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LANDSAT - EIN GEDICHTZYKLUS

Lisa Fritsch, © by Deuticke Verlag

mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Deuticke Verlages.
Das entsprechende Buch erscheint im Februar 1995.


Es werden Fluegeln kommen.
Leonardo da Vinci

Vorliegende Arbeit muß aus der Blickrichtung eines kreisenden Satelliten verstanden werden. Es ergibt sich ein Text aus fliessendem Material, eine Bewegung, die in ihrem Ablauf immer neu beginnt. Die Erde ist von oben, von einer ueber- geordneten Perspektive zu sehen, das heisst offen.

SATELLITENBILD

Aus den Daten
die Summe

Bodenschaetze
für morgen

Grosstaedte
wie nie zuvor

Kontinuitaet
der Fahrbahnen

Bluetenblaetter
aus Zahlen

LANDSAT

Wenn wir trauumen
mit offenen Augen

von einem ewigen Feld in der Sonne

die Bewegung der Welt
angehalten

spektral im Raster
der Himmel linear

LANDSAT
Die Flut nach der Flut
weit unten

eine Beweglichkeit
im Raum

Meerschaum
an den Kuesten

bis zu den anderen Ufern
der Zeit

LANDSAT

Immer
ist Mittag

weit genug
waechst das Korn

Waelder
stehen in Bluete

die hoechsten Baeume
brechen ein

LANDSAT

Orte
kehren zurueck

ueber den Rand
gekruemmt

gleichzeitig
westwaerts

die Entfernung
im Anfang

LANDSAT

Im Schatten der Stroeme
liegt die Daemmerung
ueber den Kuesten
Asiens
und traegt
sibirische Namen

LANDSAT

Der Amazonas
versinkt

in einer blassen
Allegorie

die sich wiederholt
im Regenwald

zwischen Ursprung
und Muendung

LANDSAT

Wo die Fusspuren
Besitz ergreifen

von ihrer weichen
urzeitlichen Erde

und die Wildnis
ueberall
erschlossen ist

im Zwielicht
der Gegenwart
in Afrika

LANDSAT

Ein Fussabdruck
aus Asche

im Innersten
dieser geschwaerzten
Narbe

die menschliche Spur
wie eine Libelle
eingefangen

und freigelegt
das tote Gewicht

LANDSAT

Sahel Nordosten
mit dem Vorwand

dass solch Wissen
von Rohstoff

die Realitaet
verschiebt

angesichts
der Trockenhei
t die dort zurueckbleibt

LANDSAT

Oasen
die wie Tropfen
ans Licht kommen

im Sandmeer
von Al Kufra

beguenstigt
durch die Tiefe

neuer Brunnen

LANDSAT

Keine Quellen
unter den Baeumen

die Erde
ist Wueste

eine gewuerfelte
Flaeche

in den Jahren
des Hungers

LANDSAT

Die Linie
des Nils

unter den Augen
der Sphinx

gedrosseltes
Wasser

in Daemmen
und Kanaelen

LANDSAT

Salzlachen verdampfen

im Trockensee
zwischen Nordrand
und Kernversuch

und jenseits des Grabens
die Naehe von Lou Lan

das unmoegliche
Verebben der Zeit

LANDSAT

Die Salzflut
kehrt ins Delta zurueck
schaeumend
von Kies
und Geroell
und vom Meer her
leuchtet
das Schwemmland

LANDSAT

Geschliffene Tuerme
zum Himmel

sind ein Triumph
der Flucht

gegen den klaffenden
Asphalt

transparent
bis an den Grund

fuer die Geschaefte
der Welt

LANDSAT

Balladen aus Beton
und dieses
eigene Leben

fern oestlich
oder westlich

die Fremdheit
gleicher Staedte

beharrlich
in der Zeit

LANDSAT

Blaugrau
haengen Riesenstaedte
wie Falter uebers Land

Santiago
gleichfalls verstrickt
ins eigene Wachstum
was sich taeglich zeigt

jetzt wo wir den Standort
als Irrtum begreifen

LANDSAT

Staedte
die Mittelpunkt
der Erde waren

gehen der Erinnerung
verloren

im Laerm
der Boulevards

unter zahllosen
Schritten

zwischen Vision
und Ernuechterung

LANDSAT

Land zu nehmen
im gleichen Licht

Europas
hellrote Spiegel

verfaerbt
in den Ebenen

zwischen Wohnsitz
und Sprache

LANDSAT
Vor den Gebirgen
sinken die Haenge

in den Kessel
nach Meran

und jede Bewegung
ist ein Aufbluehen

im Sonntagslicht
auf den Promenaden

frueher
Habsburgerstrasse
jetzt
avanti popolo

LANDSAT

country surrounding Vienna

Beim Ueberqueren
der Huegel

fuegt sich die Stadt
aus Gedaechtnis
aus Farbe

jeden Augenblick
ueberdruessig
der Plaetze
und Strassen

LANDSAT

Hoefe
in Berlin West

sind wie Praegstoecke
die jeden Luftschacht
abgrenzen

>Ich bin ein Berliner<

mit geoeffneten
Fenstern

und der Naehe
eines ungeteilten
Himmels

LANDSAT

Traumwandler
im Schatten
der Hydranten

noch jung
aber schon
die kommende
Luege ahnend

zwischen leeren
Automaten
und abgewandt
von der Strasse

LANDSAT

Auf Bruecken
stroemen die Menschen

dem dritten
Jahrtausend entgegen

schlaefrig
ohne Blick

und ihr Tempo
wird nicht vermindert

LANDSAT
Polyphon
fliessen
Autobahnen
ans Tageslicht

zerfallen
die Doerfer
im offenen Land

reihen sich
Windschutzscheiben

LANDSAT

Delirium der Schrift
ueber den Strassen

den Buchstaben
folgend

der Reichweite
der Versprechungen

dem Handelswert
der Woerter

M-a-r-l-b-o-r-o
fuer den Augenblick

LANDSAT

Bewegung
diese taegliche
Utopie

ins weite Feld
der Schreibmaschine

in die Landschaft
hinein
ausgemalten
Worten

jede Rueckkehr
ein Abweichen
von der Zukunft

LANDSAT

Jeder Punkt der Erde
farbverschoben
flaechenhaft

was zu sehen ist
wird gespeichert

Bild für Bild
ein optischer
Widerstand

ueberflutet
von der Energie
des Raumes

neu zu fassen
die Ausdehnung
meiner Stadt

LANDSAT

Erwachen Sie
zum weiten Traum
auf der Kreuzfahrt
in den Sueden

das Schiff
wirft seinen Schatten
auf ozeanische
Zeit

Entfernung
loest sich auf
in einer blauen
Lagune

LANDSAT

Ueber die ganze
Landschaft

waren wir
gealtert

in neuen
Uebergaengen

Brandung
im August

LANDSAT

In den Sommer
gesprochen

ueber Fluegel
und Antennen

ruecklaeufig
ins Gehoer gebracht

der Wahrheit
naehergekommen

dem bildlosen Bild
dieser Welt

LANDSAT

Den Schienen entlang
summiert sich die Welt
ueber den leeren
Flaschen
erster Klasse
im Fenster
die Uhren
von Cartier
und die Bahnzeit
der Stationen

LANDSAT

Berge von Buechern
die uns nicht
weiterhelfen

Fliessbaender
voller Wissen

aufgeschlagen
auf den Tischen
und Pulten
der Lesesaele

LANDSAT

Beim Drehen
eines Films

die Buchstaben

von Turm zu Turm
ueber den Glashaeusern

und zwischen
den bewohnten Staedten

in den Gaerten
die Laenge
des Nachmittags

LANDSAT

Sternbilder
aus der Tiefe
der Salons

den ueberhitzten
Warenhaeusern
geschmueckt
mit Jetons

Las Vegas
am Himmel

faellt
auf die Tische
der Spieler

LANDSAT

>Das Land kehrt sich um<

die Bruecke
schwankt im Tragwerk

der Kanal
fliesst nicht mehr ab

das alte Holz
stuerzt auf die Schienen

LANDSAT

Bei steigender Flut
den Westdocks entlang
hart angepackt
die geschaukelte
Ware

die Speicher
vollgestopft
uebers Jahrtausend
hinaus

LANDSAT

Bretterbuden
auf dem Markt
schmutziggruen
verfaerbt

standhaltend

dem Poltern
der Rollaeden
am fruehen Morgen

vor aufgetuermten
Fruechten
in Kisten
und Regalen

LANDSAT

Stadteinfahrt
an Haeusern vorbei
voller Bettzeug
und Moebel

Schlafzimmer
in denen morgens
die Tapeten
leuchten

waehrend
die lokalen Waggons
ueber die Traeger
der Bruecken
rasseln

LANDSAT

Doppelte
Kruemmung

kahl
gepflastert

den Wienfluss
zu betten

bei Stadtluft
und Regen

die Hunde
zu gaengeln

den Gehsteig
entlang

LANDSAT

Das prompte Lachen
fuer eine neues
Produkt
glatt gestrichen
auf der Anschlagsaeule

Sehen sie selbst
die gebuerstete Schrift
verrutscht
vom Ueberkleben
der alten Plakate

LANDSAT

In Besitz
genommene Buecher
beim Umblaettern
im Hausflur
im Lift

den Luxus
der gedruckten
Sprache
in der Hand

und die Seiten
wie Banknoten
abgegriffen

LANDSAT

Die Freiheitsstatue
flankiert
von den Fackeln
der Raffinerien

haelt die Cola-Flasche
hoch
bietet
das glitzernde
Herz der Ware

dem neuen Aroma
am Himmel Manhattans

LANDSAT

Die Ferne
beginnt auch
mit den Lichtquellen
im Schnittpunkt
der Geleise
und den Pfiffen
der Rangierer
vor den wartenden
Zuegen

LANDSAT

Die blaue Kruemmung
der Erde

mit ihren Stroemen
von Licht

folgt uns
wie ein Spiegel

durch Himmel
und Auge

LANDSAT

Aus samtschwarzem
Himmel
sind wir erwacht

mit dem Kopf
nach unten

ueber allen Meeren
und Gebirgen

und den tropischen
Staedten
die uns keine Feste
bereiten

LANDSAT

Eine aufgerollte
Landschaft unten

kein Turm zum Himmel

nur die freigesetzte
Schwerelosigkeit
hier im Gedicht

LANDSAT

Die Drehung
aendert alles

aber die Aenderung
bedeutet nichts

als die Aenderung
durch die Drehung

LANDSAT

Traumlos und kuehl
senkt sich das Meer

das Wasser
spiegelglatt

fliesst uns voraus

mit weissen Spuren
ins schaerfere Licht

LANDSAT

Als lauschten wir
dem Atem
der Wale
die nachts
aus ihrem Schlaf
aufgetaucht waren
jenseits der Bucht

LANDSAT

Die Nike von Samothrake
die Goettin der Siege
von ehemals
habe ich auf dem Bug
eines Schiffes gesehen

>Ich kehre nicht wieder
zurück< hat sie gesagt

als sie mit ausgespannten
Fluegeln
sich langsam
ueber dem Wasser
entfernte

LANDSAT

Das Schiff
hat seinen Nordkurs
unter dem Himmel
im Sturm
wo du stehst
dreht sich
die Windfahne
durchs ziehende Eis
zum offenen Meer

LANDSAT

Waehrend die Sonne
die Boote waermte
warst du gestorben
von dir getrennt
ein Vogelton
in solcher Stille
dass wir glaubten
die Luft zu hoeren
den Wirbelsturm
der gerade ueber dem Meer
entstand

LANDSAT

(1938)
eingestanzt
die Jahreszahl
hier rostet nicht
haelt ohne Sprung
als Ort als Gitter
jedem Hund
scheint so vertraut
wie Luft
aus dem Kanal

LANDSAT

Immer die gleiche
Emotion
beim Anblick
ausgedienter Badewannen
die jetzt schmutzig
in den Wiesen stehen
irrefuehrend
wegen ihrer simplen Art
als Traenke für die Kuehe
an heissen Sommertagen

LANDSAT

Hier ist der Platz
fuer die Leiter
hier in der Mitte
des Hauses
als Achse als Treppe
mit den Stufen zum Dach
>Damit ich die Goetter sehen kann<

LANDSAT

Den Schienen
der Reichsbahn
war dein Vater
wie ein Landstreicher
gefolgt
der Sonne nach
die Schritte zaehlend
mit dem Knoten im Buendel
auf leerer Strecke

LANDSAT

Sagt uns
auf welch andere Art

sichs leben laesst
mit diesem Blick
aufs Ganze

verstaerkt
durch die Folge
kommender Jahre


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