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Immer noch nach Mallarmé?


Notiz eines angeblich schwierigen Dichters.

© Franz Josef Czernin

Das Rad literaturkritischer Begriffe dreht sich weiter und weiter, und die frühere Ehrfurcht vieler Kritiker vor dem Komplexen, die Bewunderung für das Ungewohnte, der Enthusiasmus für das (angeblich) Neue haben sich in den letzten Jahren häufig in Hochmut, Verachtung oder Gleichgültigkeit den Texten gegenüber verwandelt, welchen man diese Eigenschaften zuspricht. Ja, heute nimmt man sich häufig heraus, schwierige Literatur dafür zu tadeln, dass sie schwierig ist, und simple Literatur dafür zu loben, dass sie simpel ist.
Man kann das auch an der Geschichte des Begriffs experimentelle Literatur ablesen. Dieser Begriff, der einst in einem zumeist (wenn auch niemals unbestritten) positiv besetzten Zusammenhang mit den Begriffen modern und avantgardistisch stand und zugleich mit bestimmten literarischen Strömungen der fünfziger und sechziger Jahre, wird heute, wenn er überhaupt gebraucht wird, aus seinem literaturhistorischen Umfeld gelöst. Zum einen ist er zum summarischen Etikett für eine Literatur geworden, deren Sprachgebrauch um mehr als ein bestimmtes Maß vom Üblichen abweicht und insofern schwierig sein mag. So wird nicht nur alles Experimentelle schwierig genannt, sondern auch alles in diesem Sinn Schwierige experimentell. Zum anderen wird dieses Schwierige heute als ein Sonderfall hingestellt, gleichsam als eine Extrem-Sportart. Deren Protagonisten sind dann Pfad-finder, die zumeist als Produzenten spezialistischer Verstiegenheiten oder marginaler Grenzgänge angesehen werden und als elitäre Publikumsverächter denunziert. Nur von einigen wenigen, die sich mit zeitgenössischer Literatur kritisch befassen, wird das angebliche Erfüllen jener Funktion des Pfadfindens oder Grenzgehens als ein Wegbereiten für bedeutende Literatur so freundlich wie gedankenlos gelobt, als wäre auch die Welt der Literatur ein Ameisen- oder Bienenstaat, in dem jede Funktion von jeder anderen fein säuberlich getrennt ist, so dass jede von eigens dafür spezialisierten Tieren bewusstlos, dafür aber zum Wohl des Ganzen, erfüllt wird. (Als ob nicht jede Dichtung, die ihren Namen verdient, selbst jenes Ganze hervorbringen wollte!)

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Selbstverständlich kann man sich, wie das ja auch manchmal geschieht, auf den Standpunkt stellen, ein solcher Hochmut, eine solche Verachtung oder Gleichgültigkeit dem Schwierigen gegenüber oder auch dessen gönnerhafte Einordnung überführten sich selbst ihrer Nichtigkeit.
Mir scheint es aber fruchtbarer, den literaturkritischen Ausdruck solcher Haltungen selbst als eine Art unwillkürlicher Literatur anzusehen und zugleich als ein - auch für diejenigen, die es in ihren Kunsturteilen sprechen - zunächst unverständliches Orakel; als ein Orakel, das zu deuten, jedoch eine Sicht darauf möglich macht, wie die literarischen Dinge tatsächlich liegen. Wenn, wie Heimito von Doderer einmal behauptet, jeder Hausmeister als Orakel gehört werden sollte, tut man vielleicht beinahe ebenso gut daran, auch die Kritiker, die das Schwierige verachten, als solche Orakel zu hören. Und tatsächlich: lässt man sich auf das Spiel ein, ihre Richtsprüche ernstzunehmen, versteht man noch ihre plumpsten Ausfälle, ihre grobschlächtigsten Invektiven oder auch ihre feinsinnigsten Erwägungen gegen das Schwierige, aber auch ihre anmaßendsten Anbiederungen an das Bequeme und Verkäufliche oder ihre naivsten Hymnen auf das Eingängige oder Einfache als dunkle Wahr- oder Weisheiten wider Willen und Wissen, dann gewinnen ihre Darstellungen eine seltsam poetische Qualität: sie werden übertragbar, und weil sie es werden, gibt es niemanden, der sich in diesen Sprüchen nicht wiederfinden könnte, wenn er nur wirklich will; dann können diese Kritiker das werden, was sie auf den ersten Blick keineswegs sind, nämlich meine Kritiker und somit der geläufige, wenn auch gerade deshalb rätselhafte oder wenigstens vieldeutige Ausdruck von etwas, von dem alle dunkel fühlen, dass es den Umgang mit Literatur wesentlich ausmacht. Ich will es also als bezeichnend ansehen, dass sich manche Kritiker in ihren hochmütigen, verachtungsvollen oder auch nur gleichgültigen oder gönnerhaften Richtsprüchen den sogenannten schwierigen literarischen Texten gegenüber wie Liebhaber aufführen, die sich für betrogen halten, aber erst nach Jahren den Betrug bemerkt haben wollen und sich jetzt an den einstigen Gegenständen ihrer Liebe schadlos zu halten versuchen. So lange haben wir uns, klagt da ein Unterton in ihren Urteilen, mit all unserem Enthusiasmus durch die syntaktischen und semantischen Wildnisse und Neu-Länder geschlagen, haben uns durch mythomorphe joycesche Assoziationsdickichte und durch monotone beckettsche Wüsten gequält, haben uns damit geplagt, das Mark aus Gertrud Steins grammatikalischen Skeletten zu saugen oder damit, aus den neologistischen Zaubersprüchen Chlebnikovs oder Hugo Balls Sinn-Staat zu machen. So lange haben wir, höre ich es da klagen, in den schwierigen, den kaum lesbaren (den, nach Roland Barthes, vor allem schreibbaren) Texten Erkenntnis, Wirklichkeit, historische, seelische oder sonst eine Notwendigkeit gesucht, so lange haben wir inbrünstig daran geglaubt, dass diese Texte tiefe Rätsel aufgeben, entscheidende Fragen stellen - Fragen auf Leben und Tod und zugleich nach Kunst und Nicht-Kunst - und fundamentale Einsichten hervorrufen, doch diese Texte haben uns allesamt betrogen, sie hatten nicht den Wert, den wir in ihnen zu finden meinten, sie haben, wie wir jetzt erkennen müssen, in einem profunden Sinn dieses Wortes, ihr Wort nicht gehalten. Denn hat uns nicht, fragt und klagt es da aus jenen dunklen Urteilen, jeder jener schwierigen und über alle Maßen anspruchsvollen Texte versprochen, dass die ganze Welt in erkennbarer Form in ihn mündet oder aus ihm entspringt, und hat nicht jeder dieser Texte dieses Versprechen genausowenig gehalten wie das berühmte ungeschriebene Buch Mallarmés? Und haben wir nicht alle die Schwierigkeiten mit den schwierigen Büchern vor allem um jener Hoffnung willen auf uns genommen? Doch wir leben und lesen weiter und müssen immer wieder neue, andere Bücher auf- und zuschlagen, und die schwierigen Texte, auf die wir so grosse Hoffnungen gesetzt haben, sind, wie alles andere, Geschichte geworden, und auch Literaturgeschichte. Was soll uns da eine über alle Maßen anspruchsvolle Literatur, die uns immer wieder nur zu dem Traum verführt, wir könnten ein für alle Male, also als Leser einer wahrhaft universalen Dichtung, aus ihrer Geschichte erwachen, während sie uns doch nur einem Albtraum überlässt, aus dem man gar nicht erwachen kann?

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Und wenn ich die Urteilssprüche jener Kritiker, all der Advokaten des Lesbaren (so wie, nach Doderer, die der Hausmeister) in diesem Sinn als Orakel höre und ernstnehme, und wenn ich deshalb versuche, der Wahrheit dieses Orakels gerecht zu werden, wenn ich also jenes sich drehende Rad literaturkritischer Begriffe nicht nur als Pfauenrad, als Ausdruck oberflächlicher Eitelkeit oder selbstverliebter Selbstentfaltung verstehe, sondern auch als jenes Rad, auf das wir alle geflochten sind, und wenn ich deshalb sein Drehen und Ächzen als Klage darüber höre, dass die Literatur eine Art von Erkenntnis-, ja Erlösungsversprechen gibt und dieses doch immer wieder nur bricht oder zu brechen scheint: sollte dann jenes Orakel in all seiner ihm eigenen Dunkelheit, ja Schwierigkeit, nämlich in seiner unabschliessbaren Übertragbarkeit, nicht Teil meiner Poesie werden, der Poesie, die ich schreibe? Und wenn jenes Orakel tatsächlich Teil meiner Poesie würde, müssten dann jene Kritiker - die jetzt angesichts meiner schwierigen, dunklen Poesie zugleich auch noch ihrer eigenen poetischen Dunkelheit und Schwierigkeit ausgesetzt wären - ihre Orakelsprüche nicht so lange wiederholen, bis sowohl sie mit samt ihren kritischen Urteilen in ein Buch, das ich schreibe, münden oder aus ihm entspringen, als auch das, was ich schreibe, in ihre wahren und weisen Urteilssprüche mündet oder aus ihnen entspringt?


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