Ich sehe mich wie Dich in diesem Rollstuhl sitzen.

Pause

So oft wollte ich Dich verlassen und mich nach einer Pflege für Dich umsehen, um von Dir loszukommen. Aber ich bin zu schwach dazu. Wir hatten uns aneinander gewöhnt. An unsere Fehler, an unsere Eigenarten. Gesprochen habe ich nur selten darüber mit Dir. Den Gedanken, von Dir wegzugehen, trug ich still mit mir herum. Mit Dir über mich zu sprechen, war absolut unmöglich. Entweder hast Du Dich über mich lustig gemacht oder auf Deine Leiden hingewiesen, um mir zu zeigen, wie gut es mir eigentlich ging. Dabei hatte ich den sehnlichsten Wunsch, die Rollen zu tauschen und statt Dir im Rollstuhl zu sitzen. Ich malte mir aus, wie ich Dich anschreien, Dich wegschicken und wieder zurückrufen könnte.

Wie mir nichts, aber schon gar nichts recht sein würde. Das sind Augenblicke, die mir weiter helfen, in denen ich frei bin.

Pause

Manchmal mußte ich mit Dir tanzen. Mit Dir und Deinem Rollstuhl. Du summtest im Takt mit. Einmal drehten wir uns immer schneller und schneller, bis der Rollstuhl um die eigene Achse wirbelte.

"Aufhören, hör sofort auf damit", hast Du geschrien.

"Du wolltest doch tanzen, so tanze."

Dann hörte ich ganz plötzlich damit auf.

"Hast Du genug getanzt?", habe ich Dich gefragt. "Wollen wir nicht ein Tänzchen wagen...?"

Du bist dagesessen. Hast mich mit leeren, großen Augen angestarrt. "Sag etwas."

Du reagiertest nicht. Als ich auf Dich zugehen wollte, hast Du plötzlich Deinen Kopf bewegt, den Mund geöffnet und unverständliche Laute ausgestoßen:

"Bläh...bläh...bläh..."

"Wie ein kleines Kind benimmst Du Dich, noch ärger als ein kleines Kind."

"Bin ich denn nicht Dein Kind, bin ich nicht Dein kleines Kind?"

Pause

Wir hatten verschiedene Spiele zur Auswahl. Am besten gefiel Dir aber "Kennenlernen": Du hast Dich in die Mitte des Zimmers gesetzt und ich mußte neben Dich einen Sessel stellen, aus Deinem Zimmer kommen und zwei- oder dreimal um Dich herumgehen und Dich mustern, während Du mich aus Deinen Augenwinkeln verfolgt hast. Dann mußte ich vor Dir stehen bleiben, Dich ansehen und fragen:

"Gestatten Sie, ist hier noch frei?"

Wenn Du mit einer verkrümmten Handbewegung angedeutet hattest, daß noch Platz ist, mußte ich zögernd ein Gespräch beginnen:

"Schönes Wetter heute..."

"So richtig zum Im-Park-Sitzen..."

"Ich sehe, Sie waren einkaufen.."

Du hast nur genickt.

"So viel Päckchen.."

"Wahrscheinlich der erste Frühjahrseinkauf..."

"Ich warte hier auf meinen Chauffeur", hast Du geantwortet.

"Sind Sie schon lange auf Kur...?"

"Wie gut tut Ihnen der Aufenthalt..."

Und so weiter, und so weiter. Du hast mich hernach immer zu einem Kaffee in Deine Villa eingeladen und zu einer Partie Bridge mit Freundinnen.

Pause

Ja, das war unsere Abwechslung. Wir malten uns ein anderes Leben aus. Eine andere Umgebung. So kamen wir außer Haus. Rudolf... Dänemark... Diabelli... Daß wir wirklich außer Haus kamen, geschah sehr selten. In den ersten Jahren häufiger. In den letzten nie mehr. Ich konnte Dich nicht allein die Stiegen hinunterbringen. Am Anfang konnten wir uns noch jemand leisten, der einmal die Woche kam und Dich hinuntertrug. Es tat Dir wohl, wenn er Dich anfaßte und Dich in seine Arme nahm. Am Tag zuvor warst Du schon ganz aufgeregt:

"Und er hat sicher nicht abgesagt?" hast du mich dauernd gefragt.

"Du wirst schon sehn..."

Er hieß Gustav. Wenn er Dich die Stiegen hinuntertrug, hast Du Dich fest an ihn gepreßt und Deine Arme um seinen Hals geschlungen. Gustav war nach dem Unfall das einzige Abenteuer für Dich. Dein erotisches Abenteuer. In die Arme genommen werden, um über die Stiegen zu kommen.

Pause

Wenn ich darüber nachdenke, hast Du mir immer leid getan. Mich selbst habe ich dabei ganz vergessen. Hin und wieder fuhr Dich Gustav durch den Park, dann durfte ich einmal allein sein. Was ich mir dann immer nur vorgenommen habe: "Heute werde ich den kennenlernen, der mich befreit aus all dem ganzen."

Mit solchen Wünschen ging ich durch den Park. Aber er kam nie. Gustav brachte Dich wieder hinauf in die Wohnung, und alles war beim alten. Mit allen erdenklichen Mitteln versuchtest Du, ihn so lange wie nur möglich zurückzuhalten. Meist machte ich ihm Kaffee, um mich danach mit irgendeiner Ausrede zurückzuziehen, um Dich allein zu lassen mit ihm. Wenigstens für einige Augenblicke. Sprechen hörte ich euch nie. Du bist viel zu befangen. Gustav trank seinen Kaffee und aß Kuchen. Wenn ich in das Zimmer zurückkam, bist Du wie in Gedanken versunken aufgefahren. Und dann, wenn er weggangen war, hast Du mich angefahren:

"Warum hast Du uns gestört? Er hätte beinahe gesprochen mit mir."

Was hättet ihr beide euch schon zu sagen gehabt? Das war nicht dasselbe wie zwischen Rudolf und mir. Liebe. Wem hatte ich es zu verdanken, daß ich Rudolf nie mehr in meinem Leben sehen sollte? Du und ich, wir haben uns gegenseitig nichts vorzuwerfen. Wir konnten ohne unseren gegenseitigen Haß nicht mehr existieren. Dich zu demütigen und Dir zu zeigen, wie angewiesen Du auf mich bist, das gehörte mit zu meinem Vergnügen. Manchmal, wenn ich Dich wieder einmal verletzt hatte, erkannte ich, wie schlecht ich war und wie böse. Vielleicht ist Rudolf deswegen nie wieder zu mir zurückgekommen, weil ich ein schlechter Mensch bin.

Zum Glück war es nicht immer so. Wir hatten auch schöne Zeiten miteinander, besonders wenn Du mich gebeten hattest, Dir vorzulesen. Märchen. Orientalische Märchen. wir versetzten uns in diese Zeit zurück. Wir machten die Märchenhelden zu unseren Geliebten.

Manchmal stritten wir sogar um den einen oder anderen. Aber das war kein bösartiger Streit, denn Helden aus den Märchen hatten wir genug. So lebten wir mit Fürsten, Prinzen, Hirten und schönen tapferen Jünglingen. Einmal hatten wir sogar einen Maharadscha zu Gast.

Ein Leben mit orientalischen Helden. Neben Prinzen und Königen, Du und mein Rollstuhl.

Pause

Was nicht alles haben wir uns vorgemacht. Jahrelang habe ich auf Rudolf gewartet, obwohl ich wissen mußte, daß ich ihn nie wieder zu Gesicht bekommen würde. Jahr für Jahr hast Du mich gebeten, weiterhin bei Dir zu bleiben. Bitte geh erst weg, wenn wir für mich jemand netten gefunden haben. Ich habe es versprochen. Und aus diesem Jahr wurde ein weiteres. Und wieder ein weiteres... Und wieder ...

Ich tue mir weh damit und ich tue mir leid. Ich füge mir Leid zu, um Dir Leid zuzufügen. Ich ruiniere mich und mein Leben. Ich hasse mich, um Dich zu hassen. Ich habe mich nicht mehr in der Hand. Ich weiß nicht mehr, was ich tue. Es ist Deine Schuld,d aß ich so bös wurde. Sogar an Mord habe ich gedacht. Warum sonst hätte ich die Pistole gekauft? Hunderte Male habe ich sie in die Hand genommen. Das kühle Metall zwischen meine Schenkel gedrückt. Dich aufschreien, aufbäumen und zusammensacken sehen. Ich sehe Dich. Ich sehe Dich in meinem Rollstuhl sitzen. Sieh mich an, sieh mich ganz fest an. Du hast mir mein Leben genommen, nun werde ich Dir Deins nehmen. Mein Leben liegt offen vor mir. Ich kann gehen, wann und wohin ich will. Wer kann mich zurückhalten? "Du wirst schon sehen, Du wirst schon sehen, wie sehr ich Dir abgehe..." Darauf habe ich jahrelang gewartet. Du bist wirklich tot. Ich bin frei von Dir

Pause

Verzeih, verzeih mir. Was habe ich getan? Ich wollte Dir nicht weh tun. Es ist doch alles gut. Alles in Ordnung. Ich schreibe an Rudolf, daß ich noch nicht kommen kann. Du brauchst mich mehr als Rudolf. Du wirst schon sehen, ich werde ihm schreiben:

"Geliebter Rudolf,

verzeih, ich weiß, daß es nicht leicht sein wird für Dich, aber ich kann Dir leider noch immer nicht folgen, da ich für meine Schwester sorgen muß. Du weißt, wie sehr sie mich braucht und gerade jetzt kann ich sie nicht verlassen. Hab bitte Verständnis. Behüte unsere Liebe, ewig die Deine."


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