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LESEN; ABSOLUT, RELATIV (UND MIT WITTGENSTEIN)


© Franz Josef Czernin

Ich weiss von einer wilden Region, in der die Bibliothekare die abergläubische und eitle Jagd nach dem Sinn in Büchern verschmähen und die Lektüre mit Traumdeuterei und Handlesekunst vergleichen...Sie geben zwar zu, dass die Erfinder der Schrift die fünfundzwanzig Natursymbole nachgeahmt haben; sie behaupten jedoch, dass diese Anwendung zufällig sei und die Bücher an sich nichts bedeuteten.
(Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel)

Wie, wenn etwas wirklich Unerhörtes geschähe? wenn ich etwa sähe, wie Häuser sich nach und nach ohne offenbare Ursache in Dampf verwandelten; wenn das Vieh auf der Wiese auf den Köpfen stünde, lachte und verständliche Worte redete; wenn Bäume sich nach und nach in Menschen und Menschen in Bäume verwandelten. Hatte ich nun recht, als ich vor allen diesen Geschehnissen sagte: "Ich weiss, dass das ein Haus ist" etc. oder einfach "Das ist ein Haus" etc.?"
(Ludwig Wittgenstein, Über Gewissheit)

1

In dem berühmten Paragraphen 23 seiner Philosophischen Untersuchungen schreibt Wittgenstein: "Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? - Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir `Zeichen', `Worte', `Sätze' nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen."
Was Wittgenstein über Sätze, Zeichen und Wörter sagt, kann man (wenn auch nicht mit gleich grosser philosophischer Fruchtbarkeit) über jedes bestimmte Wort sagen, also auch über das Wort Lesen (Und in den Paragraphen 156 bis 173 wird das Lesen zum Thema beziehungsweise zu einem Beispiel für Wittgensteins Untersuchungen.): Wie viele Arten, das Wort Lesen zu gebrauchen, und (wenn man den Schluss vom Sprachgebrauch auf das zieht, was er bezeichnen soll; ein Schluss, der in Wittgensteins Philosophieren allerdings problematisch wird) wie viele Arten zu lesen gibt es! Lesen ist so vieldeutig wie jedes andere Wort, das für alle möglichen Weisen steht, es zu gebrauchen, oder auch (wenn man jenen Schluss ziehen will) für eine Reihe womöglich ganz verschiedenartiger Vorgänge.

So wie Wittgenstein einige Arten von Sätzen aufzählt, könnte man auch eine Liste verschiedener Weisen, das Wort Lesen zu gebrauchen erstellen beziehungsweise verschiedener Vorgänge, die man durch das Wort Lesen bezeichnet. Eine solche Liste könnte aber weder vermitteln, welche Weisen, das Wort Lesen zu gebrauchen, angemessener sind als andere, noch, welche Weisen zu lesen dem Wesen des Lesens gerechter werden als andere oder mehr Wert haben als andere.

*

Literatur kann nun - Pars pro toto - als das betrachtet werden, was sowohl zeigen kann, welche Weisen, das Wort Lesen zu gebrauchen, angemessener sind als andere, als auch, welche Weisen zu lesen, dem Wesen des Lesens gerechter werden als andere, oder, welche Weisen zu lesen, mehr Wert haben als andere. In diesem Bild kann sich im Lesen eines literarischen Texts sowohl zeigen, wofür das Wort Lesen besser oder weniger gut verwendet wird, als auch, was ein Lesen in einem stärkeren Sinn von einem Lesen in einem schwächeren Sinn unterscheidet. Das Lesen eines literarischen Texts zeigte damit also, wie die verschiedenen Bedeutungen des Wortes Lesen zu ordnen wären und auch die verschiedenen Weisen des Lesens.

Um zu behaupten, dass Schrifzeichen einer unverständlichen Sprache mit den Augen abzutasten oder sie auszusprechen, nur in einem untergeordneten oder abliegenden Sinn dieses Wortes Lesen zu nennen sei, und dass damit diese Weise zu lesen, keine in einem zentralen oder wesentlichen Sinn dieses Wortes sei, dazu scheint es keiner Literatur zu bedürfen, das haben wir jedenfalls auch jenseits von literarischen Texten in Anspruch zu nehmen gewusst.

Aber es kann sich in dem Lesen von literarischen Texten zeigen, dass das, was wir normalerweise Lesen nennen, etwa, wenn wir eine Zeitung lesen, eine Gebrauchsanweisung, aber auch eine wissenschaftliche Prosa, ja selbst, wenn wir Literatur lesen, in der Ordnung der Lese-Arten nur eine verhältnismässig untergeordnete Stelle einnimmt; eine Stelle, deren Untergeordnetes auch in unserem Welt- und unserem Sprachgebrauch, jedenfalls wenn es sich um Literatur handelt, berücksichtigt werden sollte: Ein literarischer Text, der sich darin erschöpft, die Formen des Zeitung- oder des wissenschaftlichen Lesens zu bedienen, sollte angesichts anderer literarischer Texte für vergleichsweise unlesbar gehalten werden beziehungsweise nur in einem untergeordneten, unwesentlichen Sinn als lesbar bezeichnet. (Dass zumeist genau das Gegenteil geschieht, zeigt nur, wie schlecht wir Literatur lesen können, dass wir zumeist tatsächlich nur in einem sehr schwachen Sinn des Wortes lesen.)
Es kann sich also in dem Lesen von Literatur eine Ordnung der Lese-Arten zeigen beziehungsweise der Weisen, das Wort Lesen zu gebrauchen, die sich von dem üblichen diesbezüglichen Sprach- und Weltgebrauch wesentlich unterscheidet.

Aber hier ist einem naheliegenden Missverständnis vorzubeugen: Diese Ordnung der Lese-Arten beziehungsweise der Weisen, das Wort Lesen zu gebrauchen, ist, wenn Literatur gelesen wird, nicht ein Gegenstand, der einfach einer Beschreibung oder Klassifikation zur Verfügung steht. Diese Ordnung ist so wenig etwas Festes oder ein für allemal Gegebenes wie Wittgensteins Mannigfaltigkeit von Sätzen.
Aus einem literarischen Text lässt sich also nicht einfach eine Lehre des Lesens ablesen, nicht einfach eine metaphysische Theorie darüber, was Lesen im vollen Sinn des Wortes ist, nicht einfach eine Theorie des Lesens, die beansprucht, die wesentlichen oder wertvolleren Eigenschaften des Lesens herauszuarbeiten, sie von den unwesentlichen oder weniger wertvollen Eigenschaften zu unterscheiden und aus dieser Ontologie oder Wert-Lehre des Lesens Vorschläge hinsichtlich des Gebrauchs des Wortes Lesen abzuleiten. (Eine solche Metaphysik des Lesens würde einen Sprachgebrauch beanspruchen, vor dem Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen bezeichnenderweise gerade warnt. - Dagegen das Wesen von irgendetwas, also auch das Wesen des Lesens in einer philosophischen Theorie festzuschreiben, richtet sich ja bekanntlich ein guter Teil der Wittgensteinschen Beispiele und Argumente. Ein Punkt, der entscheidend mit dem in vieler Hinsicht literarischen Sprachgebrauch in Wittgensteins Spätwerk zu tun hat.)

Wenn also in dem Lesen eines literarischen Texts eine Ordnung der verschiedenen Bedeutungen des Wortes Lesen evoziert wird und damit zugleich auch eine Ordnung verschiedener Weisen zu lesen, die hinsichtlich ihrer Wirklichkeit oder ihres Werts unterschieden werden, dann wird damit nicht behauptet, begrifflich festzulegen, wie das Wort Lesen zu gebrauchen ist, beziehungsweise, welche Eigenschaften das Lesen hat.

Im Lesen von Literatur wird also das Wort Lesen nicht definiert, sondern in diesem Lesen kann sich zeigen, dass bestimmte Bedeutungen dieses Worts in bestimmten Beziehungen zu anderen seiner Bedeutungen stehen; und dementsprechend können die verschiedenen Weisen des Lesens aneinander gewichtet und bewertet werden; und beides, die Bedeutungen des Wortes Lesen und die verschiedenen Weisen zu lesen, können wiederum aneinander erkennbar werden.
- Im Paragraphen 128 der Philosophischen Untersuchungen schreibt Wittgenstein: "Wollte man Thesen in der Philosophie aufstellen, es könnte nie über sie zur Diskussion kommen, weil Alle mit ihnen einverstanden wären." Sofern man es über diese, Wittgensteins Meta-These zur Philosophie selbst nicht zur Diskussion kommen lassen will, kann man den Unterschied zwischen einem Sprachgebrauch, der sich in seiner theoretischen Funktion erschöpft, und jenem der Literatur (aber auch jenem von Wittgensteins spätem Philosophieren) damit charakterisieren, dass in der Literatur (aber auch in Wittgensteins spätem Philosophieren) Thesen etwas Umfassenderem und sie Bedingendem ausgesetzt werden, sagen wir: ihrer eigenen Entstehung aus einem Sprach- und Weltgebrauch. Ihre Bedeutung oder ihr Wert wird deshalb nicht ausschliesslich und nicht notwendig in einer Diskussion erfahrbar oder erkennbar, ja wird unter Umständen durch eine auf den theoretischen Sprachgebrauch fixierte Diskussion gerade nicht erfahren oder erkannt.

Erschöpft sich die Literatur selbst nicht in einer Theorie des Lesens im Sinne einer Ontologie oder Wert-Lehre, so können doch auch verschiedene solcher Theorien, also Metaphysiken des Lesens, durch bestimmte literarische Texte oder auch literarische Traditionen nahegelegt werden; eine solche Theorie, sofern sie es unternimmt, eigentliches Lesen oder Lesen im vollen Sinn des Wortes von seinen ihm untergeordneten Varianten begrifflich zu unterscheiden (hinsichtlich ihres Seins oder ihres Werts), könnte etwa aus literarischen Texten herausgelesen werden. (Liesse sich nicht etwa aus Prousts Suche nach der verlorenen Zeit eine solche Theorie des Lesens herauslesen, die verschiedene Formen und verschiedene Grade des Lesens klassifiziert, wenn auch nur als ein Moment einer Deutung dieses Romans?).
Unter Umständen kann man literarische Texte auch als Ausdruck oder Verkörperung einer oder mehrerer Metaphysiken des Lesens deuten, so wie man ja literarische Texte überhaupt als Ausdruck oder Verkörperung von Theorien deuten kann. - Eine gewiss einseitige Form des Umgangs mit Literatur, aber eine Form, die - in bestimmten literarischen Perioden oder für bestimmte Autoren - sehr wohl fruchtbar sein kann.
(So wie man auch manche philosophischen Texte - wie die Wittgensteins, aber auch etwa jene Nietzsches - als Ausdruck oder Verkörperung bestimmter philosophischer Theorien lesen kann, ohne dass eine solche Lesart unfruchtbar sein müsste, wie der späte Wittgenstein selbst wahrscheinlich behauptet hätte.)

2

In jenem Paragraphen 23 der Philosophischen Untersuchungen erstellt Wittgenstein eine Liste, bestehend aus einer Reihe von Sprachspielen wie Befehlen, Beschreiben eines Gegenstands, eine Geschichte erfinden, Rätsel raten, einen Witz machen usw. Es ist eine Liste, die sich an dem üblichen Sprach- und Weltgebrauch orientiert, an den Sprachspielen, die es (doch wer weiss in welchem Sinn dieses, wenigstens in der Literatur, rätselhaften Worts) gibt. Hätte Wittgenstein auch eine Liste erstellt, um anzudeuten, was alles Satz genannt werden kann, dann hätte er wohl auch vor allem Formen des Sprachgebrauchs angegeben, die häufig Sätze genannt werden. Andererseits sagt er selbst, dass es unzählige Arten von Sätzen gibt, und entwirft
Sprachspielszenen, die besondere Umstände skizzieren sollen, unter denen selbst die für ihn so seltsamen Sätze, die manche Philosophen äussern (z.B: "Ich weiss, dass ich ein Mensch bin."), alltäglichen (und also gerade nicht philosophischen) Sinn beziehungsweise Gebrauchs-Wert bekommen.

Das Sprachspiel Literatur nun, so kann man festlegen, ist eines, in dem weder die üblichen oder häufigen Weisen, ein Wort zu gebrauchen, allein eine Rolle spielen, noch sich aber - durch den Hinweis auf die besonderen Umstände ihres Vorkommens - jenen Eigenschaften des literarischen Gebrauchs von Sprache ein bestimmter alltäglicher Sinn oder Gebrauchswert zuordnen lässt, welche im Alltag als seltsam oder abliegend klassifiziert würden. Würde jemand ein Gedicht oder einen Roman lesend behaupten, er wisse, dass er ein Mensch sei, oder auch, er wisse nicht sicher, ob er ein Mensch sei, so könnte diese Behauptung ganz plausibel wörtlich verstanden werden. In einem Gedicht oder einem Roman lesend könnte jemand mit Recht und mit allem Ernst darüber nachdenken, was dafür und was dagegen spricht, dass er ein Mensch sei, ohne dass er sich damit selbstverständlich als Irrer oder als grammatikalisch verhexter Philosoph qualifiziert. Und würde man nun im Sinne Wittgensteins einwenden, es sei hier eben der Umstand, dass es sich um Literatur handle (die dann gleichsam als intendierte Kreuzung von Irresein und fehlgeleitetem Philosophieren erschiene), der die Seltsamkeit des Sprachgebrauchs hinlänglich erkläre, dann könnte man Wittgenstein mit dem Hinweis widersprechen, jegliche nähere Bestimmung des Sprachgebrauchs von Literatur durch die Umstände dieses Sprachgebrauchs bedeute nur, dass man diese Literatur im Rahmen einer bestimmten Grammatik begreift, die von der Lese- Erfahrung beziehungsweise der Interpretation des literarischen Texts selbst nicht hinlänglich unterscheidbar ist. Und man könnte hinzufügen, dass es zum Spiel Literatur gehöre, mögliche Grammatiken der Literatur (und also auch den Umstand Gedicht oder Roman) beziehungsweise die jeweilige Lese-Erfahrung ihrerseits auf ihr Spiel zu setzen. Würde also Wittgenstein den seltsamen Sprachgebrauch von Literatur durch die besonderen Umstände dieses Sprachgebrauchs erklären, so ähnlich also, wie er die Äusserung "Ich weiss, dass ich zwei Hände habe", dadurch auf den Boden eines Alltags zurückholt, dass er sich vorstellt, jener Satz werde von jemandem in einem Krankenbett geäussert, der jemand anderem versichern will, dass ihm keine Hand amputiert worden ist, dann könnte man ihm entgegnen, dass diese Analogie insofern nicht greift, als ja, immer wenn bestimmte Umstände des literarischen Sprachgebrauchs aufgeboten werden, um diesen Sprachgebrauch zu erklären, einfach ein literarischer Text auf bestimmte Weise gedeutet werde beziehungsweise ein möglicher Begriff (= eine mögliche Grammatik) von Literatur angewendet.

(Für Wittgenstein übrigens treiben die Philosophen, welche die klassischen philosophischen Fragen stellen und Theorien errichten, um sie zu beantworten, ohne es wahrhaben zu wollen, auch eine Art Literatur, nämlich science fiction im wörtlichen Sinn, also wissenschaftliche Fiktion, indem sie so tun, als könnte der theoretische Sprachgebrauch, der keine bestimmten, besonderen Umstände kennt, den anderen Formen des Sprach- beziehungsweise Welt-gebrauchs den Grund legen. Philosophen, die philosophische Theorien errichten, verhalten sich, so gesehen, wie Leute, die zugleich Ausserirdische und Irdische sein wollen, um sich als Ausserirdische ihr Irdisches von Grund auf und ein für alle Male zu erklären. Wenn man nun annimmt, dass für Wittgenstein das, was in der theoretischen Philosophie zu Unsinn führt, in der Literatur erlaubt ist, zeigt dann diese Trennung der theoretischen und der literarischen Sphäre nicht etwas von dem historischen Ort des wittgensteinschen Philosophierens, der auch enthält, dass der Erkenntnisanspruch von Literatur hinfällig sei?)

*

Dass Behauptungen häufig Sätze genannt werden, eine Folge von Gebärden aber selten, und der übliche Schluss daraus (den Wittgenstein selbst aber nicht zieht), dass der häufige Sprachgebrauch die eigentliche Bedeutung des Wortes Satz darstelle und der seltene Sprachgebrauch dessen übertragene Bedeutung, das spielt, was literarische Texte angeht, nur im Zusammenhang einer bestimmten Interpretation eine Rolle. Würde in einem literarischen Text das Wort Satz dazu gebraucht, eine Reihe von körperlichen Gebärden zu bezeichnen oder bestimmte Sequenzen in den Gesängen einer Vogelart oder den Verlauf einer Hügelkette oder eines Flusses, dann könnte man diese Bezeichnung nur dann als Metapher oder, allgemeiner, als übertragenen oder uneigentlichen Sprachgebrauch klassifizieren, wenn man so interpretiert, dass man den Text auf eine schon so und so existierende Welt und damit auch auf einen schon so und so existierenden Sprachgebrauch bezieht; - auf das, was man, nach Wittgenstein, als seine, im wesentlichen ein für allemal feststehende Lebensform begreift. Man behauptet dann, dass etwa eine Reihe von körperlichen Gebärden eigentlich kein Satz sei, dass also das Wort hier in einem übertragenen Sinn gebraucht werde.
Wenn Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen schreibt: "Die sekundäre Bedeutung ist nicht eine `übertragene' Bedeutung. Wenn ich sage `Der Vokal e ist für mich gelb', so meine ich nicht; `gelb' in übertragener Bedeutung - denn ich könnte, was ich sagen will, gar nicht anders als mittels des Begriff `gelb' ausdrücken.", dann stimmt das mit dem Sprachgebrauch der Literatur insofern überein, als auch da das, was vom üblichen Sprachgebrauch aus als übertragene Bedeutung erscheint, in dem jeweiligen literarischen Zusammenhang gar nicht anders gesagt werden könnte. Allerdings würde auch der Unterschied zwischen primärer und sekundärer Bedeutung nicht mehr unmittelbar aus den Gepflogenheiten des üblichen Sprachgebrauchs erschlossen werden müssen, sondern dieser Unterschied könnte sich aus dem Lesen des literarischen Texts selbst ergeben; - nicht mehr aus dem Zusammenhang der Lebensform also, sondern aus dem Zusammenhang des Texts selbst.

So wie sich in einem literarischen Text zeigen kann, dass man alles, nämlich mit einem durch den Text selbst bestimmbaren, Recht oder Maßstab Satz nennen kann und damit auch (wenn dieser Schluss erlaubt ist, den die Literatur jedenfalls nahelegen kann, aber wohl kaum die Philosophie Wittgensteins), dass alles als Satz erfahren werden kann, so geht es in einem literarischen Text (wenn auch nicht mit gleich grosser literarischer Fruchtbarkeit) mit jedem Wort, also auch mit dem Wort Lesen. Was ist in der Literatur nicht schon alles Lesen genannt oder als Lesen erfahren worden, was wird in der Literatur nicht noch alles Lesen genannt oder als Lesen erfahren werden! - Da kann man in Augen lesen, in Gesichtern, in Landschaften, in der Weise, in der sich jemand kleidet oder seine Wohnung einrichtet, man kann in den Steinen, den Wolken, in Eingeweiden oder Händen lesen. Und umgekehrt kann in der Literatur das Lesen, etwa von Buchstaben oder Sätzen, auch zu allem anderen werden: zu einem Sehen von Landschaften, einem Erkennen von Gesichtern, zu einer Weise sich zu kleiden oder seine Wohnung einzurichten, oder Steine, Wolken oder Eingeweide zu betrachten... Man kann in der Literatur also alles Lesen nennen, was sonst nicht Lesen genannt wird, während man auch alles als Lesen erfahren kann, und zugleich kann man auch, was man meistens Lesen nennt, durch jedes andere Wort benennen und auch als alles andere erfahren.

Die Ordnung der Bedeutungen von Zeichen, etwa auch des Wortes Lesen, beziehungsweise die Seins- oder Wert-Ordnung von Dingen oder Ereignissen, wie etwa der Arten des Lesens, kann also auch als einzig und allein durch den Zusammenhang des literarischen Texts bestimmt begriffen werden, das heisst durch die Erfahrungen, die man bei seiner Lektüre macht. Die Gegenüberstellung eigentlich/uneigentlich oder wörtlich/übertragen beziehungsweise primär/sekundär wird dann ersetzbar durch Grade dieser Erfahrung. (Und es müssen natürlich nicht nur zwei verschiedene Grade sein, wie jene Gegenüberstellung suggeriert.) - Ein bestimmtes Lesen wäre dann eines in mehr oder weniger vollem Sinn des Worte, und dementsprechend wäre dann ein bestimmter Gebrauch des Wortes Lesen mehr oder weniger angemessen.

Mit dieser Behauptung (die vielleicht nach Maßgabe der poetischen Erfahrung, von der hier die Rede ist, selbst einigermaßen unleserlich ist) ist für das Lesen, das Verstehen von literarischen Texten nur ein bestimmter Rahmen vorgegeben. Diese Behauptung folgt einfach aus einem bestimmten, vielleicht plausiblen, Begriff von Literatur, der von vornherein keine Gleichsetzung beziehungsweise Verwandlung von etwas in etwas anderes, keine Behauptung irgendeiner Identität und irgendeines Unterschieds ausschliesst und die Verwirklichung bestimmter Identitäten und Unterschiede beziehungsweise Verwandlungen dem Lesen des konkreten literarischen Texts überlässt. In einem anderen Sinn als in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen (in einem Sinn nämlich, der sich nicht notwendig auf eine vorgegebene Lebensform, auf bestimmte Gepflogenheiten bezieht) gibt es eben unzählige Arten zu lesen, so wie das Lesen selbst zahllose andere Dinge sein kann.

*

Insofern sich Literatur von dem üblichen Sprach- und Weltgebrauch unterscheidet, kann sie also diese formelle Freiheit bieten: Es gibt keine andere Beschränkung im Gleichsetzen und Unterscheiden als diejenige, die sich die Literatur, das heisst: ein bestimmter literarischer Text, selbst setzt. Aber diese Freiheit ist insofern formell, als sie nur besagt: alle Kombinationen von Zeichen und von allen anderen Dingen sind in einem literarischen Text möglich und dementsprechend alle Erfahrungen. Dass dem so ist, gehört zu einem Begriff von Literatur. Denn diese Bestimmung, dass ein literarischer Text alle Kombinationen von Zeichen beziehungsweise alle Erfahrungen erlaubt, bezeichnet selbst nur eine Möglichkeit, Literatur zu klassifizieren. Man kann sich ja auch eine Literatur denken, zu deren Begriff es gehört, bestimmte Zeichen oder bestimmte Kombinationen von Zeichen beziehungsweise bestimmte Erfahrungen auszuschliessen.
Auch wenn es also naheliegen mag zu behaupten, dass jene formelle Freiheit, versteht man sie als Element des Begriffs von Literatur, nichts Wesentliches über bestimmte literarische Texte aussage, so wäre diese Behauptung doch nur dann unanfechtbar, wenn es keine anderen Möglichkeiten gäbe, den Begriff der Literatur zu bestimmen. Nimmt man aber an, es gebe andere Möglichkeiten, lässt sich der Begriff von Literatur, der jene formelle Freiheit enthält, auch als kontingent begreifen: nicht nur als Rahmen für die Interpretation literarischer Texte also, nicht nur als Teil der, wie Wittgenstein sagen würde, Grammatik für den Umgang mit Literatur, sondern auch als Resultat der Interpretation bestimmter literarischer Texte, als Resultat des Umgangs mit ihnen beziehungsweise als Aspekt ihrer Bedeutung.

Aber selbstverständlich ist mit dem Inanspruchnehmen eines bestimmten Begriffs von Literatur (etwa jenes, der diese formelle Freiheit enthält) nicht nur nicht alles, sondern, was die meisten Texte betrifft, sehr wenig über ihre Bedeutung gesagt. Denn zumeist sagt das Inanspruchnehmen jener formellen Freiheit wenig aus über die Wirklichkeit und den Wert der jeweiligen Auswahl aus allen möglichen Kombinationen beziehungsweise aus allen möglichen Erfahrungen: Für die meisten literarischen Texte gilt, dass diese Wirklichkeit und dieser Wert davon abhängen, wie sich die Kombinationen von Zeichen beziehungsweise die Verwandlungen, die Trennungen und Vereinigungen, durch den literarischen Text, in dem literarischen Text selbst, Silbe für Silbe entwickeln, welche Wirklichkeit und welchen Wert sie innerhalb des Texts annehmen oder welche Erfahrung sie somit her- oder darstellen.

Angenommen, ein literarischer Text zeigt, was Lesen alles sein kann. Dieser Text entfaltet eine Reihe von Begriffen des Lesens und zugleich eine Reihe von Weisen zu lesen, er führt sich als einen Prozess vor, in dem sich unterschiedliche Eigenschaften und Werte des Lesens aneinander entfalten. Wir erkennen in dem Lesen des Texts etwa, dass man unter diesen oder jenen Umständen auch in Gesichtern, Eingeweiden, Händen, Wolken oder Hügelketten lesen kann, aber auch, dass unter diesen oder jenen Umständen das angebliche Lesen einer Zeitung nur oder vor allem Unwirkliches oder, vergleichsweise, Wertloses zu Tage fördert, dass ein solcher Text in geringerem Maß (und damit in einem anderen, mehr untergeordnetem Sinn des Wortes) lesbar ist, als es die Eingeweide, Hände, Wolken oder Hügelketten sind. Zugleich erkennen wir, dass wir, wenn wir bestimmte Kombinationen von Schriftzeichen unter bestimmten literarischen Umständen oder Bedingungen entziffern, dasselbe tun wie beim Lesen von Eingeweiden, Wolken oder Hügelketten.
Aber solche Erkenntnisse wollen einmal gemacht sein, diese Lesbarkeiten wollen einmal wirksam und wirklich werden! Denn es hilft ja zumeist wenig, wenn in einem literarischen Text einfach deklariert wird: Diese Landschaft ist lesbar, oder: ich lese aus diesen Augen, von der lesbaren Wolkenschrift zu sprechen oder von der unlesbaren Zeitung.

Die verschiedener Arten des Lesens sollen also in einem literarischen Text als Prozess entfaltet werden, in einem Prozess, in dem sich die Eigenschaften dieser Lese-Arten als Werte oder die Werte dieser Lese-Arten als Eigenschaften herausstellen. Eben damit kann sich in dem Lesen von literarischen Texten zeigen, dass das, was wir normalerweise Lesen nennen, wenn wir etwa eine Zeitung oder eine Gebrauchsanweisung lesen, nur eine verhältnismässig untergeordnete Stelle einnimmt; eben damit kann sich in dem Lesen von Literatur eine Ordnung der Lesarten zeigen und somit auch von Weisen, das Wort Lesen zu gebrauchen.

In einem so verstandenen Lesen von Literatur entfaltet also jeder Text ein Spiel von Entsprechungen, Verwandlungen usw., an dem teilzunehmen, bedeuten kann, eine Ordnung von Dingen als Werte oder von Werten als Dinge herzustellen, eine eigen-artige und eigen-mächtige Totalität aus Kombinationen von Zeichen wie ihren Gegenständen, an dem die Maßstäbe unserer üblichen Zuordnungen zerfallen, die dann nur mehr eine, und womöglich wenig plausible (nämlich durch die Lese-Erfahrung selbst dementierte) Möglichkeit darstellen, den Text zu lesen, und also mit dem Wort Lesen und den verschiedenen Erfahrungen des Lesens umzugehen.

3

Von diesem Bild eines literarischen Texts aus (es soll, um daran zu erinnern, ein Pars pro toto sein), in dem sich zeigt, dass alles Lesen genannt und als Lesen erfahren werden kann, lässt sich die bekannte (und auch berüchtigte) Idee des absoluten Texts auf bestimmte Weise, also wiederum Pars pro toto, verstehen.
Dieser absolute Text, verstanden und erfahren im Namen des Lesens, wäre jener, in dem alles zu Recht in die Erfahrung des Lesens eingehen würde. Alles würde als Erlesenes erkennbar, alles würde sich hinsichtlich seiner Lesbarkeit zeigen oder sich als Lesbares herausstellen. In diesem Sinn würde der Text alles umfassen (oder hervorbringen oder in sich hineinziehen). Alles, was es gibt, würde sich als eine der Formen der Lesbarkeit des Texts herausstellen. Lassen wir uns häufig dazu verführen, einen Text als den übertragenen Sinn (etwa als Metapher) von etwas anderem anzusehen, sei etwa von einem gesellschaftlichen oder seelischen Zustand oder auch der sogenannten Natur, sei es von Theorien über gesellschaftliche oder seelische Zustände oder auch über die sogenannte Natur, sind wir es also häufig gewohnt, den Text als durch etwas anderes Bedingtes zu lesen, so würde jener absolute Text, jegliche Wirklichkeit, die behauptet wird, auf den Text zurückführen. Der Text würde das Gesetz für alles mögliche geben und dieses Gesetz zugleich in Kraft treten lassen. Der Text würde so zu dem, was für Shelley der Dichter ist, nämlich zum Gesetzgeber der Welt, aber so wie Shelleys Dichter wäre der Text auch der (zumeist) unerkannte Gesetzgeber der Welt.
Würde also etwas anderes auf den Text übertragen, dann würde sich herausstellen, dass diese Übertragung schon in dem Text enthalten ist, dass diese Übertragung als durch den Text verursacht erscheint, sie wird zu einer seiner Lesarten oder zu einer der Grade seiner Lesbarkeit. So wie in Hegels Dialektik alle möglichen Philosophien enthalten sein sollen, die ganze Philosophiegeschichte in der bestimmten Form seiner Schrift erfahrbar werden soll, wären in diesem Text alle möglichen Dinge oder Ereignisse im Begriff des Lesens erfahrbar und damit auch als Weisen zu lesen, und das gemäss ihrem Wert. Alles, was normalerweise gar nicht sinnvoll als Lesbares klassifizierbar erscheint (wie Landschaften, Steine, Wolken, Eingeweide, Hände, aber auch Sinneswahrnehmungen oder innere Bilder usw.), wird zu Entzifferbarem, etwa zu einer Kryptographie, deren Bedeutung in dem Lesen gleichsam geoffenbart würde. In diesem Sinn wäre nach Mallarmé alles da, um in ein Buch, in das absolute Buch, einzugehen beziehungsweise von ihm auszugehen. Dieses absolute Buch behandelte alles in seinem Namen, in seiner Form, und dieser Name, diese Form können auch jene des Lesens sein. Das Lesen von Literatur würde so, wie Friedrich Schlegel einmal sagt, zum Streben nach einem absoluten Verstehen. In einer solchen Apotheose des Lesens stellte die Literatur eine Totalität des Lesens her, die zugleich die Totalität überhaupt wäre. Aber nicht als abstrakten Ort, als Utopie, sondern in der Tat oder als Vorgang, als, hegelianisch gesprochen, lebendige Totalität.

Auf wie viele Weisen ist in der Literatur diese Apotheose nicht schon in Szene gesetzt worden!
Es entspricht da nur einer bestimmten (wiederum an Hegels Begriffs-Dramatik orientierten) Lesart, diese Tat, diesen Vorgang als einen Prozess zu begreifen, der ein Ziel hat; als einen Prozess, der sich Stufe für Stufe steigernd, in einem absoluten Lesen mündet, gleichsam in einem verklärten Lesen das zugleich das Lesen dieser Verklärung wäre, nämlich ein sich selbst entzifferndes Verklären wie auch ein sich selbst verklärendes Entziffern.
Doch wie auch immer jene Totalität gelesen würde, welche Form diese Apotheose des Lesens auch annehmen würde: das übliche Lesen erschiene von ihr aus als relativ und vorläufig. Es erschiene wie ein Körper, der sich selbst noch nicht durchsichtig ist, der sich noch nicht, wie Novalis in ähnlichem Zusammenhang sagt, selbst verdaut oder verschlungen hat, so dass wir in dem üblichen Verhältnis zwischen dem, was wir von uns wissen, und dem, was wir von uns nicht wissen, befangen bleiben. Dieses relative Lesen würde nur kleine Inseln des Bewusstseins erzeugen, gegängelt von anderem, sagen wir, von vegetativen Systemen oder von unwillkürlich und einander undurchschaubar determinierenden Sinn-Maschinen, die sich scheinbar selbsttätig oder zufällig ereignen, sich jedenfalls unserem Einfluss, unseren Absichten entziehen mit dem Ergebnis, dass uns der Sinn, der entsteht, vor allem unterläuft.

*

Aber wie es in dieser, wie es scheint, nur so unzureichend lesbaren Welt eben geht: Das absolute Buch, die Apotheose des Lesens, verlangt nach seinem Gegenstück. So, als ob die Konzeption eines Himmels des Lesens, der absoluten Lesbarkeit, sogleich die Gegenkonzeption einer Hölle des Lesens, der absoluten Unlesbarkeit, hervorrufen würde; so, als ob Lesen nicht nur, wie Borges sagt, eine Form von Glückseligkeit sein kann, sondern auch eine Form von Verzweiflung. (Und wir kennen ja auch die entsprechende philosophische Literatur, die mit der Idee des absoluten Buchs auch die Idee des Endes der Literatur beziehungsweise der Lesbarkeit eingeläutet hört.)

Der vorgebliche Aufstieg zu absoluter Lesbarkeit könnte ja eigentlich auch ein Abstieg oder auch eine ziellose Irrfahrt sein, eine Odyssee, und womöglich eine, die nicht in dem Hafen eines Texts endet, den eine endgültige An- oder Auskunft verheissende Göttin gewoben hat. Wie, wenn sich gerade in einem literarischen Text herausstellte, dass nur das mit Recht Lesen genannt wird, was üblicherweise so genannt wird, jeglicher andere Sprachgebrauch sich aber als bizarre Abweichung oder als aller Erkenntnis spottender Atavismus entpuppte? (Man stelle sich die Verzweiflung des Lesens vor, die darin besteht, dass sich all die literarischen Mittel als Verschleierung des simplen Tatbestands herausstellen, dass der Begriff des Lesens nicht erweiterbar, übertragbar ist, ohne seinen Sinn zu verlieren, während aber dieser Sinn einer ist, der keinerlei Anspruch auf Erkenntnis genügt. Oder man stelle sich die Verzweiflung des Lesens vor, wenn sich herausstellt, dass an dem als für die Literatur notwendig begriffenen Ideal des absoluten Lesens gemessen, alles, was für lesbar gehalten wird, also nicht nur die Zeitung oder eine wissenschaftliche Prosa, sondern auch die Literatur selbst, eigentlich unlesbar ist.)

Natürlich hilft es auch da nichts oder wenig, einfach zu deklarieren, es gebe eigentlich nichts Lesbares, aller Sinn, den man aus etwas herauslese, sei Schein oder Unsinn, dass also Bücher nichts bedeuteten; - also Thesen zu äussern, die sich schon insofern selbst dementieren, als sie ja selbst ohne weiteres beanspruchen, Sinn zu haben.
Doch auch die Unlesbarkeit jeglicher Schrift, die vom üblichen Sprachgebrauch literarisch abweicht, oder auch die absolute Unlesbarkeit könnten sich in einem literarischen Text zeigen, auch diese Erfahrungen könnten gemacht werden. Ja, zeigen sich diese Erfahrungen nicht schon ein wenig in jenem Begriff von Literatur, der jene formelle Freiheit postuliert? Der Himmel des Lesens könnte seine apokalyptische, nämlich endgültige Nichtigkeit schon damit fühlbar machen, dass jene Apotheose auf ihre semiotischen Bedingungen zurückgeführt wird. Diese Lesbarkeit könnte sich als Schein oder als Schatten der unbeschränkten Kombinatorik einer Bibliothek von Babel herausstellen, einer notwendig täuschenden Verfügbarkeit über die Zeichen und damit über das Erfahrbare.
Und lässt sich nicht gerade ein guter Teil der modernen Literatur, von Kafka bis Beckett, aber eben auch, gegen den ersten Anschein, jene von Borges, als die subtil inszenierten Zerstörungen nicht nur von literarischer Lesbarkeit begreifen? So als ob alle diese Texte (und viele andere) vor allem zeigen würden, dass, weil die Welt nicht lesbar ist, es auch die Literatur nicht ist, und dass, weil die Literatur nicht lesbar ist, es auch die Welt nicht ist?
So als ob Literatur darin bestehen könnte, an ihrem eigenen Ast, dem Ast ihrer Lesbarkeit zu sägen, gerade indem sie als Literatur ihre äussersten oder innersten Möglichkeiten strapaziert bis zu ihrem Sturz; so als wäre Literatur (wie Adorno es für jegliche Kunst behauptet hat), wenn überhaupt Metaphysik, dann eine solche im Augenblick ihres Sturzes und damit auch die Erfahrung des Sturzes selbst, der damit geschieht, dass sich das Lesen Silbe für Silbe seiner Ordnungen beraubt: Denn kann man nicht so lesen, dass jede Lesart sich an jeder anderen als Täuschung zeigt, dabei eine möglichst umfassende, jedenfalls aber progressive Unlesbarkeit erfahrbar machend, die das schöne frühromantische Ideal eines absoluten Verstehens in ihr Gegenteil verwandelt?

4

Wenn Wittgenstein in seinem Spätwerk jegliche philosophische Theorie ablehnt, insofern sie Theorie ist, und wenn er immer wieder zu zeigen versucht, wie täuschend das Licht der theoretischen beziehungsweise wissenschaftlichen Form von Erkenntnis sein kann, insofern sie ihre Wurzeln in dem Alltagsleben der Sprache nicht erkennt oder missachtet; wenn er zu zeigen versucht, dass diese Formen der Sprache den Preis, der in ihrer abgehobenen Sonderform besteht, niemals bezahlen können: könnte er da nicht dasselbe für die so andersgeartete Sonderform der poetischen Sprache zu zeigen versuchen? Von Wittgensteins spätem Philosophieren aus gedacht (doch als Bewunderer von Kunst hätte er diesen Schluss vielleicht nicht gezogen) erscheint sowohl der Himmel, die Glückseligkeit des Lesens, als Erkenntnis der Seins- oder Wertordnung des Lesens und damit aller anderen Dinge, als auch die Hölle, die Verzweiflung des Lesens (die Vernichtung der Möglichkeit gerade jener Erkenntnis), als Folge davon, dass auch die Literatur ein bestimmter sekundärer, aus dem Alltäglichen abgeleiteter Sprachgebrauch ist, der sich als primärer behauptet. Literatur, die ihren dunklen, sie überall bestimmenden Lebens- oder Sprach-Grund vergisst - die undurchdringliche, veränderliche und mannigfaltige Lebensform - und sich dazu versteigt, diese Lebensform auf eine in ihr selbst enthaltene, von ihr selbst hervorgerufene Lesart zu reduzieren, eine Literatur also, die sich zum Anfang oder zum Ende aller Erfahrung macht, führt eben genauso wie die entsprechende Philosophie, wenn nicht unmittelbar zu metaphysischen Theorien, so doch zu entsprechenden metaphysischen Erfahrungen oder Vorstellungen. Und so wie alle Theorien, etwa auch diejenigen empirischer Wissenschaften, sofern sie ihre eigene Abgeleitetheit, ihr Sekundäres nicht hinreichend reflektieren, ihre Erkenntnisform als einzig angemessene und ihre Wahrheiten als die einzigen, die diesen Namen verdienen, behaupten, führt auch eine als absolut begriffene Literatur zum Phantom einer absoluten Erkenntnis in Form einer absoluten Ermächtigung oder einer absoluten Preisgabe, zum Phantom der Erkenntnis eines absoluten Lichts oder einer absoluten Dunkelheit.

*

Aber was hat mir diese Haltung, etwa dieses Philosophieren im Sinne Wittgensteins zu sagen, in dem Augenblick, da ich die Glückseligkeit, also den Himmel des Lesens, als Erkenntnis der Seins- oder Wertordnung aller Dinge erfahre, oder auch die Verzweiflung, also die Hölle des Lesens, als Vernichtung eben jener Erkenntnis, da ich diese Erfahrung mache und diese Erfahrung ihrem Wesen entsprechend alles zu umfassen beansprucht, und damit auch meine Erinnerung an jenes Philosophieren im Sinne Wittgensteins im Zusammenhang jener Erfahrung lesbar oder eben unlesbar macht, jedenfalls aber zu etwas, das aus meinem Lesen selbst herleitbar ist, in einem wie vielfältigen Sinn des Wortes Herleiten auch immer? Und lässt mir Wittgensteins Philosophieren nicht selbst einen Ausweg, das ja insofern auch als eine Form von Literatur verstanden werden kann, als es sich selbst konsequenterweise nicht in philosophischen Thesen beziehungsweise Theorien erschöpfen lässt, sondern etwas zu zeigen unternimmt und damit an eine Erfahrung appelliert, die jeglicher literarischen Erfahrung nicht etwas voraus hat, das geeignet wäre, diese ein für alle Male in bestimmte Schranken zu verweisen?


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