© Helmut Eisendle
Ich versuche etwas zu erzählen, indem ich an jemanden denke. Aber dieses Erzählen, in dem ich an jemanden denke, berichtet nicht von realen Erlebnissen, weil der Mann, an den ich denke, mir noch immer unbekannt ist. Ich weiss also nicht genau, von wem die Rede ist. Ich suche ihn. Ich finde ihn, indem ich ihn erkenne und ich erkenne ihn, indem ich versuche, von ihm zu reden, ebenso wie die Mathematiker von ihren Dingen reden, unablässig an sie denkend, weil ihre Dinge nur denkend wahr-nehmbar werden. Bense
In meinen Träumen, denkt Estes und geht zum Fenster, ist alles
jene eingeschlossen, das ich nicht kenne.
Mit mehr oder weniger allen Sinnen sammle ich Impulse der mich umgebenden Welt. Diese Eindrücke setzt mein Gehirn zu einem Bild der Wirklichkeit zusammen. Dies alles ist mir nicht bewusst, erst im Fluss der Gedanken erscheint mir dieser Vorgang. Bewusst ist nur das fertige Bild. Mein Bewusstsein hat keinen direkten Kontakt zur Umgebung, daher kann eigentlich nur meine Vorstellung von der Umgebung mir bewusst sein. Das Erwachen aus meinen Träumen ist wie ein Vorgebirge. Hinter oder vor ihm liegen die Tatsachen, und auch der Wunsch meinem Glück entgegenzusegeln.
Das eiserne Tor der Wirklichkeit.
Ich habe keine Kraft, es zu öffnen und keinen Halt, mich gegen es zu stemmen, wenn es aufgeht.
Meine Reserven sind mehr oder weniger erschöpft. Alles entgleitet mir und ich verschwinde oder flüchte immer wieder ins Dunkle.
Er blickt aus dem Fenster in die Nacht. In der Ferne sieht er einige beleuchtete Fenster, über den Häusern das schummrige Licht der Stadt.
Bin ich ein Gefangener meiner Träume? Oder ein Gefangener meiner Wirklichkeit? Hause ich nicht in einem Kerker?
Nur ab und zu sehe ich ein Licht.
So seltsam schlägt das Schicksal zu und äußssert sich als tatsächliche Notwendigkeit.
Und doch ruft jede Wirkung nach dem Zwang seiner Logik und der Erklärung seiner Ursache.
Estes blickt auf die Strasse, eine Allee aus Robinien.
Manchmal sind es zehn Meter oder mehr, manchmal bin ich weit über ihnen, manchmal lehne ich an einem Stamm, denkt er.
Wenn etwas geschehen ist, ist es nicht nur mir geschehen. Ich bin ein Zeuge davon. Doch aber durchschneidet eine Kälte mein Leben und nimmt mir etwas; meine Gleichgültigkeit, meine Eigenheiten, mein Wohlbefinden.
Es ist Nacht, denkt er. Und sie wird es bleiben.
Die Wohnung befindet sich in einem Haus aus der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert. Fin de siècle. Es steht in einer Allee mit breiten Gehsteigen aus Kopfsteinpflaster. Spaziergänger gibt es nicht, so dass die Kopfsteine noch ewig zu halten scheinen. Alle zwanzig Meter ein Baum, so alt wie die Strasse und das Haus. Die Welt der Dinge und die Welt der Menschen. Es gibt beides. Immer schon. Es gibt eine Art Balance zwischen den Dingen und mir. Und es ist belanglos zu bestimmen, ob die Dinge der Welt bedeutend sind oder ich. Heute weiss ich, dass die Dinge, die sich als Tatsachen herausgestellt haben, viel bedeutender sind als ich.
Wenn ich auch oft den Eindruck habe, durch viele Vorhänge von der Tatsächlichkeit meines Lebens getrennt zu sein, so kann ich mein Bild davon nur durch die Art meines Denkens entdecken, auch wenn es mir nie vergönnt sein wird, irgend etwas zu beweisen oder die Wahrheit zu finden.
Wenn aber der Lauf des Lebens so beschaffen ist, so ist mein Bewusstsein noch nicht in ihm aufgetreten; das, was auch mit mir stets geschieht, gilt in meinem Leben auf der einen Seite als Fügung, auf der andern Seite als ein dunkler Schatten. Es ist etwas geschehen, eine Tat begangen worden. Nicht von mir. Diese Tatsache aber ist das wirkliche Selbst. Sie stört die ruhige Organisation und Bewegung meiner Welt. Was in ihr, der Welt als Ordnung erscheint, wird durch das Geschehene zu etwas, worin ich mich als Nichtigkeit meiner selbst und der andern fühle. Das Geschehene wird zu einer negativen Bewegung oder dem Zwang eines Schicksals, das mich und mein Denken im Abgrund seiner Einfachheit verschlingt.
Die Zeit besteht aus Zukunft und Vergangenheit: sie gleicht einem Kreis, der sich dreht ohne Ende, wobei stets die eine Hälfte steigt, während die andre fällt: Die Gegenwart ist dabei das Stück Wirklichkeit, das weder den Kreis berührt und nicht zu ihm gehört, noch sich mit ihm bewegt. Es gleicht einem Felsen an dem sich das Wasser bricht, ihn aber nicht mit fortreißsst. Denn die Zeit ist eine Erscheinung, die Gegenwart gehört ihr nicht an, sondern ist nur ein Berührungspunkt.
Daher gibt es keine Zukunft nach dem Tod, wie auch keine Vergangenheit vor dem Leben. Aber die Gegenwart gibt es doch, in welcher das Leben erscheint und dem ich nicht entrinne, so fern und so lange ich gegenwärtig bin oder willens bin zu leben. Es ist der Wille, der immer als Gegenwart erscheint. Und jeder Tag durchschneidet die unendliche Zeit. Sie ist unverrückbar wie ein ewiger Mittag ohne Abend, gleich der Sonne, die eigentlich ohne Unterlass scheint, während sie nur scheinbar in die Nacht oder hinter den Wolken versinkt. Schubert hat sich von all dem erlöst. Vor vielen Jahren. Und doch der Selbstmord befreit nicht. Nur der Wille lebt und erlöst, auch vom Leben. Selbstmord ist doch nur eine vergebliche, eitle, dumme Handlung, für die es keine Rechtfertigung gibt. Ein Sprung in die Vergangenheit.
Wie ich in meiner Phantasie das Oben und Unten der Erde an die Stelle füge, die ich einnehme, so knüpfe ich die Gegenwart an meine Individualität und glaube vor und nach derselben gäbe es lauter Vergangenheit und Zukunft ohne Gegenwart: wie es aber auf der Erde überall ein Da und ein Dort gibt, und ein Wann und ein Dann, so ist auch die Form allen Lebens nur Gegenwart; und den Tod fürchten, weil ich durch ihn um die Gegenwart komme, ist eben so dumm als ich fürchten könnte von der runden Erdkugel auf der ich glücklicherweise oben stehe, herunterzufallen. Oder sich in die Vergangenheit verabschieden wie Schubert.
Wer auf dieser Erde lebt, weiss, was ein Sieger ist. Wer zu sterben gewillt war, hat sogar vergessen, was es heisst, ein Verlierer zu sein.
Estes streift den Mantel über und verlässt die Wohnung.
Ich isoliere mich von den übrigen. Ich kann nicht mehr unbeschwert in der Welt weiter existieren. Ich schliesse mich ab gegen das natürliche Tagesgeschehen, gegen den Alltag, gegen das Treiben. Schon deshalb haben die von den Anderen geteilten Illusionen keine Wirklichkeit für mich. Im Gegenteil, ich kann keine Illusion mehr schaffen. Das Leben kommt als Karikatur wieder zum Vorschein. Der Mensch – auch ich - muss sich immer eine zweite Wirklichkeit oder eine funktionierende, bessere Welt als die in die er hineingeworfen ist, vorstellen. Und dran glauben. Und doch ist gerade meine Stimmung ein Versuch der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Oder sie hinters Licht zu führen? Der Traum von der Lüge der eigenen Unverwundbarkeit. Hinter die Wahrheit kommen?
Es wird behauptet, dass die Ewigkeit der Stillstand der Gegenwart sei, sozusagen die immer-bleibende, sich ständig ändernde Zeit? Und in ihr hat jeder Tod Platz. Und jedes Leben. Auch meines.
Estes ist ein alter Mann. Seine grauen Haare, der kurz geschnittene Bart, die Falten um die Augen, die aber meist etwas von Freundlichkeit und Neugierde vermitteln, seine Erscheinung hat etwas Angenehmes. Solchen Menschen schüttet man gerne sein Herz aus. Er hört zu.
Vielleicht ist das das Einzige, was ihn wirklich von anderen Männern in seinem Alter unterscheidet. Er leiht einem sein Ohr.
Er geht durchs Stiegenhaus und tritt ins Freie.
Die Häuser aus der Jahrhundertwende, der kopfsteingepflasterte Gehsteig sind nicht in bestem Zustand. Man kommt leicht ins Stolpern, wenn ein Kopfstein sich aus dem Boden gelöst hat. Jedes Mal denkt er, wenn er strauchelt, was man in seiner Jugend gesagt hat: Hier liegt ein Musiker in seinem Grab.
Von den Häusern bröckelt an manchen Stellen der Putz, zwischen den Kopfsteinen wachsen kleine Grasbüschel. Auf der anderen Seite der Strasse, am Ende gibt es eine Plakatwand, die schon lange nicht bearbeitet worden ist. Eine nicht mehr im Handel erhältliche Zigarettensorte offeriert sich in verwaschenen Farben und erinnert an etwas, was es nicht gibt, die Vergangenheit.
In der Strasse gibt es keine Geschäfte, keine Auslagen, keine Lokale, in die er einkehren könnte. Zwischen den Bäumen, es ist eine Allee aus alten Robinien, parken die Autos mit dem Rücken zur Strasse und der Schnauze zum Gehsteig hin.
Estes beachtet nichts von alldem. Langsam geht er den Gehsteig entlang. Plötzlich bleibt er stehen.
Vielleicht fließsst die Zeit von der Zukunft in die Vergangenheit? Und der Moment, in dem die Zukunft die Vergangenheit trifft, ist die Gegenwart, denkt er.
Die allgemeine Meinung ist doch, dass die Zeit immer vorwärts fließsst? Sie ist ein Fluss, der seit dem Beginn, den keiner kennt und den keiner sich vorstellen kann, weil keiner von ihm weißss, ja, seit dem unvorstellbaren Anfang an fließsst sie und erreicht uns, mich. Und der Augenblick, indem die Vergangenheit die Zukunft erreicht, ist die Gegenwart. Oder ist es doch umgekehrt? Ist die Gegenwart die Trennlinie zur Vergangenheit?
Der Augenblick, in dem die Zukunft die Vergangenheit trifft, ist das Jetzt? Warum auch nicht? Es gäbe einem doch mehr Hoffnung, liefe alles zurück.
Er denkt an Schubert.
Er hatte ihn als Stammgast eines Kaffeehauses, in dem er selbst häufig verkehrt war, kennengelernt. Über das gewohnte Sehen und Begegnen hinaus war er mit ihm eines Tages ins Gespräch gekommen. Damals hatten sie einander in unregelmässigen Abständen getroffen, um über das Verschiedenste zu reden. Meistens war es nach Mitternacht. Besuchte Estes schon um zehn oder elf Uhr das Café, etwas, das selten vorkam, spielte Schubert Tarock oder Billard, beides Beschäftigungen, die er, Estes nicht besonders beherrschte.
Schubert kam gewöhnlich an seinen Tisch, nachdem sich die Spielrunde aufgelöst hatte, setzt sich, trank mehrere Weinbrände, während er, Estes eine Tasse Kaffee oder ein Mischung aus herben Weißsswein und Mineralwasser zu sich nahm.
Von Anfang an hatte zwischen ihnen Sympathie bestanden, etwas, das nicht auf der Gleichheit von Meinungen und Interessen beruhte, sondern möglicherweise in der Bereitschaft beider, einander zuzuhören, zu sehen war.
Er, Estes, hatte Schubert, im Unterschied zu den anderen Stammgästen des Kaffeehauses, niemals als Spieler und Trinker gesehen. Solche Bezeichnungen oder Etiketten hat er immer kritisiert, da sie seiner Meinung nach ein falsches Bild geben oder Vorstellungen im Denken und Verhalten erzeugen, die sich auf die Unzulänglichkeit vorschneller Urteile zu verlassen suchen.
Vor mehr als dreißssig Jahren hatten sie zusammen in Spanien ein paar Tage verbracht.
Im Winter, ohne Touristen, alleine mit den Einheimischen.
Und hatten geredet, geredet, geredet. Und getrunken.
Eine besondere Vorliebe Schuberts galt der Musik.
Er, Schubert, sei durch einen Zufall unter merkwürdigen Umständen auf die dritte Symphonie von Sergei Vassilievich Rachmaninoff gestoßssen. Diese dritte Symphonie sei nicht zuletzt wegen ihrer Länge und Weitschweifigkeit so schwierig. Das sei aber damals Schuberts Stimmung sehr entgegen gekommen. Er sei in einer eigenartigen Situation und Stimmungslage gewesen. Eine Frau vielleicht. Aus Interesse habe er sich dann alle verfügbaren Schallplatten gekauft. Die vier Klavierkonzerte, die Paganinirhapsodie, die drei Symphonien und unzähligen Präludes, eine Sonate und andere Klavierstücke, Etüden und so weiter. Und er habe gehört, gehört, gehört. Immer wieder. Rachmanninoff.
Ein König unter den Klaviervirtuosen, ein begnadeter Komponist, ein Weltenbummler und eine großsse tragische Gestalt - das alles war Sergej Rachmaninoff. Zum König gemacht hat ihn sein berühmtestes Werk, das Cis-Mmoll-Prälude für Klavier. Es hat ihm neben unsterblichem Ruhm auch tödliche Depressionen beschert, denn seine übrigen Werke wurden vom Publikum daneben kaum mehr zur Kenntnis genommen. Zu Unrecht: Seine symphonischen Dichtungen sind mindestens ebenso bedeutend wie seine Klavierwerke, von einer Virtuosität und einem ausgefeilten Wohlklang, der für den großssen Spätromantiker typisch ist. Ein Stimmungswandel vom düster geheimnisvollen Karfreitag in die ungebändigte heidnisch-religiöse Fröhlichkeit des Ostermorgens. Zum Beispiel.
Quelle raison, hatte Schubert ausgerufen.
Ja, die Musik und der Alkohol waren Schuberts Pole. Pole ist ein zu harter Ausdruck, Momente ist besser, Momente, in denen er glaubte, etwas zu wissen, etwas zu verstehen, irgend etwas von der Welt, in die er hineingeworfen war, Momente, in denen er sich wohl fühlte, denkt Estes.
Ja, verheiratet war Schubert auch. Keine Kinder. Eine kurze Ehe, bis es eben geschehen war.
Er, Schubert, hat immer wieder vom Mythos von Sisyphos gesprochen.
Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen, hatte Albert Camus gesagt, meine Schubert öfter.
Was war das Glück? Schubert wusste was Glück ist, wenn er träumte. Jeder Träumer weißss vom Glück.
Der Wunsch ist der Vater aller Träume. Ich borge mir ein Stück Glück aus und füge es in meine Träume ein. Allerdings muss ich das andere Leben verdauen. Ein Löwe besteht aus gefressenen Hammeln und Antilopen. Ich bestehe aus Träumen, hatte Schubert manchmal gesagt.
Mein Leben, denkt Estes, besteht aus dem, was ich finde, verdaue und als Besitz behaupte. Erinnerungen. Ich habe immer schon von Erfindungen, von Wünschen und mehr von Reaktionen als Aktionen gelebt. Die anderen gehen auf die Strasse und schwingen die Fahnen. Oder sterben, unbemerkt oder bemerkt. Mit Absicht oder ohne. Irgendwann. Ohne die Erfüllung irgendwelcher Wünsche. Wunschlos.
Estes erinnert sich.
Der Ordnung eines ungeschriebenen Gesetzes folgend – jenseits aller Menschlichkeit – nahmen die Konsequenzen ihren Lauf. Schuberts Versuch, sich das Leben zu nehmen, scheiterte, und löste über Polizei und Rettung seine Einweisung in der psychiatrischen Anstalt aus. Zur Beobachtung. Aus Gründen der Selbstgefährdung. Er verlor seine Anstellung als Lehrer, seine Frau liess sich von ihm scheiden und er stürzte in einen Abgrund, in dem nur der Alkohol, die Betäubung, der Wahn, in einer Traumwelt kreuz und quer zu torkeln, Platz hatte. Sergej Rachmaninoff war sein Gemütsgeselle. Tröstend vor einer oder der nächsten oder übernächsten und noch immer nicht der letzten Flasche Kognak, Weinbrand oder Slivovitz oder Fusel. Und immer Musik.
Und dann der Tod seiner Mutter.
Einmal habe ich ihn gefragt, damals in Spanien, denkt Estes.
Schubert, warst Du schon einmal im Leben in Todesgefahr?
In Todesgefahr, hat er zurück gefragt.
Ja, in Todesgefahr, habe ich gesagt.
Ich glaube nicht. Aber wie ich es so sehe, befinde ich mich seit meiner Geburt in Lebensgefahr.
Ich habe gelacht.
Die Gefahr teile ich mit Dir, habe ich geantwortet.
Dann teilst Du auch den Tod mit mir, hat er gesagt.
Tue ich das, frage ich mich heute, dreißssig Jahre danach? Teile ich den Tod mit ihm?
Der Tod macht die Menschen kostbar und pathetisch. Auch seiner. Jeder Tag, den man lebt, könnte der letzte sein. Es gibt nichts, was verschwinden wird. Vielleicht bleibt einiges nur in den Träumen erhalten. Alles hat durch die Sterblichkeit das Verletzliche, das Unwiederbringliche, die Gefahr. Solange man lebt. Beim Toten ist ein Echo da, das von seiner Vergangenheit herüberschallt.
Und wenn das Ende da ist, bleiben vom Erinnern keine Bilder mehr über. Es bleiben nur mehr Worte, Sätze, ein paar Gedanken, entstellte, verstümmelte Worte, Worte anderer Menschen. Kümmerliche Überreste in den Köpfen.
Schubert hat öfter als einmal versucht zu sterben, denkt Estes.
Dass es gerade Sophie, meine Frau gewesen war, die ihm nach seinem Anruf das Leben gerettet hatte, ist eine jener Fügungen, die dem Ganzen einen eigenartigen, seltsamen Lauf gegeben hat. Ja, sie hat ihm das Leben gerettet. Es mag wohl auch der Grund gewesen sein, dass Schubert nach dem Tod seiner Mutter sie eingeladen hatte nach Venedig zu fahren. Und sie fuhren auch. Zwei Menschen, die sich gegenseitig das Duwort verbeten hatten. Ich hatte es ihnen bei einer Gelegenheit vorgeschlagen. Wenn ich mich richtig erinnere, war es Sophie, die es sich noch überlegen wollte. Und das ein Leben lang. Dann war unsere Ehe zerbrochen.
Wegen einer jungen Frau.
Anna. Irgendwo. Bei einer Gelegenheit. In einem Dorf. Es war Sophies Geburtstag. Ich schickte meiner Frau ein Glückwunschtelegramm. Die junge Frau war hinter mir gestanden.
Ich habe heute Geburtstag, hat sie gesagt.
Dann ist es geschehen. Wir haben gefeiert. Ihren und Sophies Geburtstag. Und es ist immer mehr geworden. Sie hat Anna geheissen. Ich bin bei ihr geblieben. Aus einer Verrücktheit. Mehr oder weniger musste ich wohl. Nein, Drama war es keines. Es hat sich etwas Gewohntes aufgeklärt. Eine Ehe. Und mir oder auch Sophie so etwas wie Freiheit gegeben. Zurück gegeben. Beiden. Sophie und mir.
Sophie und ich hatten nach der gewalttätigen Trennung zumindest vereinbart, uns irgendwo am Hochzeitstag zu treffen. Aus Erinnerung. Oder, weil wir doch fast zwanzig Jahre miteinander verbracht hatten.
Auch wegen seiner militaristischen Allüren hatte Sophie ihn als Oberst angeredet. Und sie war wohl Frau Sophie. Frau Sophie.
Und dann, Monate danach. Eines Tages steht er auf, duscht und rasiert, frisiert sich, zieht seinen schwarzen Anzug an, nimmt seine Winchester – American Boald Eagle Silver, ladet sie durch, geht zum Plattenspieler - Sergej Rachmaninoff 3. Symphonie – schüttet sich einen dreifachen Kognak ins Glas, trinkt es in einem Zug, legt sich, das Gewehr neben sich, auf das Bett, nimmt eine Überdosis Veronal und erstickt an Schluckkrämpfen. Sein Leben war zu Ende. Er hat es zu Ende gebracht.
Estes ist am Ende der Strasse angelangt und wendet sich Richtung Stadt.
Für einen wie mich, der in seinen Gedanken beständig Ordnung schaffen will, gibt es keine Lösung, wenn er mit Problemen konfrontiert ist. Jede Lösung ist ein Chamäleon. Ich vermute damit, dass bei meinen Lösungen mittelmäßssige oder unechte Gedanken überwiegen, die das Erfahrene einbeziehen, selten aber das, um was es eben geht. Es sind Entschuldigungen, Ausreden, die überwiegen.
Nicht nur erweist sich jedes Korsett alltäglichen Verhaltens in der Definition von Lösungen als problematisch, sondern die Beiläufigkeit des Reagierens scheint das Problem auch noch zu verschärfen.
Die Lösung eines Problems will an sich nichts Neues bringen, will aber etwas schon Bekanntes neu sehen. Was wird hier von mir versucht? Gedanken über etwas in eine andere Form zu bringen? Für meine Person behaupte ich, dass alle Lösungen nichts anderes sind als Reaktionen, die mich anders darstellen als es war. Self fullfilling prophecy ist dabei meine Spielfunktion. Sie geht im Spielraum meines Geistes vor sich, in einer eigenen Welt, die ich mir schaffe. Dort haben die Dinge ein anderes Gesicht als im gewöhnlichen Leben und sind durch andere Bedingungen aneinander gebunden.
Meine Lösungen haben mit einem Monolog zu tun, der bewusst seinen Dialogstatus verbirgt und zugleich fordert, da er die Rolle der Geschichte in der Zukunft behauptet.
Das Spiel der Gedanken bei Lösungen ist auch das Gegeneinanderausspielen von Tatsachen. Welche Tatsachen? Die Tatsache eines Todes. Schuberts Tod.
Mein Gedankenfluss besteht aus Vermutungen, die von den Einfällen des Augenblickes zu leben scheinen, andererseits in der Gedankenwelt angesiedelt sind. Einerseits erweist sich jeder meiner Gedanken als ein Spiel mit Ereignissen, andererseits bezeugt es auch und fast nur das Vorhandensein des Ichs, das phantasiert.
Jeder Gedanke, der etwas will, hat seine Tiefe danach, wie tief er in die Sache oder wie tief er ins Ich als solches eindringt.
Wie tief bin ich in den Tod meines Freundes eingedrungen?
Ich spiele Gedanken gegeneinander aus, ohne zu verlieren, denn meine Freiheit in der Bildung von Ausreden bietet mir, wenn nötig immer einen Ausweg. Meine Argumente sind nicht geradlinig, sondern sie lassen sich von der Zufälligkeit der Einfälle ohne Hemmung treiben, um somit sich selbst im Denken sozusagen auf frischer Tat zu ertappen.
Na gut, was habe ich jetzt gesagt? Was denke ich?
Ich will nicht mehr und nicht weniger als hinter die Wahrheit kommen.
Ist aber meine Wahrheit nicht doch die Erfindung eines Lügners?
Die Lösung ist die Form der Gedanken in einem Schwebezustand.
Ich phantasiere in Erinnerungen, lege meine Gedanken in ein nicht passendes Nest, das ich mir willkürlich gewählt habe. Wie der Kuckuck im fremden Nest immer noch Kuckuck bleibt, so überschreite auch ich die Grenzen, indem ich sie nicht anzuerkennen scheine.
Ich werde das Gefühl nicht los, sowohl dieser wie jener zu sein. Es könnte der Fall sein, dass ich dieses Leben durch ein anderes lebe. Ich tue nichts, ich denke nach und ich denke nach, indem ich mich erinnere. Und auch nicht mehr erinnere. In der Isolierung meines Ichs wird alles klarer, aber mein Ich enger.
Langsam geht Estes weiter.
Eine seltsam, traurige Geschichte. Der Tod eines Freundes.