© Franz Josef Czernin
Durs Grünbein, 1962 geboren, hat nach Grauzone Morgens (1988)
und Schädelbasislektionen (1991) im Herbst 1993 seinen dritten
Gedichtband Falten und Fallen veröffentlicht, um den es in
dieser Rezension geht.
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Dass sich jeder Schriftsteller, der den Anspruch erhebt,
Literatur hervorzubringen, mitten in der Geschichte der
Literatur wiederfindet und sich damit, ob er nun davon weiss
oder nicht, dieser Geschichte sowohl zu bemächtigen als auch zu
unterwerfen hat, ist mit dem Begriff der Literatur mitgegeben.
Die Qualität einer Literatur zeigt sich wesentlich darin, ob und
wenn ja in welcher Weise sich in ihr jener Geschichte bemächtigt
oder unterworfen wird.
Nicht nur die Geschichte ist, wie James Joyce will, ein
Alptraum, aus dem wir zu erwachen suchen, sondern auch die
Literaturgeschichte. Und dieses Erwachen, das ein Bewältigen
bedeuten soll, kann nur in einer Literatur geschehen, die ihre
eigene Geschichte so umfasst, dass sie diese auch hervorrufen
könnte. Und das eben damit, dass jene Bemächtigung und jene
Unterwerfung miteinander auf ein Spiel gesetzt werden, auf dem
alles steht, was Literatur in einem bestimmten
literaturgeschichtlichen Augenblick sein kann.
Selbstverständlich reichen die meisten jener Bemächtigungen oder
Unterwerfungen nicht weit oder tief genug. Das kann für
verschiedene literaturgeschichtliche Momente verschiedenes
bedeuten. Ist es einmal, etwa im Zusammenhang von
Aufbruchsstimmungen (wie sie sich zum Beispiel im frühen
Expressionismus oder im Dadaismus zeigen), eine bedenkenlose
oder gewalttätige (und insofern oberflächliche) Bemächtigung, so
ist es in anderen, sagen wir restaurativen Momenten eine
unbedachte und widerstandslose Unterwerfung unter bestimmte als
ein für alle Male vorhanden gedachte Eigenschaften der
Literatur, eine Unterwerfung, die wiederum die Züge von
(allerdings unwillkürlich exorzierter) Gewalttätigkeit gegen die
eigentümliche und nichtreduzierbare Qualität jenes
literaturgeschichtlichen Moments enthält, in dem man sich gerade
selbst befindet.
Diese Charakteristik ist idealtypisch und bezeichnet die beiden
Extreme. Der Normalfall besteht in ihrer einigermassen heillosen
Vermengung, in halbherzigen und inkonsequenten Explorationen in
Richtung sowohl des einen als auch des anderen Extrems, deren
Resultante jenes Grau in Grau malt, das nicht das der
Abstraktion oder Reflexion ist, sondern das eines ubiquitären
Durchschnitts, aus dem wahrscheinlich die Literatur jedes
Zeitalters vor allem besteht.
*
Dass die Vorstellungen, die man von einem
literaturgeschichtlichen Moment hat, in welch geringem Ausmaß
auch immer, diesen Moment mitformen, macht jeden Befund über
einen solchen Moment, wenn nicht selbst zweifelhaft, so doch
seine sprachliche Darstellung, und das gilt um so mehr, wenn die
Vorstellung sich auf den augenblicklichen Stand
literaturgeschichtlicher Dinge beziehen soll. Befunde über
diesen augenblicklichen Stand sind selbst Teil dieses Standes
und schon insofern selbst Literatur. Sie haben damit den Wert
eines Bildes, das zu dem, was es sagen will, bestenfalls in
einer fruchtbaren, erhellenden, nämlich übertragbaren Beziehung
steht. Wie sehr aber eine solche Übertragung einleuchtet, das
hängt von Dingen ab, die eben nicht allein an der sprachlichen
Darstellung jenes Befunds aufweisbar sind.
Dieser Schuss vor den eigenen Bug und vielleicht auch vor den
Bug des Lesers soll nicht die Verbindlichkeit des Befunds selbst
in Frage stellen (denn der Anspruch auf diese Verbindlichkeit
ist Voraussetzung des Unternehmens Literaturkritik), sondern auf
das fragwürdige, nämlich bildhaft-rhetorische Verhältnis
zwischen ihm und seiner Darstellung.
Ich befinde also: heute, in einem vielleicht vor allem
restaurativen Moment, besteht eine der charakteristischen Weisen
jener halbherzigen und auch heillosen Vermischung der Extreme
darin, die Traditionen des jeweiligen Schreibens auf bestimmte
Verfahren, bestimmte Formen des Sprachgebrauchs zu reduzieren.
Diese verkürzende und vereinfachende Form, sich der
Literaturgeschichte zu bemächtigen, bedeutet aber auch eine
unwillkürliche Unterwerfung unter sie, eine Unterwerfung, die
nahelegt, dass die Literaturgeschichte im Grossen und Ganzen
abgeschlossen sei.
Ein solches Schreiben tut einerseits so, als könnte man diese
Verfahren aus den ihnen eigenen, inner- und ausserliterarischen
Zusammenhängen extrahieren und ohne weiteres für sich nutzbar
machen. Es versucht nicht ernstlich, sich die Konsequenzen eines
solchen Gebrauchs unter den eigenen (auch den eigenen
literaturhistorischen) Umständen klarzumachen. Andererseits
unterwirft sich ein solches Schreiben damit selbstverständlich
dem Vertrauten eines bestimmten, traditionellen Begriffs des
Poetischen, ohne den Wert dieses Vertrauens als Wert, den es
selbst setzt, in den Blick zu bekommen.
2
In seinem Gedichtband Falten und Fallen gebraucht Durs Grünbein
eine ganze Reihe traditioneller Verfahren in dem skizzierten
Sinn.
Eine althergebrachtes und wohl jedermann bekanntes Verfahren
(und es ist so heruntergekommen, dass man Anfänger vor ihm
warnt) besteht darin, ein Wort, das etwas sinnlich Wahrnehmbares
bezeichnet, mit Hilfe eines Genetivs (Genitivus explicativus)
mit etwas metaphorisch gleichzusetzen, das normalerweise nichts
sinnlich Wahrnehmbares bezeichnet. So ist in einem von Grünbeins
Gedichten von den Masken des Wissens die Rede, das Wissen,
etwas, das man nicht sinnlich wahrnehmen kann, soll eine Maske
sein, also etwas, das man sehr wohl sinnlich wahrnehmen kann.
In dem Gedichtband findet man auch das Hirngewölbe des
Jahrhunderts, den Panzer der Sprache, das Zischeln der
Polytheismen, die Inseln der Philharmonie, den Schatten des
Eigenen, das Gefälle der Jahre, das Wühlen der Erinnerung, die
Tiefen der Zeit; man findet einen Novizen der Melancholie, das
Arkadien des Unbewussten, den Drachen der Industrie, den Glamour
des Verborgnen usw., usw.
Ganz ähnlich funktionieren bei Grünbein metaphorische Formeln
wie Pizza aus Stunden, Spur von Vergessen, Wald aus Begierden,
Wolken von Hysterie, Flora von Allusionen, die man in Genetiv-
Metaphern des skizzierten Typus verwandeln könnte, ohne ihren
Sinn wesentlich zu verändern.
Jene metaphorische Übertragung von sinnlich Wahrnehmbarem auf
nicht sinnlich Wahrnehmbares findet sich in Grünbeins
Gedichtband auch in anderen grammatikalischen Formen, besonders
häufig dann, wenn von der Zeit die Rede ist: da ist etwas
zeitkrank, da gibt es eine Zeit, die in die innersten Höhlen
geritzt ist, da fliesst Zeit ab, da ist Zeit mit Händen zu
greifen, und da ist Zeit ins Gedächtnis geätzt. Aber auch von
gebunkertem Denken, von verrosteter Illusion ist die Rede, von
einem Echolot ins Verborgene und davon, dass die Reduktion im
Zähneknirschen steckt.
Das Gedicht, in dem die Formel Masken des Wissens vorkommt,
spricht auch von zynischen Uhren: Eine Eigenschaft, die man
normalerweise nur Menschen zuspricht, wird auf leblose Dinge
übertragen. Auch diese poetische Technik des
Anthropomorphisierens ist althergebracht und wohlbekannt, und
auch für sie finden sich in Grünbeins Buch zahlreiche Beispiele:
da bricht den Mauern der Schweiss aus; da ist ein Röcheln im
Ausguss, da gibt es raunende Koffer, ein armes Klavier, die
Umarmung der Erde oder eine Vase, die sich ausschweigt; da wird
von der Sicht des Stuhlbeins geschrieben oder davon, was den
Möbeln die Wette gilt; da erzählt auf dem Bügel die Hose etwas,
da legen die Eingeweide ein Veto ein, da gibt es eine
Tautologie, die in ihr vielfaches "wie gesagt..." verliebt ist,
ein Datum, das einen anglotzt und einen Mond, der die Erde
ironisiert.
Manchmal wachsen sich die Metaphern von Grünbeins Gedichten gar
ins Allegorische aus, nämlich dann, wenn es menschliche
Eigenschaften oder Zustände sind, die sich selbständig machen.
Da gibt es dann dein Lächeln, das mich einfing, da stieg Gewalt
aus brütenden Schächten, und da kann dein Erschrecken auch die
Strassenseite wechseln, womöglich damit der Schmerz wo
unterkriechen kann, vielleicht dort, wo es Blicke gibt, die
anhänglich wurden.
Ich halte fest: auf der Ebene begrifflicher, speziell:
metaphorischer, Operationen wird in Grünbeins Gedichten eine
bestimmte, althergebrachte poetische Maschinerie in Anspruch
genommen.
Doch nirgends lässt sich in den Texten auch nur die Spur eines
Hinweises dafür finden, dass der literaturgeschichtliche Ort
dieser Maschinerie mitbedacht wird. Diese Maschinierie wird so
verwendet, als hätten die letzten hundert Jahre der Geschichte
der Lyrik die Möglichkeiten ihrer Funktion beziehungsweise ihren
Wert nicht wesentlich verändert; so zum Beispiel, als ob man in
Gedichten ohne weiteres eine fundamentale Ebene wörtlichen,
nicht-übertragenen Sprechens behaupten könnte, von der sich dann
eine zweite Ebene aus punktuellen Übertragungen, als sekundäre
selbstverständlich unterscheiden lässt. Grünbein operiert also
mit Metaphern so, dass die gewohnte Vorstellung davon, welche
Ausdrücke metaphorisch gebraucht werden und welche wörtlich,
überhaupt nicht angetastet wird. Und damit auf einer
fundamentalen Ebene, nämlich auf der Ebene seines
Sprachgebrauchs, auch nicht die gewohnte Vorstellung davon, was
als Wirklichkeit vorausgesetzt werden kann. (Ich komme darauf
zurück.)
Grünbein tut also so, als ob man mit ähnlicher Wirksamkeit und
Überzeugungskraft wie etwa Goethe in seinem berühmten Gedicht
Willkommen und Abschied ohne weiteres voraussetzen könnte, dass
die hundert schwarzen Augen, mit denen die Finsternis aus dem
Gesträuche sah, vor dem Hintergrund der wörtlich zu verstehenden
Schilderung eines Geschehens eine Metapher für irgendetwas
anderes seien, in diesem Fall vielleicht dafür, dass das
übervolle Herz eines Liebenden sich so anders anfühlt als die
nächtliche Natur, durch die er auf dem Weg zu seiner Geliebten
reitet, oder eben zugleich andererseits vielleicht doch wiederum
ganz ähnlich.
Kann man aber mit ästhetischem Recht in diesem Punkt so
verfahren, als ob (um mich auf die deutschsprachige Literatur zu
beschränken) weder Trakl oder George, noch Arp oder Schwitters
geschrieben hätten, ohne auch die avantgardistischen oder
modernisten Arbeiten der letzten dreissig Jahren verarbeitet zu
haben? Kann man mit ästhetischem Recht so schreiben, dass eine
der Fragen lyrischen Schreibens der letzten hundert Jahre kaum
eine Spur hinterlässt?
(Ich behaupte übrigens nicht, dass man Genetiv-Metaphern der
zitierten Form oder Metaphern, die Dinge, die nicht wahrnehmbar
sind, anschaulich machen sollen, und dass man
anthropomorphisierende Vergleiche oder Allegorien überhaupt
nicht gebrauchen kann. Ich behaupte nur: so wie sie Grünbein in
diesem Gedichtband gebraucht, sollte man sie nicht gebrauchen.
Gerade die Tatsache, dass etwa die Genetiv-Metapher ein so
klischeehaftes poetisches Mittel ist, könnte als Herausforderung
dazu verstanden werden, ihren Gebrauch dennoch ästhetisch
überzeugend zu machen, ihren Gebrauch zu bewältigen. Dass und
wie das möglich ist, zeigen zum Beispiel Dieter Roths Gedichte.)
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Ein Schriftsteller, der die Extreme seiner Bemächtigung der
Literaturgeschichte und der Unterwerfung unter sie in einer
Weise vermischt, die vor allem das Reden jener Geister
verstärkt, die heute besonders vernehmlich in der Luft liegen
und für eine bezeichnende Atmosphäre sorgen, der ist nicht nur
dazu verurteilt, bestimmte althergebrachte Traditionen der
jeweiligen literarischen Gattung, auf bestimmte Verfahren oder
Formen des Sprachgebrauchs zu reduzieren und damit das Vertraute
eines bestimmten Begriffs des Poetischen blindlings in Anspruch
zu nehmen. Sondern ein solcher Schriftsteller hat auch, wie er,
allen restaurativen Tendenzen zum Trotz, oft zu hören bekommt
oder zu verstehen gibt, auf der Höhe der Zeit zu sein. Wenn er
auch vielleicht nicht gerade Traditionen zu stiften hat, so
haben sich in seiner Literatur doch auch diejenigen Verfahren zu
zeigen, die erst seit vergleichsweise kurzer Zeit existieren,
die in diesem Sinn des Wortes modern oder zeitgenössisch sind.
Da Grünbein nun seine traditionelle, rhetorische Maschinerie
nicht hinreichend als solche begreifen kann und also auch ihren
Wert beziehungsweise ihre Wirkung nicht nüchtern einzuschätzen
vermag, da ihm die Möglichkeit so fern liegt, sie als Zeichen
des Vergangenen oder als Zeichen eines zum Trivialen
Heruntergekommenen, jedenfalls also im Zeichen ihrer Distanz zu
verstehen, kann er sie auch nicht anderen, sagen wir, modernen
oder zeitgenössischen Maschinerien wirksam entgegengesetzen,
kann er den Kampf zwischen verschiedenen, womöglich
widerstrebenden Kräften oder Tendenzen, nicht aufnehmen. Und
also bleibt ihm vielleicht tatsächlich nichts anderes übrig, als
jene traditionelle, rhetorische Maschinerie zu tarnen oder zu
verstecken.
In Grünbeins Gedichten besteht ein wesentliches Moment dieses
Tarnens oder Versteckens darin, dass viele von ihnen mit Wörtern
versetzt sind, die zeitgenössische Alltäglichkeit konnotieren
lassen: Kofferraum, der Lackglanz von Kühlerhauben,
Schweinwerferlicht, Elektronik, Abgaß, Sauna, Baggerseen,
Rostige Rohre, Bulldozer, Abfangjäger usw., usw.
Das ein oder andere Mal geht Grünbein noch einen Schritt weiter,
um seine Gedichte ihrer Zeitgenossenschaft zu versichern. Er
gebraucht dann Wörter, die nicht nur tatsächlich auf die letzten
Jahre oder Jahrfünfte datierbar sind, sondern auch aus der
Umgangssprache stammen, aus subkulturellen Jargons oder der
Sprache der Medien: Dauer-High, Quickie, Zoff, the bungee jump,
CDs, Psychokomfort usw.
So verbinden sich die Metapher, die als Pars pro toto für jene
vertraute poetische Maschinerie steht, und als solche nicht
angetastet wird, weil der übliche Sprachgebrauch für die
Wirklichkeit selbst steht, und die sogenannte moderne Lebenswelt
- in der Literatur kann das nur heissen: eine bestimmte Kulisse
- zu Sätzen, die nur noch des Reimes bedürften, um aus einem
Schlager stammen zu können:
Und immer das Warten auf den Transport
Zwischen den Orten, wo Ankunft
Portal ist im Regen, ein weisser Flugplatz
Der sofort Abschied meint (...)
Ankunft ist ein Portal im Regen und der weisse Flugplatz meint
Abschied. Oder, noch näher zu allzu bekannter Schlager- oder
Chanson-Sentimentalität, das schon zitierte: Der Mond ironisiert
schweigend die Erde, ein gelber Clown...(Und wäre das nicht
tatsächlich das brauchbare Element einer Definition von
Schlagertexten: traditionelle poetische Verfahren werden aus
ihrer Geschichte beziehungsweise ihrem Kontext extrahiert und in
den Kulissen zeitgenössischer Lebenswelt verborgen, die für die
Wirklichkeit selbst genommen werden?)
Genauso unreflektiert wie sich Grünbein auf das Gefühl der
Vertrautheit verlässt, das durch jene traditionelle poetische
Maschinerie hervorgerufen wird, verlässt er sich nicht nur
darauf, dass die Wörter, die er dazu benützt, um das, was er als
zeitgenössische Realität voraussetzt, zu bezeichnen,
Zeitgenossenschaft oder Modernität garantieren, sondern auch
darauf, dass diese Wörter tatsächlich jene vorausgesetzte
Realität so, wie sie angeblich ist, erfahren lassen. Und dieser
Mangel an Reflexion, dieses blinde Vertrauen ist ja auch nur
konsequent: Der Glaube an die Möglichkeit einer
selbstverständlichen Unterscheidung zwischen wörtlicher und
übertragener Rede zieht den Glauben an die Möglichkeit nach
sich, dass die nach allgtäglichem Masstab wörtliche Rede über
zeitgenössische Realität oder Wirklichkeit, diese tatsächlich
erfahren lässt. So als ob die Tatsache, dass die Sprache
literarisch gebraucht wird, schon von selbst garantieren könnte,
dass das, was in diesen Gedichten gesagt wird, in ihnen auch
getan wird. Wenn an dem Aphorismus etwas Wahres ist, dass nicht
nur die Geschichte ein Alptraum ist, aus dem wir zu erwachen
suchen, sondern auch die Literaturgeschichte, dann ist die
selbstverständliche Unterscheidung zwischen wörtlicher und
übertragener Rede im Zusammenhang mit dem Glauben daran, die
Tatsache, dass Sprache beansprucht, literarisch gebraucht zu
werden, enthalte schon, dass das wörtlich Benannte auch erfahren
wird, die beste Garantie dafür, dass man sein Erwachen hier nur
träumen kann, dass dieses Erwachen nur die Fortsetzung des
(Alp)Träumens ist.
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Doch auch Grünbein weiss, dass, was er als zeitgenössische
Alltäglichkeit voraussetzt und in ihrer Begrifflichkeit nicht zu
reflektieren vermag, dazu führen könnte, die Texte, in denen
diese Alltäglichkeit als Garant für Modernität oder
Zeitgenossenschaft evoziert wird, selbst für alltäglich zu
halten: für flach, für vordergründig-realistisch oder
oberflächlich-deskriptiv. Und da ihm sowohl sein Gebrauch von
Elementen einer traditionellen poetischen Maschinerie unterläuft
als auch (und im Zusammenhang damit) sein Begriff von Realität,
da er beides nicht hinreichend zu durchdringen versteht, ist er
wiederum dazu verurteilt, die Auseinandersetzung mit anderen,
widerstrebenden Kräften nicht ernstlich aufnehmen zu können. Ihm
bleibt nichts anderes übrig, als dem anscheinend Flachen und
vordergründig Realistischen durch einen anderen Aspekt seines
Rückgriffs auf traditionelle poetische Verfahren den Anschein
von Tiefe und Bedeutsamkeit zu verleihen.
Dieser Aspekt von Grünbeins unreflektiertem Traditionalismus
besteht darin, dass er eine überkommene, aber vor allem auch
übernommene Gestik bzw. Satzrhetorik beansprucht, eine Gestik
oder Satz-Rhetorik, in der er bestimmte vergangene Epochen oder
auch Schriftsteller anklingen lässt, eine Gestik oder Satz-
Rhetorik, die jene Realien von einem Strom des weihevoll
Stilisierten getragen erscheinen lässt:
Sieh, wie oft du zurückzuckst, gespiegelt
Im Lackglanz von Kühlerhauben,
In metallischen Sonnenbrillen, dir selbst
Widerfahrend in einer Drehtür, (...)
Diese Form der Anrede, mit der eine Reihe seiner Gedichte
beginnt, hat etwas Feierliches, Zeremonielles und
Distanzierendes, aber zugleich ist sie dennoch eine intime Form
der Anrede. Sie ist monologisch, eine Form der Selbst-Anrede,
eine Zwiesprache mit sich selbst, und auch einigermassen
pathetisch inszenierte Selbstvergewisserung. Bei Grünbein
scheint sie, auch dazu dienen zu sollen, bestimmte Erinnerungen
zu vergegenwärtigen:
Mannsdicke Rohre, in die du als Kind Dich
Im Versteckspiel verkrochst.
Eine ähnliche Rolle spielt in Grünbeins Gedichten auch die
rhetorische Frage, die häufig am Anfang seiner Gedichte steht
und ähnlich zeremoniell und feierlich ist wie jene Du-Anrede:
Wer hätte gedacht, dass es so einfach ist, schliesslich?
- Oder:
Wussten wir, was den Reigen in Gang hält?
Während die rhetorischen Auftaktfragen als romantisches,
subjektiviertes Echo jener in barocken Gedichten erscheinen
mögen (Was ist die Lust der Welt? - Hofmann von Hofmannswaldau),
lässt eine Aufforderung wie Sieh, wie oft du zurückzuckst,
gespiegelt überhaupt die halbe Literaturgeschichte anklingen,
bis in die jüngere Vergangenheit herauf, bis zu Georges
berühmtem Gedichtanfang Komm in den totgesagten Park und schau,
und noch weiter herauf, bis zu bestimmten Tonfällen der Dichtung
der fünfziger Jahre, insbesondere jenen in Gedichten Ingeborg
Bachmanns oder Gottfried Benns. (Dessen Einfluss ist noch in
manchen anderen Hinsichten fühlbar. Ich komme darauf zurück.)
Am deutlichsten erinnert die Satz-Gestik vieler Gedichte
Grünbeins aber an den Ton von Rilkes Duineser Elegien (der sich
ja seinerseits schon in vielerlei Beziehung Hölderlins Elegien
und Hymnen verdankt), etwa an Rilkes
Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl. Es muteten manche
Sterne dir zu, dass du sie spürtest (...)
Eine ganze Reihe seiner Gedichte wirken geradezu wie ein
Palimpsest des Rilkeschen Hymnen- oder Prophetentons. Es ist
aber - und das ist der entscheidende Punkt - eine subkutane,
unausgetragene Feierlichkeit, gleichsam ein untergründiger
Sound, der vergeblich versucht, die Trivialität des
Deskriptiven, aber auch der eingestreuten Reflexionen oder
Philosopheme zu konterkarieren. So auch in dem Gedicht Falten
und Fallen, das dem Band den Titel gibt:
Leute mit besseren Nerven als jedes Tier, flüchtiger, unbewusster
Waren sie's endlich gewohnt, den Tag zu erlegen. Die Pizza
Aus Stunden aßen sie häppchenweise, meist kühl, und nebenbei
Hörten sie plappernd CDs oder fönten das Meerschwein,
Schrieben noch Briefe und gingen am Bildschirm auf Virusjagd.
(...)
Manchmal wirkt die unvermittelte Kollision des Hymnisch-
Prophetischen, des Pontifikalen (Brecht) mit dem Trivialen und
dem zeitgenössisch-Alltäglichen geradezu unfreiwillig komisch,
etwa in dieser Prophetie der Empfindung von Hitze und
Schweissfluss als Wirkung schneller oder panischer Bewegung:
Auch der kälteste Raum wird zur Sauna,
Solange du irrläufst (...)
Oder auch in dieser Passage, in der nicht nur die Duineser
Elegien zu hören sind, sondern die, in ihrem Häufen von Nomina,
zugleich auch eine Mimikry von Bennschen Manierismen darstellt:
Stumpf, wie der Blick durch mehrere Autofenster in Richtung
Stau, reibt sich im Unbewussten Gemurmel, der tägliche
Durchschnitt an Panik, Erleuchtung und Apropos...Egos eigenstes UKW.
In hymnischem und prophetischem Ton über Bulldozer oder
Autoreifen oder über mannsdicke Rohre zu sprechen, über Staus
und UKW, das könnte parodistischen Wert annehmen. Aber bei
Grünbein wird das unwillkürlich zu einer Art
Verschleierungsmanöver, das die Aura von Bedeutsamkeit
hervorzurufen soll. Und sein von manchen Rezensenten so
hochgelobtes Talent besteht vor allem darin, um jener Aura
willen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit,
Geschicklichkeit und Geschmeidigkeit Tonfälle, Gesten, lyrische
Sprechweisen nachzuahmen, und sie, um im Jargon seiner Gedichte
zu sprechen, zu mixen.
Sowohl zu diesem gestohlenen oder geliehenen Pathos, dieser
aufgesetzten Feierlichkeit als auch zu Grünbeins traditionellem
Begriff des Metaphorischen passen auf lexikalischen Ebene die
häufigen Bezeugungen humanistischer Bildung oder Gelehrsamkeit:
Da gibt es jede Menge von Mythologemen wie Orpheus, die Parzen,
den Sänger von Theben, die stygische Spülung und, unter dem
beziehungsvollen Titel Nach den Fragmenten, Lesbias Käfig und
Aphrodites Geleitzug. Natürlich dürfen auch weder Odysseus noch
Sisyphos fehlen.
Und da gibt es auch lateinische Gedichttitel wie Homo sapiens
correctus oder Damnatio memoriae oder In utero; da werden
Philosophennamen genannt wie Aristoteles, Descartes, der
Hedonist Hegesias, der Sophist Claudius Aelianus, da wird von
Pythagoras' Schweigen oder von Zenons Pfeil gesprochen, und
schon das Motto des Buchs ist ein Satz Wittgensteins aus Über
Gewissheit und das Motto eines Gedichts ein Satz Immanuel Kants.
Dazu kommt noch eine Reihe von mehr oder weniger gut versteckten
Zitaten oder auch von Anspielungen auf Bildungstopoi, aber auch
von Fremdwörtern und Einsprengseln in fremden Sprachen
(englisch, italienisch, französisch). (Auch das ist ja schon bei
Benn ein manchmal aufdringliches Zeichen angeblicher
Weltläufigkeit.)
All das verdankt sich Grünbeins Bemühen, der in Anspruch
genommenen Alltäglichkeit den Anschein der ganzen Tiefe des
abendländischen Bildungsraums zu geben. Es ist wohl eine Art
Ulysses- oder Waste-Land-Effekt, den Grünbein zu erzeugen sucht.
Doch abgesehen davon, dass humanistische Bildung vor achtzig
Jahren etwas ganz anderes war, als sie heute ist (nämlich ein
viel selbstverständlicheres Mittel), haben diese Topoi in seinen
Texten, anders als in den Werken von Joyce und Eliot, keinerlei
nachvollziehbare strukturierende Funktion.
So bezeichnen sie nur die in diesem Fall ästhetisch scheiternden
Versuche, abendländische Tradition oder Geschichte im
Zeitgenössischen zu finden oder herzustellen. So wie Grünbein
über dies Topoi verfügt, sind sie vor allem Dekoration oder
Ornament, und, natürlich, ein wenig auch Angeberei oder
Einschüchterungsmittel.
5
Auf der einen Seite das In-Anspruch-Nehmen einer bestimmten
traditionellen poetischen Maschinerie, sowohl, was den Begriff
und den Gebrauch metaphorischer Operationen, als auch, was
bestimmte Momente der Satzrhetorik oder der Satz-Gestik angeht,
und dazu der massive Einsatz humanistischer Bildungstopoi.
Stünde auf der anderen Seite nur das vertraute Lexikon des
modernen Alltags, dann würde das nicht ausreichen, um den
Anschein eines Gleichgewichts zwischen dem Gegenwärtigen oder
Modernen und dem Überbrachten oder Traditionellen herzustellen.
Also gibt es bei bei Grünbein noch einige andere, wenn nicht
ausschliesslich zeitgenössische, so doch vorgeblich moderne
Gegengewichte. Auf lexikalischer Ebene das auffälligste: der
geradezu exzessive Gebrauch von Termini, die aus
wissenschaftlichen Fachsprachen stammen, insbesonders aus den
Sprachen der Biologie und der Medizin bzw. der Physiologie, dazu
kommen vor allem noch Termini aus den Computer- und
Kommunikationswissenschaften. Und also wimmelt es in seinen
Gedichten von Wörtern wie Hormone, Serotonin, Hygiene, Brownsche
Bewegung, Elektroden, Formaldehyd, Stetoskop, Magnetfeld,
Biotop, Liquor, Teleskop, Nebelkammern, Diagramm, Silicium,
Skinner-Box, EEG, IQ, Aphasie, Endlosschleifen usw., usw.
Der Gebrauch wissenschaftlicher Termini in Gedichten ist
spätestens seit dem frühen Benn, ein angeblich bewährtes
Verfahren, das Poetische vom altmodischen Kopf auf moderne Füsse
zu stellen. Eine Wirkung dieses Verfahrens soll darin bestehen,
eine ironische, kühle Haltung zu bezeugen; die Haltung des
Desillusionierten, der sich die sprachlichen Elemente einer
Naturwissenschaft vorsagt, um sich oder anderen einerseits den
Idealismus auszutreiben und andererseits (als einen Angelpunkt
dieses Idealismus) das Subjekt. Es ist eine Haltung, die (was
den deutschen Sprachraum betrifft) vielleicht in Heines
ironischer Auseinandersetzung mit der Romantik präformiert ist,
ja überhaupt in der nachromantischen Reaktion auf die Romantik;
eine Haltung, die sich dann in all die Ernüchterungs- und
Desillusionierungsräusche (wie man paradoxerweise sagen kann)
der Moderne weiterentwicklt hat, und so gegensätzliche Formen
wie naturalistische und dadaistische angenommen hat. Es ist eine
Haltung, die ihre Spuren in vielen bedeutenden Dichtungen dieses
Jahrhunderts hinterlassen hat, ob nun etwa in dem schonungslosen
Verismus der Werke Arno Schmidts, der analytischen Vivisektion
des Schöngeistigen bei Robert Musil oder aber etwa in den
Versuchen, die Sprache dabei zu ertappen, wie sie aus dem, was
ein Tropfen Sprachlehre sein könnte, Wolken aus Metaphysik
macht, also in den Werken einer sprach- bzw. metaphysikkritschen
Tradition, wie sie sich etwa in den Texten der Dichter der
Wiener Gruppe zeigt. Es ist eine Haltung, die wahrscheinlich den
grössten Teil der zeitgenössischen Literatur wesentlich
mitbestimmt, die sogar eine womöglich allzu selbstverständliche
ästhetische Grundlage vieler zeitgenössischer Werke darstellt,
wie sich in dem häufig unreflektierten Ressentiment gegen das
Pathetische, das Erhabene und das Sublime zeigt.
Auch Grünbeins Gedichte haben an jener Haltung Teil, auch sie
sind Ausdruck einer (natürlich an und für sich legitimen)
speculation á la baisse, wie Musil sie nennt. Die falsche
Selbstverständlichkeit dieser Spekulation in Grünbeins Gedichten
zeigt sich darin, dass sie im Widerspruch zu anderern ihrer Züge
steht (etwa zu ihrer subkutanen Feierlichkeit), diese
Widersprüchlichkeit aber nicht als solche erkannt wird und
deshalb nicht ausgetragen. Es ist eine speculation á la baisse,
die bei Grünbein den paradoxen Pferdefuss hat, von einem sehr
hohen und unbehelligten Ross aus ausgesprochen zu werden,
tatsächlich von einer Art Pegasus aus, von einem unbehelligten,
Souveränität beanspruchenden Subjekt, dessen Vivisezieren,
Desillusionieren viel weniger gezeigt als behauptet wird, viel
mehr Attitüde als Methode ist, und insofern selbst etwas
Rauschhaftes hat und vielleicht für manche auch deshalb
hypnotische Wirkung. (Ich komme darauf zurück.)
Grünbein jedenfalls scheint dem Gebrauch wissenschaftlicher
Termini in Gedichten noch immer ohne weiteres die Funktion
zuzutrauen, die Wirkung des Zeitgenössischen oder Modernen
hervorzurufen und vielleicht des skandalös Anti-Poetischen,
Prosaischen oder Ernüchternden. Und so heisst eines seiner
Gedichte Im Museum der Mißbildungen, und dieses Gedicht ist
tatsächlich eine Beschreibung, wie es im Gedicht selbst heisst,
im Licht der Medizin, eine Aufzählung von Monströsitäten:
Aus einem Kasten schielt ein Zwilling, siamesisch,
Daneben ein verwachsenees Lämmerpaar, ganz Agnus Dei.
Um einen marinierten Stierkopf samt Tumor im Glas
Spinnweben, eine tote Spinne und auf Vorrat Fliegen (...)
Unversehens ist die Poesie des Anti-Poetischen in unverhüllte
Stoffhuberei umgeschlagen, in das im Zusammenhang von Dichtung
nicht gerechtfertigte, naive Vertrauen auf starke, in diesem
Fall wahrscheinlich starken Abscheu erweckende Reize, auf die
angeblich direkte Wiedergabe des Schrecklichen oder
Entsetzlichen, die nur mit einigen Metaphern ausstaffiert wird
und durch eine Art Reflexion in Form einer halb pathetischen,
halb ironischen Frage eingerahmt - Aber ein Mensch ohne
Großhirn, wo führt das hin? -, einer Frage, mit der das Gedicht
beginnt und mit der es auch endet.
Das ist so, wie wenn jemand in einen Fleischerladen, ein
Leichenschauhaus oder eben in ein Monströsitätenkabinett blickt
und sich sagt: Wie poetisch das ist, gerade insofern als es eine
Art Negation jeglicher Poesie ist, und sich dann beeilt, diese
Dinge zu beschreiben, so als ob die Beschreibung solcher Dinge
nicht schon dadurch, dass sie Beschreibung zu sein beansprucht,
alle diese Dinge und die Verhältnisse zu ihnen grundlegend
verändern würde.
Und diese Haltung ist auch nichts anderes als die unverstandene
Kehrseite einer historischen Vorstellung des Poetischen, nämlich
jener von ausserordentlichen, besonders poetischen Gegenständen,
deren als vorgegeben unterstellte Schönheit garantieren soll,
dass auch ihre Darstellung in einem Kunstwerk schön ist.
So scheint sich gerade dieses Gedicht Grünbeins einer Art
Umkehrung jenes Verfahrens zu verdanken, das Edgar Allen Poe in
seinem berühmten Aufsatz Philosophy of Composition entwickelt.
Wenn Poe schreibt: "Welcher ist unter allen melancholischen
Gegenständen nach dem allgemeinen menschlichen Verständnis der
melancholischste?", und sich antwortet: der Tod, und sich dann
fragt: "Und wann ist dieser melancholischste Gegenstand am
dichterischsten?", und sich darauf antwortet: "Wenn er sich aufs
Innigste mit der Schönheit verbindet", dann sagt sich auch
Grünbein (aber ich fürchte, ohne die Poesche Ironie), dass der
Tod unter allen melancholischen Gegenständen der
melancholischste ist, aber auf die Frage, wann dieser
melancholischste Gegenstand am dichterischsten sei, scheint er
sich eine andere Antwort zu geben, nämlich: wenn er sich aufs
innigste mit dem nach allgemein menschlichen Verständnis
Abstossendsten verbindet. Und also schliesst er messerscharf
darauf, dass nicht, wie bei Poe, der Tod einer schönen Frau der
dichterischste Gegenstand sei, sondern eben das Museum
menschlicher Mißbildungen. (Und etwas von dieser simplen
Umkehrung eines alten und allzu simplen Rezepts durchweht eine
Reihe von Grünbeins Gedichten.)
Zugleich und im Zusammenhang mit diesem Desillusionismus und
dieser Stoffhuberei hat Grünbeins Einsatz wissenschaftlicher
Termini noch einen anderen Aspekt. Sie sollen bezeugen, dass man
die Dinge, so wie sie sind, scharf und unbestechlich beobachtet
und diese Beobachtungen genau und nüchtern wiedergibt. Diese
Termini sollen Präzision suggerieren (das kann allerdings nur
gelingen, wenn man einen allzu äusserlichen Begriff davon hat,
was Präzision in der Wissenschaft tatsächlich bedeutet), genaues
und sachliches Umgehen mit den seelischen oder körperlichen
Erscheinungen, mit dem für Grünbein offenbar
selbstverständlichen Resultat ihrer Reduktion auf das
Mechanische oder Maschinenhafte.
Und es ist sehr bezeichnend für die künstlerische Schwäche von
Grünbeins Gedichten, dass diese Vorstellung des Maschinenhaften
sich nirgends in der Art und Weise zeigt, wie gedichtet wird,
dass diese Vorstellung nirgends in der oder durch die Sprache
der Dichtung selbst heraufbeschworen wird, sondern dass es
einzig und allein der Jargon bestimmter Elemente der
Beschreibung von Maschinenhaftem ist, der in diese Gedichte
eindringt, während sie selbst so geschrieben sind, als läge es
ganz fern, die Idee des Maschinenhaften auf die Sprache und auf
die Dichtung selbst zu übertragen. Das Arbeiten der Sprache
selbst, zum Beispiel das Arbeiten der metaphorisch-begrifflichen
Maschinerie, die Grünbein so selbstverständlich in Anspruch
nimmt, das diesbezüglich determinierte Produzieren von Sinn
liegt ausserhalb des Blickfelds, welches die Gedichte Grünbeins
zeigen.
So also bleibt die Idee des Maschinenhaften bei Grünbein ganz
äusserlich, ja dekorativ. Durch die folgenlose Weise, in der das
Maschinenartige als Thema oder als Stoff vorkommt, nimmt er
dieser Idee allen Ernst und jegliche Überzeugungskraft. Ob man
sich selbst oder andere oder die ganze Welt mit einer Blume,
einem Engel oder mit einer Maschine vergleicht, das macht doch
in einem Gedicht keinen wesentlichen Unterschied, solange nicht
jeder dieser Vergleiche auch Folgen für die nicht-referentiellen
Aspekte der Sprache hat, also für den Klang und das
Schriftliche, aber auch für die Grammatik und die Behandlung des
Bereichs der Bedeutungen!
*
Die traditionelle Metaphorik, die den selbstverständlich
vorausgesetzten Unterschied zwischen eigentlicher und
übertragener Bedeutung nicht anzweifelt, der feierlich-hymnische
Duktus und das wissenschaftliche Vokabular als angebliches
Instrument angeblicher Genauigkeit und Nüchternheit führen dann
zwangsläufig zu einer grauenvollen und für Grünbeins Gedichte so
bezeichnenden Mischung aus Allegorisierung und Neurologisierung:
Wach unterm Sprechzwang rekelt sich Aphasie. (...)
Da Grünbeins Anleihen an die Sprache der Wissenschaft nicht von
seinem Bemühen zu trennen ist, up to date zu sein, kann oder
will er auch nicht auf populärwissenschaftliche Modebegriffe wie
Fraktal oder Code verzichten. Und also kommen in seinen
Gedichten auch solche Blüten eines szientistischen Lyrismus
zustande:
Jeder Tag brachte, am Abend berechnet, ein anderes Diagramm
fraktaler Gelassenheit. (...)
Oder es kommt, wiederum in deutlichem Anklang an Rilke, zu
dieser Formel:
Totcodiert der enorme Raum. (...)
In solchen Formeln packt, kann man Walter Benjamin
paraphrasierend sagen, nicht die Ewigkeit die Mode beim Genick,
sondern vor allem die Mode die Mode. (Ja, auch alle Mode will
Ewigkeit.)
Nimmt man nun die Ingredienzien Feierlichkeit, lexikalische
Bezeugung humanistischer Bildung und die naturwissenschaftlichen
Termini zusammen, dann entsteht daraus eine Mixtur, die auch für
den späteren, nach-expressionistischen Benn charakteristisch ist
(und auch schon bei Benn zu zweifelhaften lyrischen Blüten
geführt hat, etwa zu den Blutgerinnsel des zwanzigsten
Jahrhunderts, Grünbein spricht einmal vom alten Hirngewölbe des
Jahrhunderts). So heisst es denn auch bei Grünbein, in sehr an
Benn erinnernder assonierender und alliterierender Häufung von
Nomina:
...Rosen...Kondome...Sappho...Serotonin. (...)
Und in dieser Aufzählung zeigt sich noch ein anderes Moment von
Grünbeins Gebrauch moderner Verfahren (eines modernen Rezepts):
Es ist jenes des assoziativen Aufzählens. Dinge, die nach
alltäglichen Begriffen keine oder wenig Verbindung miteinander
haben, werden nebeneinander gesetzt, und häufig wird die
Verschiedenartigkeit der nebeneinandergesetzten Dinge durch
das Assonieren oder Alliterieren der Wörter zugedeckt, sozusagen
unter eine Decke gesteckt:
Cattleya, Cannabis, Clit...mit den Wurzeln nach oben
Saugt ein Wort (...)
- Oder, ohne jene auffälligen klanglichen Ähnlichkeiten:
Es regierte die Dürre, ein Prozess aus gekreuzten Rassen,
Elektronik und der Diät einer Tautologie, verliebt in ihr
vielfaches "Wie gesagt..." (...)
Dieses Rezept ist nicht zufällig mittlerweile das
allervertrauteste und allergewöhnlichste. Was vor hundert
Jahren, vor Surrealismus, Dadaismus, experimenteller Literatur
eine womöglich erkenntnistiftende Überraschung war - alle die
Lautreamontschen Kollisionen von Nähmaschinen und Regenschirmen
auf Operationstischen - das ist inzwischen zu einer poetischen
Lizenz geworden, die beinahe jedermann und beinahe gedanken- und
widerstandslos für sich beansprucht. Eine Lizenz, die natürlich
das ideale Mittel ist, um den Verdacht zu zerstreuen, dass es an
notwendigen Verbindungen zwischen den Elementen eines
literarischen Texts mangelt. Ob als angebliche Wiedergabe
inneren Monologisierens, ob als Inventar, als Registration von
Dingen oder Ideen, oder als Montage vorgefundener, gegeneinander
gestellter Zitate: die Assimilation dieses Prinzips bereitet
zumeist (und auch in Grünbeins Gedichten) keine fruchtbaren
Schwierigkeiten mehr.
Um es fruchtbar gebrauchen zu können, müsste die Geschichte
dieses Prinzips präsent sein, seine inneren
Widersprüchlichkeiten und seine Konsequenzen verarbeitet. Im
Zusammenhang von Grünbeins Gedichten jedenfalls haben
Konstellationen wie von Nähmaschinen und Regenschirmen auf
Operationstischen in etwa die Wirkung eines geschickten
Schaufensterarragements, in dem diejenigen, die die Geschichte
einer Kunst tatsächlich verarbeitet haben, die späte Anwendung
einstmals revolutionärer Konfrontationen erkennen können,
während die anderen glauben, etwas Neues und Kühnes und zugleich
Hübsches oder sogar Schickes geniessen zu dürfen.
Die derjenigen des Assoziativen ähnliche Verwandlung eines
modernistischen Stilmittels ins, wenn nicht Dekorative, so doch
ins Unverbindliche zeigt auch Grünbeins Umgang sowohl mit dem,
was in der Verslehre freier Rhythmus genannt wird, als auch (und
im Zusammenhang damit) mit der Zeile als rhythmisch-metrischer
Einheit.
Während manche der vergleichsweise kurzzeiligen Gedichte, wie
diejenigen, die unter dem Titel Variation auf kein Thema
gesammelt sind, tatsächlich noch so etwas wie einen rhythmisch-
metrisch fühlbare Ordnung zeigen, die durch das Wechselspiel
zwischen Enjambement und der Übereinstimmung zwischen Satz- und
Zeilenende so etwas wie rhythmisch variantenreiche Eleganz
verwirklichen (deren Wert allerdings wiederum vor allem
dekorativ ist), so wird in vielen längeren Gedichten Grünbeins
(manche ziehen sich über mehrere Seiten) dieses Mittel zu einer
nicht nur funktionslosen, sondern auch wirkungslosen und also
leeren Konvention. Wie in so vielen zeitgenössischen Gedichten,
die nicht darauf schliessen lassen, dass ihre Verfasser
begreifen, dass die Freiheit vom Metrum und damit von dem Fall
und der Anzahl von Silben pro Zeile aus einer bestimmten
Notwendigkeit zu stammen hat, die womöglich Kompensation durch
andere Ordnungsschemata verlangt, ist da überhaupt nicht mehr
einzusehen, warum die Zeilen gebrochen werden und noch viel
weniger, warum sie dort gebrochen werden, wo sie gebrochen
werden. Auch Grünbein gibt der Verführung zur Formlosigkeit, von
der Brecht in diesem Zusammenhang spricht, ohne nennenswerten
Widerstand nach.
Und es scheint mir sehr bezeichnend zu sein, dass Grünbein das
rein Konventionelle seiner modernen Behandlung von Metrum,
Ryhthmus und Zeile wiederum durch eine andere Konvention
aufzuwiegen sucht, die ihrerseits genauso leer und äusserlich
bleibt: Obwohl das heute gar nicht mehr selbstverständlich ist
und also als ein bedeutungsvolles Zeichen ins Gewicht fallen
sollte, beginnt in Grünbeins Gedichten jedes Wort am Anfang
einer Zeile mit einem Grossbuchstaben, so als ob dieses
Hervorheben des Zeilenanfangs dessen Zufälligkeit verdecken
können sollte.
Vielleicht aber deutet gerade diese mangelnde Funktionalisierung
der spezifisch lyrischen Mittel, im Zusammenhang sowohl mit den
Deskriptiven als auch mit den reflexiven Ansprüchen von
Grünbeins Texten, auf bestimmte literarische Möglichkeiten hin,
die Grünbein dann nützen könnte, wenn er seine Texte aus den
Traditionen bzw. den Gesetzen lyrischen Sprechens befreien und
im Rahmen der Traditionen bzw. Gesetze einer Prosa zu entfalten
versuchte. Es mag sehr gut sein, dass das, was innerhalb der
literarischen Form Gedicht sowohl so wenig überzeugend
Wiedergabe von Beobachtungen zu sein beansprucht als auch genau
so wenig überzeugend als Analyse, Vivisektion auftritt, ja
schliesslich auch das, was Verbindungen zu philosophischen,
wissenschaftlichen oder anderen kulturellen Topoi zu ziehen
unternimmt, innerhalb von prosaischen literarischen Formen eine
andere, höhere Qualität annehmen würde; es mag sein, dass
mögliche und manchmal erahnbare Qualitäten des Grünbeinschen
Schreibens auf dem Stern seiner Prosa einzuleuchten beginnen
könnten.
Dafür sprechen nicht nur jene Passagen in seinen Gedichten,
welche auf die Fähigkeit differenzierter Wiedergabe von
Beobachtungen schliessen lassen, sondern überhaupt Grünbeins
Versuch, Analyse, Reflexion und Beobachtung in seinem Schreiben
zu verbinden.
6
In den Gedichten Grünbeins wimmelt es geradezu vor grossen
Worten wie Sterben, Angst, Freude, Überdruss, Wissen, Lust, Ekel
usw. Diese grossen Worte stehen vielleicht zwischen den
angedeuteten retrospektiven Momenten seiner Gedichte und jenen,
mit denen er versucht, sich des Modernen oder Zeitgenössischen
zu versichern, oder sie bilden die Klammer, die beide Momente
umfassen soll.
Den Wörtern, die in diese Kategorie fallen, merkt man - sieht
man in einigen Fällen von der Rechtschreibung ab - jedenfallls
nicht an, aus welchem der neuhochdeutschen Jahrhunderte sie
stammen. Zudem bezeichnen diese Wörter Begriffe, die wohl zu
jeder Zeit und in vielen Sprachen allgemeines und
selbstverständliches Gut sind. Sie scheinen unendlich
übersetzbar oder paraphrasierbar und damit das für alle
schlechthin Verbindliche und auch Wesentliche zu sein. Gebraucht
man sie in der Literatur, dann können sie als konvertible
Währung erscheinen, die sowohl das Überzeitliche als auch das
Allgemeinmenschliche signalisieren können soll.
Kann aber literarisches Schreiben oder Lesen nicht erst dann
ernsthaft beginnen, wenn man diese Übersetzbarkeit oder
Paraphrasierbarkeit, nicht nur zwischen verschiedenen Sprachen,
sondern auch innerhalb einer einzigen Sprache, zu befragen
beginnt und damit auch den Schluss von dieser Art von
Verbindlichkeit auf das Wesentliche nicht mehr
selbstverständlich zieht?
Grosse Worte nenne ich hier also solche Wörter, die sehr
allgemein bezeichnen, unter die sehr viel Verschiedenes und
Verschiedenartiges fällt. Grosse Worte sind konventionelle
Etiketten, die eine Unzahl von verschiedenen und
verschiedenartigen Phänomenen durch sich zusammenzufassen
beanspruchen. (Was kann unter Liebe oder unter Angst nicht alles
verstanden werden!).
Gerade deshalb haben grosse Worte in der Literatur oder
wenigstens in der lyrischen Dichtung zumeist die Wirkung, mit
dem einzigen Schlag ihres jeweiligen Gebrauchs, allzu viele
Fliegen so zu erschlagen, dass sowohl der Schlag als auch das,
was dabei mit den Fliegen geschieht, unerkennbar bleibt.
Anders: das, was unter diese grossen Worte fällt, fällt zumeist
nicht damit oder dadurch unter sie, dass sie gerade gebraucht
werden, es fällt nicht auf eine dar- oder herstellbare Weise.
Diese grossen Worte, deren Gebrauch in Gedichten so schwierig
ist, lösen zumeist zu viele sinnliche Vorstellungen zugleich
aus, um jede von ihnen auf eine Weise deutlich werden zu lassen,
die sie erfahrbar werden lässt.
So enthält der Gebrauch von grossen Worten unter den meisten
Umständen, dass, was durch diese Wörter evoziert wird, diffus
ist, blass und konturlos. Es hängt damit zusammen, dass diese
Wörter vor allem der Sphäre der Reflexion angehören, einer
Sphäre, deren Evokation in Gedichten nur mit Hilfe diffiziler
Maßnamen möglich ist. Die Ansprüche, die, wie ich glaube, im
Zusammenhang von Gedichten zu Recht gestellt werden, nämlich
auch das dar- oder herzustellen, was man mit einem berühmtem
Philosophen das Leben des Begriffs nennen könnte (wenn mit
diesem Leben auch der Weg zu jenen allgemeinen Begriffen oder
auch der Weg von ihnen weg mitgemeint ist), können durch diese
grossen Worte fast niemals erfüllt werden. (Grundsätzlich anders
liegt der Fall nur dann, wenn man es gerade unternimmt, das
Blasse oder Konturlose selbst dar- oder herzustellen.)
Um etwa in einem Gedicht Wörter wie Leben, Tod, Liebe
überzeugend gebrauchen zu können, bedarf es bestimmter
Vorkehrungen oder auch (literaturhistorischer) Umstände, müssen
diese Wörter in Kontexten vorkommen, die ihren Gebrauch
ästhetisch rechtfertigen. (Eine häufig in Anspruch genommene
Möglichkeit dazu bietet die Figur der Ironie.)
Fast niemals kann man, und fast keiner kann wie August von
Platen in Wer die Schönheit angeschaut mit Augen das allgemein
übliche Wort für den Begriff der Schönheit ernsthaft gebrauchen,
und dennoch dabei Schönheit erzeugen oder, um es platonistisch
auszudrücken, die Idee der Schönheit hinreichend verwirklichen.
Die konventionelle, abgekartete Benennung oder der allgemeine
Begriff sind also zumeist und auch in Grünbeins Gedichten nicht
imstande, die Darstellung zu ersetzen, den Prozess der
Entfaltung dessen, was mit jenen grossen Worten scheinbar so
umstandslos benannt werden soll. In diesem Prozess, dessen
Entfaltung ein Element der Definition von Literatur wäre, wäre
das begriffliche Fixieren nur ein, wenn auch wesentliches
Moment. So wie grosse Worte in Grünbeins Gedichten (aber
keineswegs nur in seinen) gebraucht werden, sind sie Kennzeichen
künstlerischer Schwäche. Gemäss der skizzierten Unfähigkeit, die
übliche Unterscheidung zwischen wörtlicher und übertragener Rede
anzutasten, wird hier das übliche grosse Wort für etwas sowohl
als Garantie dafür genommen, dass dieses Etwas damit dar- oder
hergestellt werden kann als auch dafür, dass mit der
konventionellen Bezeichnung der angenommene Wert, die
angenommene "Grösse", ja jenes Etwas selbst, gegenwärtig und
erfahrbar ist. Die Bedeutungstiefe des Gedichts soll damit
garantiert sein, dass Worte gebraucht werden, die Dinge
bezeichnen sollen, die angeblich alle grundlegend und überall
und jederzeit angehen. Die direkte, konventionelle Benennung
soll die Mühe des Herstellens einer Gestalt ersetzen.
So produziert der bedenkenlose und inflationäre Gebrauch grosser
Worte in Grünbeins Gedichten eine Währung, die durch keine
Realie, kein Gold poetischer Darstellung aufgewogen werden kann.
Wenn Grünbein sowohl die althergebrachte poetische Maschinerie
als auch die Verfahren modernen oder zeitgenösssischen
Schreibens nur scheinbar (und nicht tatsächlich in ihren
Voraussetzungen und Implikationen) zur gleichsam überzeitlichen
Verfügung stehen, dann gilt das genauso für jene grossen Worte.
In Grünbeins Gedichten kommen nicht nur immer wieder die Wörter
Sterben, Panik, Angst, Freude, Überdruss, Zeit, Wissen, Irrsinn,
Lust, Ekel oder Leben, Tod, Liebe vor, sondern auch Affekte,
Schock, Horror, Entsetzen, Glück, Traum, Schlaf, Hass usw; da
ist auch die Rede vom Sinnlosen, vom Unerhörten, das verstört,
vom Unbewusstem, vom Unwirklichen und dem Irrealen. Dieser
bedenkenlose Einsatz so ungeheuerer Summen führt dann zu
zugleich prätentiösen wie hochtrabenden und leeren Formeln:
Das Leben erkaltet, Zeit sich zuerst an Lebendiges hält, die
Verstecke diskreter Leben, die Tage
Gezählt, wird das Leben zum Intervall.
Und gerade der unbedachte Einsatz solcher grossen Worte führt
eben auch zu den notwendig ohnmächtigen Versuchen, das
Allgemeine und Unanschauliche jener grossen Worte durch
Metaphern zu konkretisieren. Die schon erwähnten Masken des
Wissens, aber auch die Formeln Arkadien des Unbewußten oder
reibt sich im Unbewußten Gemurmel sind die sauren Früchte des
Mangels an Reflexion der Bedingungen des eigenen Schreibens,
des Kontexts Gedicht.
7
Auf der einen Seite das unreflektierte Verfügen über eine
bestimmte traditionelle poetische Maschinerie, sowohl, was den
Begriff und den Gebrauch metaphorischer Operationen, als auch,
was bestimmte Momente der Satzrhetorik oder der Satz-Gestik
angeht, in ihrem Nachempfinden anderer literarischer Zeitalter
oder einzelner ihrer Repräsentanten (Rilke, Benn), dazu der
massive Einsatz humanistischer Bildungstopoi, so als ob diese
ohne weiteres zur Verfügung stünden.
Auf der anderen Seite die vertraute Sprache des
zeitgenösssischen Alltags bis in subkulturelle Jargons, aber
auch die unvertrauten, jedoch Modernität signalisierenden,
Termini aus wissenschaftlichen Fachsprachen. Dazu, wenn auch in
gemässigter, allgemein verträglicher Form, die modernistischen
Verfahren der Assoziation, der Juxtaposition von
Verschiedenartigem, zwischen dem Extrem der Registration oder
Aufzählung von Dingen oder Ideen, dem Extrem des inneren
Monologisierens, und dem Extrem der Montage vorgefundener,
gegeneinander gestellter Zitate.
Und schliesslich das, was jene beiden Seiten des Grünbeinschen
Schreibens, die retrospektive und die zeitgenössische im
Innersten zusammenhalten soll, aber doch nur ganz äusserlich
verbindet: die grossen, zeitlosen Wörter, die allgemeinen
Bezeichnungen für die allgemeinen Dinge, für das Leben, Sterben,
Lieben, Hass, Glück usw., usw....
Alles das zusammen bedeutet: Durs Grünbein geht mit seinen
Gedichten aufs Ganze. Ich behaupte: wie jeder, der Literatur
schreibt, aufs Ganze gehen muss, denn dieser Anspruch ist
wenigstens dann im Begriff der Literatur enthalten, wenn man die
Tätigkeit Literatur ernstnimmt.
Wie jedem von uns, der Literatur ernsthaft zu schreiben oder zu
lesen versucht, geht es also auch Grünbein darum, einen
Standpunkt zu gewinnen, von dem aus die verschiedenen Kräfte,
denen wir ausgesetzt sind oder denen wir uns aussetzen,
absehbar, erforschbar, darstellbar oder auch herstellbar gemacht
werden.
Doch die Art und Weise, wie Grünbein die verschiedenen Momente
seines Schreibens auffasst, und die Art und Weise, wie er diese
verschiedenen Momente miteinander zu vermitteln sucht, das ist
es, was ihn, wie ich glaube, in seinem Anspruch scheitern lässt.
Die verschiedenen Aspekte des Grünbeinschen Schreibens, die ich
in dieser Kritik zu skizzieren versucht habe, sollen deutlich
machen, warum die Resultante dieses Schreibens nicht jenes
gesuchte Integral sein kann, jene tatsächliche Verwirklichung
eines Ganzen oder eines pars, das tatsächlich zu Recht pro toto
steht, also dieses Ganze aus sich gleichsam entlässt, es
hervorbringt oder es bedeuten kann.
Grünbeins oberflächlicher und inkosequenter Umgang mit den
verschiedenen Seiten seines Schreibens bringt etwas hervor, das
man bestenfalls als Karikatur oder Parodie jenes Ganzen ansehen
könnte; aus einer tatsächlichen schöpferischen Ermächtigung oder
einer schöpferischen Preisgabe, aus der Möglichkeit objektiver
Dar- oder Herstellung wird etwas, das gerade damit jener
Möglichkeit spottet, dass es ihre Verwirklichung zu sein, so
sehr beansprucht, während es doch diesen Anspruch eklatant
verfehlt.
Statt jenes Ganze tatsächlich zu verwirklichen, statt sich der
eigentlichen poetischen Arbeit zu unterziehen, bringen es
Grünbeins Gedichte nur zu einer Art Vogelperspektive, zu einer
angemaßten Totalen:
Triebwerke, Wolken
Und Passagiere, das alles entzog sich
In Pythagoras' Schweigen. Von den zahllosen Mythen,
Verbrannt, war nur Asche geblieben (...)
Über diesen Wolken, von diesem Dach der Welt aus, scheint die
Freiheit grenzenlos zu sein, aber gerade auch insofern eine Art
Schlager-Text. Unten flutet das Leben, die Jargons ziehen
vorüber, oder wie es bei Grünbein so oft heisst: die Codes;
dort, weit unten, wimmeln die Traditionen, funkelt die Moderne,
leuchten so verschiedenartige Sterne wie das Abendland, die
Steinzeit, die Jahrtausende, der Kosmos selbst, aber auch die
rostige Autotür, die Räderspur im Wegschlamm, der Drahtzaun,
dann aber auch die Wissenschaften, die Philosophie, die Dichtung
und, natürlich, das Leben, das Lieben, das Sterben, der Tod.
So ist da etwas, ein poetisches Ich, das die Attitüde hat, das
sich in der Pose ergeht, all diese so verschiedenartigen Dinge
von oben herab zu einer poetischen Gegenwart und auf eine Fläche
zu bringen und gerade damit das Ganze absehbar zu machen. Es ist
ein poetisches Ich, das über subkulturelle Jargons so wie über
wissenschaftliche Fachtermini verfügt, über morgen- oder
abendländische Jahrhunderte so wie über subkulturelle Jargons,
über philosophische Probleme so wie über die Methoden der
Wissenschaften, über poetische Traditionen und Verfahren so wie
über subkulturelle Jargons und die Methoden der Wissenschaften
und über alles das und noch viel mehr genauso wie über Leben,
Liebe und Tod:
Steinheim, Neandertal, Cro-Magnon, dieser Singsang
Der Gattung...Namen für Hirnschalen,
für Kiefer und Kinnladen, real wie Reste
Versenkt in den Müllgruben Moskaus, den Plastiksäcken
Manhattens (...)
In den Büros und Apartments, das hierarchische Schnarchen,
Das Zischeln der Polytheismen (...)
Es ist ein poetisches Ich, das es unternimmt, alles auf einmal
zu sehen, aus einer Totalen, es ist ein poetisches Ich, das zu
viele verschiedene poetische Lizenzen als zu seiner
selbstverständlichen Verfügung behauptet, und diese Verfügung
als einen Beweis für verwirklichte Totalität missversteht.
Der fundamentale Mangel an tatsächlicher poetischer Kraft zu
einer solchen Verwirklichung macht aus der Anmassung von
Totalität eine Form objektiven Selbst-Betrugs, eine Form einer
für sich selbst undurchsichtigen Prätention.
Und gerade die Tatsache, dass das, was da spricht, seinen
eigenen Anspruch über den Dingen zu schweben, durch die Weise,
in der es spricht, so krass verfehlt, gerade diese Tatsache
bringt es mit sich, dass diese Stimme unversehens bestimmte
seelische und soziale Eigenschaften annimmt; dass dieses
poetische Ich selbst zu einer Figur wird, deren Umriss, also
deren Möglichkeiten und Grenzen, man allzu leicht erahnen kann.
Unversehens verwandelt sich damit der Anspruch, von einem
ausserirdischen Punkt auf das Gewimmel hinunterzusehen, zu einem
Teil des Gewimmels: Die Haltung des Sprechenden und die Gedichte
selbst werden psychologisch, soziologisch, historisch,
ästhetisch allzu mühelos oder widerstandslos einordenbar,
offenbar Kräften unterworfen, deren Wirkung sie nicht
einzuschätzen und einzukalkulieren bzw. darzustellen vermögen.
So sieht und hört man jemanden, dem offenbar viel daran gelegen
ist, um beinahe jeden poetischen Preis den mit Bildung
prunkenden Weltläufigen vorzustellen, genauso wie den über jede
Menge letzter Schreie verfügenden subkulturell geeichten
Grosstadt-Jugendlichen; man sieht und hört auch den blasierten
Dandy, den feinnervigen Eleganten, das antimetaphysische und
postnietzeanische Zünglein einer Nervenwaage, den Abgeklärten,
den Desillusionierten, den kalten oder coolen, manchmal
zynischen Vivisekteur, der, wie er glaubt, grossen Gefühlen oder
den humanistischen Ideen mit den synthetischen Begriffen von
Wissenschaften wie Neurologie, Chemie oder der Computer- und
Kommunikationswissenschaften auf den Grund geht (während er doch
nur eine Stimmung durch eine andere ersetzt); man sieht und hört
auch jemanden, der den Beobachtenden, den Durchschauenden nur
schauspielern kann, weil ihm so viel daran liegt, sich in seinem
Fin de siecle-Blick selbst zu bespiegeln.
Man sieht und hört zugleich, wie sich diese Gedichte, wie sich
ihr poetisches Ich in die Metapher für eine bestimmte, billige
Vorstellung von sogenannter Postmoderne verwandeln, man sieht
und hört die Kräfte eines halbgebildeten Feuilletons am Werk,
das sein Raunen, Unken und Eingeweideschauen, sein Deuten all
der kulturellen Vogelflüge durch etwas bewiesen zu sehen glaubt,
das selbst nichts anderes ist als ein ganz äusserlicher oder
willkürlicher Teil dieses Deutens.
Man sieht und hört aber auch, und als Kehrseite dieser Gebärden
der Distanzierung, des Desillusionierten und des
Desillusionierens in manchen Gedichten Grünbeins peinliche
Sentimentalität; aufdringlich zuweilen in den Gedichten, in
denen Erinnerungen an eine Kindheit oder einen kindlichen
Zustand heraufbeschworen werden sollen, am aufdringlichsten aber
in dem langen, siebenteiligen Liebesgedicht mit dem unsäglich
kalauernden Titel Im Zweieck. Es ist ein Gedicht, das die
Ausstrahlung von Hochglanz-Erotik, schicker Jugend-Kultur, eines
auf das modische, auf das Zeitgeist-Magazin heruntergekommenen
Existentialismus pflegt, veredelt durch preziöse und pretentiöse
Metaphern (die diaphanen Einsamkeiten von Stadt zu Stadt, Regen
war die zerflederte Partitur, auf der sie ausgleitet); es ist
ein Gedicht, das so von dem ersten gemeinsamen Besuch eines
Cafés zu (wie Karl Valentin einmal sagt) allem anderen auch
kommt:
Schneller als sonst wirkten die Drinks, und bald war es bittersüß
Nur von spitzer Berührung, von Worten wie Seitenstechen im Gehn
Auf dem Heimweg (...)
Nachthimmel sanken, Sterne zuhauf. Impfnarben glänzten, entblösst.
Schweigen verbarg Ironie, das Gefälle der Jahre, oben du, unten ich.
Man sieht und hört als eine andere Kehrseite dieser Gebärden der
Distanzierung, des Desillusionierten und des Desillusionierens
auch dann und wann eine (an den Hauptintentionen Grünbeins
gemessen) inkonsequente, aber wohlfeile Gesellschafts- oder
Bewusstseins- oder auch Medienkritik. Auch diese Kritik ist
allzu mondän, allzusehr eine Kritik aus einem Grand Hotel
Abgrund (bei Grünbein ist das allerdings eher die Kritik aus
einer Nobel-Disco Decadence), um überzeugend zu wirken.
Im Schaufenster, Brillen für Liebe,
Für schärferes Fernsehn, Särge
Und Möbel zum schnelleren Wohnen (...)
- Oder:
alles codiert
Wie seit langem im voraus, ein Leben
Auf Abruf, (...)
Grünbeins Gedichte lesend hört und sieht man das alles, und man
beginnt zu begreifen, dass diese Gedichte den, wie ich glaube,
berechtigten, ja notwendigen Anspruch auf das Ganze für die
Suggestion einer Stimmung, eines Lebensgefühls verkaufen, man
begreift, dass diese Gedichte Surrogate sind, wenn man so will,
eine Art Designer-Droge, intelligent und geschickt gemacht
insofern, als sie eine bestimmte Palette von Bedürfnissen
perfekt zu bedienen geeignet sind; man begreift, dass sie
insofern Zeugnis eines Talents sind, als diese Bedürfnisse
natürlich nicht jedermanns Bedürfnisse sind, sondern diejenigen
einer bestimmten Schicht von Literaturinteressierten, und dass
man Grünbein so etwas wie eine, wenn auch ephemere, Form von
Intuition und vor allem eine Form von Professionalität nicht
absprechen kann. Diese Intuition und diese Professionalität
ermöglichen ihm, diese Bedürfnisse so zu bedienen, dass offenbar
vielen seiner Leser die simplen Muster sowohl jener Bedürfnisse
als auch ihrer Befriedigung entgehen.
8
Für diese Rezension habe ich vor allem zwei Motive. Zum einen
ein literarisches: Literaturkritik ist selbst Literatur und auch
Teil meines eigenen literarischen Schreibens, und die kritische
Auseinandersetzung mit Literatur, die man selbst nicht
geschrieben hat, ist mancherlei Hinsicht einfach ein Versuch der
Selbstkorrektur oder auch der Versuch einer ihrem Wert gemässen
Integration bestimmter Kräfte oder Zeit-Geister. (Es ist ja
nicht so, und es soll ja wohl auch nicht sein, dass ich in dem,
was ich als das Scheitern von Grünbeins Gedichten ansehe, nicht
auch mein eigenes Schreiben von Gedichten wiederfinde.)
Das andere Motiv, ich gebe es zu, ist der Zustand des
überwiegenden Teils der deutschsprachigen Literaturkritik, der
sich am Beispiel der Rezeption von Grünbeins Gedichten wieder
einmal offenbart. Nachdem man uns jahrzehntelang treuherzige
Sentenzen, biedere humanistische Aphorismen, korrektes
Politisieren (den braven Stammtisch) oder auch die angeblich
authentische oder genuin subjektive Wiedergabe von Empfindungen
und Gefühlen als bedeutende Gedichte einzureden versucht hat,
ist jetzt, seit einigen Jahren, das Gegenteil wenigstens in
einigem Schwange:
Viele unserer Feuilletonisten oder Literaturprofessoren (häufig
sind sie ja beides in Personalunion) multiplizieren alle diese
Faktoren wieder einmal mit minus 1, gefallen sich im Lob von
amoralisch-verwegenen Sentenzen, von antihumanistischen
Aphorismen, von inkorrektem Politisieren (der wüste Stammtisch),
wertschätzen zugleich das, was sie für artistisches Raffinement
halten und verdinglichen, kurzum: sie favorisieren jetzt statt
den Epigonen Brechts wieder einmal die Epigonen Benns.
Wenn das Dialektik ist oder auch ihre Negation, wie fruchtlos
ist dann beides! Wie sehr bleibt doch der gemeinsame Hintergrund
vor der bewusstlosen Mechanik des Austausches solcher Antithesen
siegreich. Und dieser gemeinsame Hintergrund heisst: mühelose
Abbildbarkeit der Dichtung auf bestimmte Weltanschauungen
beziehungsweise auf deren Darstellungen in den Feuilletons; das
Gedicht als Illustration oder wohlfeile Ergänzung des mehr oder
weniger schöngeistigen gehobenen Journalismus.
Das alles bedeutet, dass jene journalistische Literaturkritik
und ihre Gegenstände sich dazu zu verurteilen, einander so in
die Hände zu spielen, dass sie viel mehr Symptom sind als
Symbol, viel mehr unwillkürlicher Reflex, Luftspiegelung eines
Zeitgeists als dessen tatsächliche Durchdringung, täuschende
Bemächtigung oder illusionäre Unterwerfung: So geht, wie kann es
anders sein, der Alptraum der Literaturgeschichte weiter, und
nicht nur der Alptraum der Literaturgeschichte.
Wie schreibt Brecht 1954 so richtig (aber hätte das nicht auch
Benn schreiben können?): "Unsere Gedichte sind vielfach mehr
oder minder mühsame Versifizierungen von Artikeln oder
Feuilletons oder eine Verkopplung halber Empfindungen, die noch
zu keinem Gedanken geworden sind."