© Franz Josef Czernin
1
In seiner Defence of Poetry erklärt Percy Bysshe Shelley die
Dichter zu den nicht anerkannten Gesetzgebern der Welt. Ich
interpretiere: Nicht an-erkannt wird das Gesetzgeben der Dichter
deshalb, weil es gar nicht erkannt wird, weil es also geheim
bleibt.
Voraussetzend, dass die Sprache der Dichtung zur Welt gehört,
wären die Dichter auch die geheimen Gesetzgeber der Sprache. Sie
wären diejenigen, welche die Regeln aufstellen, denen alle, die
Sprache gebrauchen, folgen, ohne es aber zu bemerken, wenn sie
nicht dichten.
Voraussetzend, dass der Sprache das Gesetz zu geben auch
bedeutet, den anderen Teilen der Welt das Gesetz zu geben, kann
man behaupten: die Ordnung der poetischen Sprache schafft die
Ordnung der Welt.
In einer Attack on Poetry könnte man dagegen erklären: die
Dichter sind die geheimen Gesetzeszerstörer der Welt. Wiederum
voraussetzend, dass die Sprache der Dichtung zur Welt gehört,
wären die Dichter auch die geheimen Zerstörer der Sprache. Sie
wären diejenigen, welche die Regeln zerstören, denen alle, die
Sprache gebrauchen, folgen. Allerdings würden diejenigen, die
Sprache gebrauchen und nicht dichten, gar nicht bemerken, dass
die Regeln ihres Sprechens zerstört werden.
Voraussetzend, dass die Gesetze der Sprache zu zerstören auch
bedeutet, die Gesetze der anderen Teile der Welt zu zerstören,
kann man behaupten: die Unordnung der poetischen Sprache schafft
die Unordnung der Welt.
*
Ein Gesetz zu geben oder es zu zerstören, das wäre, geläufiger
Ansicht zufolge, eine künstliche Aufgabe, also eine Aufgabe, die
nicht einfach vorgefunden, sondern von jemandem oder von etwas
gemacht oder hergestellt wird. Die Lösung einer künstlichen
Aufgabe wäre aber - ich variiere einen Gedanken Kafkas - nur
dann der Mühe wert, wenn es keine natürlichen Aufgaben gäbe,
also keine Aufgaben, die einfach vorgefunden werden und damit
von niemandem oder von nichts gemacht oder hergestellt. Denn
behauptet man, natürliche Aufgaben einfach vorzufinden, dann
findet man auch den Unterschied zwischen natürlichen und
künstlichen Aufgaben vor. Künstliche Aufgaben, die ihrerseits
als natürlichen Aufgaben entgegengesetzt vorgefunden werden,
setzen also den Unterschied zwischen natürlichen und künstlichen
Aufgaben als Vorgefundenes voraus. Insofern beziehen sich
Lösungen für solche künstlichen Aufgaben, um ihrer Begrenztheit
oder Definierbarkeit willen, nicht auf die ganze Welt, sondern
nur auf jenen Teil von ihr, der sich von jemandem oder etwas
machen oder herstellen lässt. Und nach Kafka sind solche
Lösungen für künstliche Aufgaben gerade deshalb nicht der Mühe
wert.
Besteht jedoch die Aufgabe darin, in oder durch die Sprache der
Dichtung der ganzen Welt das Gesetz zu geben oder zu zerstören,
dann wird der Unterschied zwischen einer natürlichen und einer
künstlichen Aufgabe zu einem Aspekt der Gesetze, die gegeben
oder zerstört werden. Denn wenn das Gesetz, das gegeben oder
zerstört wird, alle und alles betrifft (die ganze Welt), dann
ist es nur eine mögliche Auswirkung dieses Gesetzes, den
Unterschied zwischen natürlichen und künstlichen Aufgaben ohne
weiteres als Vorgefundenes zu behaupten. Den Unterschied
zwischen natürlichen und künstlichen Aufgaben kann man nur
innerhalb einer Welt ohne weiteres als Vorgefundenes behaupten,
welcher ihre Gesetze so gegeben oder zerstört werden, dass man
von diesem Geben oder Zerstören nichts bemerkt, innerhalb einer
Welt also, in der das Geben oder Zerstören ihrer Gesetze geheim
bleibt.
*
Das Bild des Dichters als des geheimen Gesetzgebers der Welt und
das dazu antithetische Bild des Dichters als des geheimen
Gesetzeszerstörers der Welt haben eines gemeinsam: der Dichter
wird zu einer Art Schöpfer - bei Shelley bleibt allerdings
offen, ob die Welt ohne die Gesetze, die ihr die Dichtung
verleiht, dennoch existiert - und die Dichtung selbst zu der
absoluten Macht, auf der die Welt beruht. Die Dichtung schafft
oder zerstört diese Welt in wesentlichen Aspekten.
Selbstverständlich gibt sich dieses so romantische Bild sowohl
angesichts dessen, was wir als Wirklichkeit, als auch dessen,
was wir als Sprache zu erfahren glauben, der Lächerlichkeit
preis. Und ein Dichter, der die von Shelley für ihn behaupteten
Attribute des Gesetzgebens tatsächlich anerkannt sehen wollte,
wäre in den Augen der Welt wenigstens so lächerlich wie der
Baudelairsche Albatros, und man müsste auf dem Schiff Welt kein
besonders böswilliger Matrose sein, um ihn zu verhöhnen und zu
verspotten.
Nun spricht aber meine Interpretation von Shelleys berühmtem
Satz nicht zufällig davon, dass das Gesetzgeben des Dichters
geheim sei. Denn gerade weil es geheim sein soll, kann der
Dichter suggerieren - wie wohl auch Baudelaire in seinem
Gedicht -, dass Spott und Hohn der Matrosen ins Leere zielen, da
sie ja eigentlich gar nicht begreifen, wen oder was sie da
verhöhnen und verspotten. (Würden sie das Gesetzgeben oder
Gesetzeszerstören des Dichters anerkennen und also öffentlich
machen, dann würden ihnen Hohn und Spott vergehen.)
Vielleicht aber hat Shelleys Satz noch einen anderen und
fundamentalen Sinn: Vielleicht soll er nicht besagen, es sei
kontingenterweise so, dass das Gesetzgeben der Dichter geheim
ist - dass etwa die Welt kontingenterweise diesbezüglich blind
ist und deshalb das, was ihr das Gesetz gibt, nicht erkennt und
an-erkennt -, sondern, dass jenes Gesetzgeben geheim sei, um
überhaupt stattfinden zu können, dass es also auf dem Schiff
Welt gar nicht öffentlich gemacht werden könne. Vielleicht kann
man dieses Gesetz nicht mitteilen, ausser dann, wenn man es gibt
oder zerstört, wenn man also Dichtung schreibt oder liest, also
eigentlich Dichter ist. In diesem Augenblick aber wird nicht nur
der Unterschied zwischen einer natürlichen und einer künstlichen
Aufgabe zu einem Aspekt des Gesetzgebens oder des
Gesetzeszerstörens, sondern auch jener zwischen dem, was
öffentlich ist, und dem, was geheim ist. Denn auch der
Unterschied zwischen dem Öffentlichen und dem Geheimen könnte
nur dann tatsächlich gemacht werden, wenn Gesetze gerade gegeben
oder zerstört werden. Wird im Sinne meiner Interpretation von
Shelleys Satz nicht gedichtet, dann werden das Öffentliche und
das Geheime wie auch der Unterschied zwischen ihnen genau so als
Gegebenes einfach vorgefunden, wie der Unterschied zwischen
natürlichen und künstlichen Aufgaben dann einfach vorgefunden
wird, wenn nicht gedichtet wird.
Falls es also so sein sollte, dass Shelley behauptet, das
Gesetzgeben der Dichtung werde deshalb nicht anerkannt, weil es
geheim sei, und falls er damit den Unterschied zwischen Geheimem
und Öffentlichem einfach vorfinden würde, fände er dann nicht
auch den Unterschied zwischen künstlichen und natürlichen
Aufgaben einfach vor? Und wenn er den Unterschied zwischen
künstlichen und natürlichen Aufgaben einfach vorfinden würde,
fände er dann nicht sowohl den Unterschied zwischen dem Geben
und dem Zerstören von Gesetzen vor als auch das Geben und das
Zerstören von Gesetzen selbst? Wenn aber Shelley das alles
einfach vorfinden würde, dann spräche er selbst gerade nicht als
Dichter, dann würde er gerade nicht Gesetze geben oder
zerstören, sondern dann würde er, ohne es zu bemerken, Gesetzen
folgen, die von jemand oder von etwas anderem gegeben oder
zerstört werden. Dann spräche er als Matrose, der, ohne zu
wissen, was er dabei tut, den Albatros Dichtung verhöhnt und
verspottet. Seine Defence of Poetry würde unwillkürlich zu einer
Attack on Poetry, aber eben nicht zu einem Angriff auf die
Dichtung, der selbst Dichtung ist und etwa auch die Gesetze
zerstören könnte, die enthalten, dass das Gesetzgeben oder
Gesetzeszerstören von jenen, die nicht dichten, nicht anerkannt
werden kann, nämlich geheim bleiben muss.
Man kann Shelleys Satz aber auch selbst als Dichtung in seinem
Sinn lesen: als gesetzgebend oder gesetzeszerstörend. Dann würde
Shelley, wenn er behauptet, dass das Gesetzgeben der Dichter
nicht anerkannt werde, weil es geheim sei, den Unterschied
zwischen dem Öffentlichen und dem Geheimen machen, doch diese,
seine gesetzgebende oder gesetzeszerstörende Tat zugleich
verbergen, indem er die Rolle dessen spielt, der, insofern er
über die Dichtung spricht, kein Dichter ist und den Unterschied
zwischen dem Geheimen und dem Öffentlichen einfach vorzufinden
behauptet. Er würde sein Gesetzgeben oder Gesetzeszerstören
unter der Tarnkappe dessen unsichtbar machen, der über die
Dichtung so spricht, als würde sein Sprechen über Dichtung kein
Dichten sein. Und damit spräche er auch so über Dichtung, als
wäre sie eine künstliche Aufgabe, die nur fälschlich
beanspruchen kann, natürliche Aufgaben zu lösen. Und täte er
damit nicht auch so, als ob ihn die Matrosen auf dem Schiff Welt
verspotten und verhöhnen könnten, ohne dabei gerade den Gesetzen
zu folgen, welche er selbst durch die Dichtung gibt oder
zerstört?
2
Ob man nun im Sinne Shelleys dichtend der Welt das Gesetz gibt
oder jenes Gesetz zerstört, ob man den Unterschied zwischen
künstlichen und natürlichen Aufgaben macht, genauso wie den
Unterschied zwischen dem Geheimen und dem Öffentlichen, oder ob
man - im Sinne Shelleys nicht-dichtend - jene Unterschiede
zwischen Gesetzgebung und Gesetzeszerstörung, zwischen
künstlichen und natürlichen Aufgaben oder zwischen dem Geheimen
und dem Öffentlichen einfach vorzufinden behauptet: das Spiel
oder der Kampf zwischen den beiden Gliedern jener
Unterscheidungen findet jedenfalls statt. Und gerade die
Versuche, die Frage zu beantworten, in welchem Sinn die Dichtung
Gesetze gibt oder nicht gibt, zerstört oder nicht zerstört,
zeigen das.
Wer kennt nicht den Verdacht gegen die Dichtung, gegen die
Dichter, der in der Behauptung gipfelt: die dichterische Form
der Gesetzgebung ist eigentlich eine Zerstörung der Gesetze.
Es mag damit zu tun haben, dass so häufig ein negativ besetzter
Zusammenhang zwischen dem Begriff der Dichtung und den Begriffen
Rausch, Anarchie, Nihilismus, Irrationalismus und
gesellschaftliche Unverantwortlichkeit geschaffen wird; wie auch
ein negativ besetzter Zusammenhang zwischen diesen Begriffen,
dem Begriff der Dichtung und jenem einer natürlichen (nicht
kultivierbaren) und geheimen (womöglich verbrecherischen)
Aufgabe. Und über diesen negativ besetzten Zusammenhang sind
sich auch so manche einig, deren Weltanschauungen ansonsten
verschieden, ja einander entgegengesetzt sind.
Aber das sind vielleicht nur die plumpsten Matrosen, die es zu
nicht mehr als zu direkten Angriffen, das heisst: zu
Denunziationen, zur Zensur oder zum Verbot von Dichtung oder zur
Verfolgung und Strafe von Dichtern bringen.
Etwas geschickter ist man da schon, wenn man gute Gründe dafür
zu nennen behauptet, warum die Dichtung die Zerstörung von
Gesetzen bedeutet.
Bekanntlich schon Platon schlägt in seinem Staat Sanktionen
gegen die Dichter vor und lässt das Adeimantos so begründen:
"Denn eine neue Art von Musik einzuführen, muss man sich hüten,
weil es das Ganze gefährden heisst; denn nirgend wird an den
Weisen der Musik gerüttelt, ohne dass die wichtigsten Gesetze
des Staates mit erschüttert würden [...]". Eine neue Musik, das
heisst: eine neue Dichtung - Musik und Dichtung waren eine Kunst
im alten Griechenland - könnte also die Gesetze des Staates
zerstören. Und ähnlich wie Shelley davon spricht, dass das
Gesetzgeben der Dichtung nicht anerkannt wird, behauptet Platon,
diese Gesetzeszerstörung finde unmerklich statt, vielleicht also
geheim, und sagt über die Dichtung: "Sie richtet auch nichts an,
als dass sie allmählich sich festsetzt und in aller Stille unter
der Hand sich an die Sitten und Beschäftigungen heranmacht
[...]"
Spricht da aus Platon (ähnlich wie aus jenen, welche die
Dichtung direkt angreifen) nicht auch die Skepsis gegenüber
einer Tätigkeit, die nicht ohne weiteres darauf beschränkt
werden kann, eine künstliche Aufgabe und eine öffentliche
Angelegenheit zu sein? Was soll ein Philosoph, dem es um das
Wohl der menschlichen Gemeinschaft geht, von einer Tätigkeit
halten, die aus sich selbst die Tendenz entwickelt, den
fundamentalen Unterschied zwischen Künstlichem und Natürlichem
wie auch den Unterschied zwischen dem Öffentlichen und dem
Geheimen als Wirkung ihrer selbst begreifbar zu machen und also
als etwas, das auch als Gemachtes verstanden werden kann?
Womöglich kündigt eine solche Tätigkeit überhaupt den
Gesellschaftsvertrag mit der Wirklichkeit (Adorno), jedenfalls
mit der jeweiligen gesellschaftlichen Wirklichkeit, den Vertrag
also mit all jenen Selbstverständlichkeiten, aber auch
Traditionen, deren Anerkennung, wie es scheint, das Leben und
das Überleben einer Gesellschaft ermöglicht.
*
Noch etwas verfänglicher oder geschickter sind die Versuche, aus
jenem Zerstörungsverdacht eine erkenntnistheoretisch begründete
Zurückweisung der Dichtung zu machen. Diese Versuche, welche die
Aura von Analyse und damit auch von Objektivität haben, sollen
die Vorstellung nahelegen, dass die Dichtung eine unbewusste
oder atavistische, jedenfalls voraufgeklärte und damit auch
vorwissenschaftliche oder vortheoretische Tätigkeit sei, die
bestenfalls einen Weg zu den eigentlich erkenntnisfähigen
Tätigkeiten darstelle; dass sie eine natürliche Aufgabe in dem
Sinn sei, in dem vielleicht für die Vögel ihr Singen eine
natürliche Aufgabe ist; eine natürliche Aufgabe, die keine
Gesetze geben oder zerstören könne, weil sie selbst anderen,
natürlichen und damit fundamentalen Gesetzen folge. (Und was
erkennen denn die Vögel, wenn sie singen, von der Welt und auch
von ihrem Gesang?)
Diese Versuche, die Dichtung aus erkenntnistheoretischen Gründen
zurückzuweisen, behaupten, dass die Dichter das potentiell
Theoretische und Wissenschaftliche ihrer Tätigkeit oder auch die
Möglichkeit, aus ihr eine ernstzunehmende künstliche Aufgabe
oder öffentliche Angelegenheit zu machen, nicht anerkennen
würden, ja dass all das für sie selbst, solange sie sich als
Dichter begreifen, geheim bleiben müsse. (So als wäre der
Dichter ein Matrose wider Willen, der, ohne es bemerken zu
können, die Albatrosse Theorie und Wissenschaft verhöhnt und
verspottet, indem er sie, ohne das zu beabsichtigen, nachäfft.)
Doch ist dieses Zurückweisen der Dichtung aus guten
erkenntnistheoretischen Gründen selbst ein altes, ja beinahe
natürliches Lied, und es wurde und wird von vielen gesungen.
Nicht nur wiederum Platon singt es, sondern auch der Hl. Thomas,
wenn er die Dichtung als infirma doctrina bezeichnet, weil sie,
wegen ihres Mangels an Wahrheit, für die menschliche Vernunft
unverständlich sei. Und auch innerhalb einer dem Thomismus so
entgegengesetzten Philosophie wie jener Hegels erscheint die
Dichtung bekanntlich insofern als vorläufiges Stadium auf dem
Weg des Bewusstseins zur Erkenntnis seiner selbst, als in ihr
die Ideen ihr sinnliches Scheinen noch nicht abgestreift haben
sollen. (Und man kann nicht behaupten, dass Hegel das nicht zu
begründen wüsste.).
Und auch heute billigen Erkenntnistheorien der Dichtung in den
seltensten Fällen zu, eine eigene und den theoretischen Formen
von Erkenntnis gleichwertige Erkenntnisform zu sein.
Doch meist zeigt sich das nicht darin, dass man, wie Platon oder
der Hl.Thomas, gegen einen möglichen Erkenntnisanspruch von
Dichtung argumentiert, sondern darin, dass man den
Zeichengebrauch der Dichtung in erkenntnistheoretischem
Zusammenhang gar nicht erst ernsthaft untersucht. Das Lied wird
gesungen, indem man seinen Gegenstand verschweigt. Wenigstens
gilt das für die meisten jener erkenntnistheoretischen
Schriften, die sich nicht ihrerseits durch ihre Schreibweise als
ernstzunehmende Gegner von Dichtung insofern zu disqualifizieren
scheinen, als sie selbst keinen streng theoretischen Gebrauch
von Zeichen machen.
Dass dieses Lied von der erkenntnistheoretischen
Minderwertigkeit der Dichtung schon beinahe so lange gesungen
wird, wie die Philosophie existiert, und dass es noch immer
gesungen wird, ist natürlich kein Argument gegen das, was dieses
Lied gegen die Dichtung vorbringt.
Wäre die Dichtung eine Form der Äusserung, die geeignet dazu
ist, sich durch gute Gründe oder Argumente zu rechtfertigen,
dann würde sie den Spiess vielleicht umdrehen und behaupten,
dass es gerade umgekehrt sei: dass eine Philosophie, die der
Dichtung aus erkenntnistheoretischen Gründen ihre
Unvollkommenheit, etwa ihre Vorwissenschaftlichkeit vorwerfe,
eine noch nicht zu sich selbst gekommene Poesie sei, eine
Poesie, die noch nicht genug von jenen Bedingungen ihrer eigenen
Erscheinung erkenne, welche sich in Form des jeweiligen
theoriegemässen Denkens nur unvollständig oder nur als Bild
wiedergeben lassen. Eine solche Dichtung würde gegen die sie
verkennende Philosophie argumentieren, dass deren Status als
sowohl Übertragenes als auch Übertragendes erst dann erkennbar
wäre, wenn sie sich selbst als eine Form von Dichtung begriffe
und damit das Theoretische ihres Sprachgebrauchs als nur ein,
wenn auch wesentliches, Moment ihrer Erscheinung. Und eine
solche Dichtung würde behaupten, dass eine Philosophie, die das
Theoretische ihres Sprachgebrauchs nicht als ein Moment einer
sie umfassenden Transformation verstünde, selbst zur
Unbewusstheit, zum Atavistischen, ja auch zum
Vorwissenschaftlichen und schliesslich zur Selbst-Zerstörung
verurteilt sei; und sie würde dabei daran erinnern, dass gerade
die Versuche, den Maßstäben des Theoretischen und des
Wissenschaftlichen in der Philosophie rigoros zu folgen, dazu
geführt haben, die meiste Philosophie als unwillkürliche Poesie
zu disqualifizieren, wenn nicht sogar alle Philosophie. So als
ob dann alle Philosophie ihrerseits zwangsläufig zu einem
poetischen Konstrukt würde, zu einem Bild, etwa zu der berühmten
Leiter, die zur reinen wissenschaftlichen Erkenntnis nur
hinführen können soll und die man wegzuwerfen habe, nachdem man
auf ihr hinaufgestiegen sei. (Schöne philosophische, nämlich
Zenonsche Poesie: die Philosophie als die paradoxe Verewigung
jenes unendlich kleinen Zeitraums, da man gerade im Begriff ist,
den Ast, auf dem man sitzt, durchsägt zu haben.)
Nun, es gibt ja einige Beispiele dafür, dass in diesem Sinn,
wenn vielleicht auch nicht gerade in Form von guten Gründen,
Behauptungen gemacht werden. Novalis nennt die Poesie einmal die
Philosophie der Philosophie, Nietzsche behauptet in einem
berühmten Wort, die Wahrheit sei nichts als ein bewegliches Heer
von Metaphern, und manche heutigen Philosophen, wie etwa Jacques
Derrida, sprechen ihm das auf ihre Weise nach.
Doch gerade wenn etwa Nietzsche Recht hat, wie steht es dann mit
dem Wahrheitsanspruch seiner eigener Behauptung? In welchem Sinn
kann seine Behauptung zutreffen, wenn sie selbst nur die
Übertragung von etwas anderem ist, und jenes andere, würde es
philosophisch artikuliert, wiederum die Übertragung von etwas
anderem wäre, usw., usw.? Oder stellt sich diese Frage nur, wenn
man - womöglich gegen Nietzsches eigene Intention -
ausschliesslich auf das sieht, was diese Behauptung aussagen
soll, wenn man also, allgemeiner, ausschliesslich den Maßstab
des Theoretischen und des Wissenschaftlichen in Anspruch nimmt?
Insofern man dann ihr Übertragenes oder ihr Übertragendes nicht
anerkennt, und jene Behauptung damit, ohne es zu bemerken, in
die undurchsichtige Folge eines anderen und geheimen
Gesetzgebens oder Gesetzeszerstörens verwandelt? Und sie damit
wiederum nur als eine nichts als künstliche Aufgabe und
öffentliche Angelegenheit anerkennen kann, die gerade deshalb
mit untauglichen Mitteln versucht, eine ihr entgegengesetzte
natürliche Aufgabe und geheime Angelegenheit zu lösen? So würde
der Theoretiker, der sein eigenes Dichten nicht anerkennen
würde, sogleich zu einem Matrosen wider Willen, der sich selbst
oder seine Tätigkeit, ohne zu wissen, was er dabei tut,
verspottet oder verhöhnt?
Doch eine Aussage nicht ausschliesslich als Aussage aufzufassen,
sondern ihren Sinn auch als Moment einer Übertragung zu
begreifen, das heisst doch andererseits schon, die Grenze zu
überschreiten, die das Philosophieren vom Dichten trennt! Das
heisst doch schon zu dichten und sich der Möglichkeit zu
begeben, die Philosophie, das Philosophieren mit guten Gründen
zu kritisieren! Wenigstens gemessen an dem Maßstab des
Theoretischen und also auch des Erkenntnis-Theoretischen ist die
Philosophie doch nicht eine nicht anerkannte oder geheime
Dichtung!
Wer aber behauptet wiederum diesen Maßstab? Wenn, nach Shelley,
der Dichter, derjenige ist, der Gesetze gibt oder zerstört, dann
doch wohl auch das Gesetz, welches die Grenze zwischen dem
Philosophieren und dem Dichten bestimmt. Ein solcher Dichter
könnte die Grenze so bestimmen, dass er mit Recht sowohl als
Philosoph als auch als Dichter gelesen werden kann. (So
geschieht es auch sowohl Nietzsche als auch Wittgenstein, die
von vielen Dichtern als Philosophen gelesen werden und von
vielen Philosophen als Dichter.) Und ein solcher Dichter könnte
die Gesetze auch so geben oder zerstören, dass er von allen, die
nicht dichten, als Philosoph gelesen würde, also als Dichter
geheim bliebe, nämlich nicht anerkannt würde. Der Maßstab des
Theoretischen, des folgerichtigen Argumentierens, aber auch der
Maßstab des Wissenschaftlichen könnten ja für diejenigen, die
dichten, indem sie Theorien aufstellen oder Wissenschaft
treiben, gleichsam ihr Metrum sein, ihr Reim oder ihre
Strophenform, das Gesetz ihrer literarischen Gattung!
(Aber wen könnte es dann wundern, wenn ein Philosoph wie etwa
Platon diese poetische Sicht der Dinge als Zerstörung jener
Gesetze begriffe, die wir als gegeben vorzufinden behaupten?)
Ausschliesslich einer jedenfalls, der dichtet, also im Sinne
Shelleys Gesetze gibt oder zerstört, kann mit Recht behaupten,
die Philosophie sei entweder die Tätigkeit von Matrosen, welche,
ohne es zu bemerken, in ihrem Philosophieren ihr eigenes
Dichten, ihren eigenen Albatros verhöhnen und verspotten, oder
selbst ein Dichten, also das Geben oder Zerstören von Gesetzen.
Für alle aber, die nicht dichten oder nicht wissen, dass sie
dichten - und sind das nicht wir alle fast zu jeder Zeit? -, ist
dieser Gegenangriff der Dichtung auf die Philosophie nicht nur
wenig überzeugend, sondern sie können ihn, wenigstens gemäss
meiner Interpretation von Shelleys Wort, gar nicht anerkennen.
Wenn der schöne Flug des Baudelairschen Albatros untersucht
werden soll, um sein Gesetz zu erkennen, wie soll das möglich
sein, wenn man selbst an diesem Flug teilnimmt, wie soll man
denn im Flug durch den Flug das Gesetz seines eigenen Flugs
erkennen und beschreiben können? Und wenn man, umgekehrt, an dem
schönen Flug des Albatros teilnehmen will, also dichten, wie
soll man das tun können, wenn man sich dem Maßstab des
Theoretischen beziehungsweise jenem des Wissenschaftlichen
unterwirft, da diese Maßstäbe gerade enthalten, an dem Flug des
Albatros nicht teilzunehmen? Wenigstens als Matrosen glauben wir
zu wissen: den Maßstäben des Theoretischen und des
Wissenschaftlichen gerecht werden können nur jene, die vom
Schiff aus einerseits als Philosophen den Maßstab des
Theoretischen und des Wissenschaftlichen möglichst klar und
deutlich erstellen und beschreiben und ihn andererseits als
Wissenschaftler gebrauchen, indem sie den Flug beobachten und
das Gesetz jenes Fliegens verbindlich zu beschreiben versuchen.
Und wenn man im Gebrauchen dieses Maßstabs Hohn und Spott für
den Albatros zu erkennen glaubt, dann wendet man sich eben damit
von dem ab, was für alle auf dem Schiff, die nicht dichten,
Erkenntnis heisst.
Doch auch der sich ständig erneuernde erkenntnistheoretische und
wissenschaftliche Angriff auf die Dichtung führt, wie es
scheint, zu keinem endgültigen Sieg. Denn je präziser dieser
Angriff, nämlich je besser, je ausgearbeiteter die Gründe, aus
welchen er besteht, je mehr dem Maßstab des Theoretischen und
des Wissenschaftlichen gemäss er geführt wird, desto weniger
scheint dieser Angriff dazu imstande, das Spezifische poetischer
Erkenntnis zu erfassen, desto mehr scheint ein solches
Theoriebilden oder wissenschaftliches Forschen, ohne das selbst
zu erkennen, nur seinen eigenen Maßstab zu verkörpern. Gerade
auch die mit jenem Maßstab selbst mitgegebene Voraussetzung
dieses Angriffs, die darin besteht, sich von seinem Gegenstand
systematisch zu unterscheiden, also etwa an dem Flug des
Albatros, dessen Gesetz man zu beschreiben sucht, nicht selbst
teilzunehmen, scheint diesen Angriff dazu zu verurteilen, auf
sich selbst zurückgeworfen zu werden.
Und wie, andererseits, sollten der Dichtung Angriffe etwas
anhaben können, die sich ihrerseits mancher der Mittel von
Dichtung bedienen, diese Mittel also de facto als
Erkenntnismittel anerkennen und insofern selbst gegen den
Maßstab des Theoretischen verstossen? (Wird nicht zu Recht
manchmal behauptet, sowohl Platons als auch Hegels Angriffe
gegen die Dichtung seien gerade insofern selbst-widersprüchlich,
als sie selbst in so vielen Hinsichten mit poetischen Mitteln
geführt werden?)
*
Vielleicht noch überzeugender als die erkenntnistheoretisch
begründeten Angriffe auf die Dichtung sind - weil sie sich der
Einwände gegen die Dichtung und des negativen Werturteils über
sie zu enthalten scheinen und sie immerhin so wichtig nehmen,
dass sie sich eingehend mit ihr befassen - die so üblichen und
weitverbreiteten Versuche, den Dichtern oder der Dichtung ihr
angebliches Geheimnis, ihr angeblich Natürliches zu entlocken
und das angebliche Geheimnisvolle und Natürliche in etwas als
öfffentlich zugänglich und somit als künstlich Vorausgesetztes
zu übertragen. Alle die Versuche, das angebliche Geheime und
Natürliche der Dichtung als fälschlich vorausgesetztes Geheimes
und Natürliches darzustellen und jenes fälschlich vorausgesetzte
Geheime und Natürliche zu entschlüsseln, zu enträtseln, indem
man es in eine andere, angeblich grundlegende Sprache zu
transponieren sucht, welche die Bedeutung der Dichtung
wiedergeben soll! Alle die Versuche, das angeblich fälschlich
vorausgesetzte Gesetzgebende oder Gesetzeszerstörende der
Dichtung zu widerlegen und die Dichtung als Wirkung anderer,
öffentlich wirksamer Gesetze darzustellen!
Da wird etwa die sogenannte schöpferische Persönlichkeit
zerlegt, das heisst die Bedeutung des Werks durch biographische
oder seelische Bedingungen seiner Entstehung wiederzugeben
versucht, oder es werden sogenannte gesellschaftliche oder
soziale Bedingungen des Entstehens einer Dichtung als das
behauptet, woraus ihre Bedeutung wesentlich besteht. Da gibt es
alle die Versuche, die Dichtung auf philosophische Systeme oder
auf sogenannte Weltanschauungen zurückzuführen. (Die täglich und
blindlings wiedergekauten Dummheiten der journalistischen
"Vermittlung" von Kunst mit bestimmten - berichterstatteten -
Wirklichkeiten, das heisst: öffentlichen Sprachen, sind nur die
häufigsten und trivialsten Beispiele für diese Tendenz.)
Und allzu bereitwillig lassen sich die Dichter, lässt sich die
Dichtung von all den so geschickten Versuchen umgarnen, sie auf
eine öffentliche Angelegenheit oder auf eine künstliche Aufgabe
zu reduzieren, von Versuchen, die sie in den Mittelpunkt einer
Form von öffentlichem Interesse zu rücken scheinen; allzu häufig
bietet die Dichtung, in einer Art vorauseilenden Gehorsams, sich
selbst schon geradezu als Moment dessen dar, wodurch sie erklärt
werden soll. So als ob sie zwanghaft der paradoxen Vorstellung
folgte, sie könne sich und allen anderen die Notwendigkeit ihrer
Existenz gerade damit beweisen, dass sie sich wesentlich auf
anderes zurückführen lässt, wodurch sie doch das Eigentümliche
ihrer Existenz gerade überflüssig machte. Und allzu fern liegt
vielen Dichtern, vieler Dichtung dabei die Möglichkeit, jene
paradoxe Vorstellung wenigstens in das Moment eines Prozesses zu
verwandeln, in dem aus der einseitigen Abhängigkeit von den
Versuchen, die Dichtung auf etwas anderes zu reduzieren, eine
Wechselwirkung zwischen ihr selbst und jenen Versuchen wird.
Ganz zu schweigen davon, dass für die meisten Dichter, für die
meiste Dichtung die von Shelley heraufbeschworene Möglichkeit
gar nicht zu existieren scheint, derzufolge die Dichter oder die
Dichtung es selbst sind, welche erst allem anderen (und also
auch den Versuchen, sie zu erklären) die Gesetze geben oder
zerstören.
Jedenfalls gibt es keine Form von Reduktionismus, die an der
Dichtung nicht schon versucht worden ist. Wenn etwa Jean Paul
Sartre in seinem Idiot der Familie einige tausend Seiten
aufwendet, um eine ganze Polyphonie solcher Reduktionen zu
entwickeln, ein Netz verschiedenartiger Erklärungen, in dem sich
das angeblich fälschlich vorausgesetzte Geheimnis und damit das
fälschlich vorausgesetzte Gesetzgeben oder Gesetzeszerstören
Flauberts oder seines Werks wie ein Knoten lösen lassen soll,
dann bietet er ein schönes Beispiel für eine ganze Reihe solcher
Möglichkeiten zu versuchen, das angebliche fälschlich
vorausgesetzte Geheimnis Dichtung ins angeblich zu Recht
vorausgesetzte Öffentliche zu übertragen und vielleicht auch die
angeblich fälschlich vorausgesetzte natürliche Aufgabe Dichtung
in eine Reihe von angeblich zu Recht als künstlich
vorausgesetzten Aufgaben.
Aber auch hier könnte die Dichtung - wiederum angenommen, sie
ist auch eine Form der Äusserung, die dazu geeignet ist zu
versuchen, gute Gründe zu geben - den Spiess umdrehen und das
Poetische des Sartreschen Versuchs behaupten: Denn sind Sartres
Erklärungen, seine Polyphonie von Reduktionen der Dichtung auf
etwas anderes, nicht ihrerseits wiederum genau dann der
Erklärungen bedürftig, wenn man annnimmt, der Gegenstand jener
Erklärungen sei es? Denn ist der Gegenstand seiner Erklärungen
in dem Sinn ein natürlicher Gegenstand - etwas, das man einfach
vorfindet -, und kann seine Erklärung in dem Sinn als Lösung für
eine künstliche Aufgabe - für etwas, das man ausschliesslich
macht oder herstellt - angesehen werden, in dem der Gegenstand
einer Natur-Wissenschaft als natürlicher Gegenstand und seine
Erklärung als Lösung einer künstlichen Aufgabe angesehen werden
kann?
Wenn nun aber weder der Gegenstand von Sartres Erklärung in dem
Sinn ein natürlicher Gegenstand ist - etwas, das man einfach
vorfindet -, in dem der Gegenstand einer Natur-Wissenschaft ein
natürlicher Gegenstand ist, noch die Erklärung für diesen
Gegenstand in dem Sinn die Lösung einer künstlichen Aufgabe, in
dem eine natur-wissenschaftliche Erklärung die Lösung einer
künstlichen Aufgabe ist, in welchem Sinn, der nicht selbst
gerade wiederum in diese Fragen mündet, lässt sich dann Sartres
Versuch einer Erklärung von ihrem Gegenstand unterscheiden?
Und nährt somit Sartres Schrift nicht den Verdacht, selbst eine
Art Dichtung zu sein, geschrieben vielleicht von jenem
Rimbaudschen Sartre, der ein Anderer ist?
Entweder in dem Sinn, dass es genau umgekehrt sein könnte, als
der Sartre weiss, der nicht ein Anderer ist, indem alle seine
Erklärungen ihrerseits ihren Ausgangspunkt, ihre Ursache in
jener Dichtung haben, ja ein Teil jener Dichtung sind, die sie
zu erklären suchen, sodass sie ihrerseits auf diese Dichtung
zurückgeführt werden können. (Und es wäre dann nur das für ihn
fälschlich vorausgesetzte Geheime oder Natürliche des dichtenden
Gesetzgebens oder Gesetzeszerstörens, das diesen Umstand
verhüllt.) Oder in dem Sinn, dass jener Versuch Sartres nicht
nur ein Teil des Hohns oder des Spotts der Matrosen ist, sondern
diesen Hohn oder Spott auch auf grossartige, wenn auch etwas
umständliche Weise darstellt, und damit aufs Neue offen lässt,
ob mit diesem Versuch selbst das Gesetz gegeben oder zerstört
wird und der Unterschied zwischen natürlichen und künstlichen
Aufgaben oder dem Öffentlichen und dem Geheimen gemacht wird.
Und würden Sartres Erklärungen damit nicht auch offen lassen, ob
nicht erst sie selbst ihrem Gegenstand, den sie als fälschlich
vorausgesetzten natürlichen und geheimen vorzufinden behaupten,
das Gesetz geben oder zerstören, also zum Beispiel Flauberts
Werken? (Wenn Shelleys Defence of Poetry, sofern sie nicht als
Dichtung aufgefasst wird, zu einer Art Attack on Poetry werden
kann, ohne dass Shelley dies weiss, dann könnte Sartres Versuch,
sofern man ihn selbst als Dichtung auffasst, also als etwas, das
Gesetze gibt oder zerstört, eine Art Defence of Poetry werden,
ohne dass Sartre davon weiss.)
*>
Am geschicktesten (wenn wohl auch nicht am überzeugensten) wird
die Dichtung im Sinne Shelleys - also als gesetzgebende oder
gesetzeszerstörende Macht, auf der die Welt beruht - vielleicht
dann angegriffen, wenn man den Dichtern oder auch sich selbst
schmeichelt, sich ihrem so anmaßenden Anspruch scheinbar
unterwirft und die im Zusammenhang mit Dichtung negativ
besetzten Begriffe mit positiv besetzten vertauscht; also zum
Beispiel Rausch mit Inspiration, Anarchie mit schöpferischem
Chaos, Nihilismus mit dem Übermenschlichen, Irrationalismus mit
Übervernunft. Unversehens wird diese Umwertung einiger Werte zu
einem Verhöhnen und Verspotten unserer selbst, von dem wir auch
selbst nichts bemerken, so dass unsere Worte geradezu die
Wirkung trojanischer Pferde haben. Denn auch wir selbst finden
dann diese Worte als Ausdruck unserer inneren Zustände vor,
machen sie uns mit samt den mit ihnen mitgegebenen
Unterscheidungen einfach zu eigen und geben vielleicht gerade
damit die Möglichkeit aus der Hand, Gesetze zu geben oder zu
zerstören; weil wir dabei, wie Hölderlin vielleicht auch in
diesem Zusammenhang gesagt hätte, unsere Nüchternheit verlieren
und damit zum Schaden unserer Dichtung unserer
Begeisterungsfähigkeit eine Grenze gezogen wird. So werden wir,
auch wenn wir zu dichten glauben, unversehens die Matrosen von
anderen oder anderem; zu Matrosen, die nur die Gesetze befolgen,
die ihnen gegeben oder zerstört werden, ohne dass sie das
bemerken.
Damit ist für uns selbst unsere Aufgabe eine natürliche Aufgabe
geworden, der gegenüber wir nicht nur andere menschliche
Tätigkeiten als künstliche Aufgaben herabsetzen, sondern auch
den Versuch, unsere eigene Aufgabe zu verstehen. So als müsste
ein solcher Versuch zwangsläufig der Versuch zu einer falschen
Öffentlichkeit sein; so als müssten wir das, was, wenn man nicht
dichtet, vielleicht als Geheimes behauptet werden muss, auch vor
uns selbst als Geheimnis bewahren, wenn wir dichten; so als ob
das Gesetzgeben oder Gesetzeszerstören und sein Erkennen und
Anerkennen einander auch dann ausschliessen müssten, wenn wir
dichten; so als ob wir nicht gerade damit, ohne es selbst zu
bemerken, und genau so wie die Baudelairschen Matrosen, die
Dichtung verhöhnen und verspotten würden.
Und wer weiss: vielleicht ist noch in Shelleys Ausspruch,
insofern er nicht selbst Dichtung ist - und also nicht Dichtung
durch Dichtung verteidigt) -, etwas von dem Gift zu fühlen, das
durch jene Umwertung einiger Werte manchmal erzeugt wird.
3
So wie die Dichtung verdächtigt wird, sich nicht auf eine
künstliche Aufgabe beschränken zu lassen, sondern sich
anzumaßen, auch eine natürliche in dem Sinn zu sein, dass sie
sowohl dem, was wir als Wirklichkeit, als auch dem, was wir als
Sprache vorzufinden glauben, die Gesetze gibt oder zerstört,
wird sie andererseits auch verdächtigt, eine Aufgabe zu sein,
die nicht natürlich genug ist. Wie wir als Matrosen, die auf dem
Schiff Welt alle Hände voll zu tun zu haben, glauben, der reinen
Theorie, der reinen Wissenschaft, zum Beispiel der Mathematik
deshalb zu misstrauen, weil ihr das abzugehen scheint, was
häufig Bezug zur Praxis genannt wird, so misstrauen wir auch der
Dichtung.
Ja, wenn wir als Verfechter des Unmittelbaren auftreten, der
reinen, unvermittelten Tat, ist uns die Dichtung gerade insofern
ein grösseres Ärgernis oder eine grössere Gefahr als irgendeine
reine Wissenschaft, als wir gute Gründe dafür haben, die
Dichtung als verführerischen Zwitter aus Theorie und Tätigkeit
zu verstehen: Sie ist uns dann etwas, das - ohne auf die
Möglichkeit zu verzichten, dass Zeichen dazu da sind, auf etwas
anderes, von der Tätigkeit des Dichtens Unabhängiges, zu
verweisen - andererseits auch die Möglichkeit nicht preisgibt,
jenes andere aus sich selbst hervorzubringen, also die
Wirklichkeit, auf die sie zu verweisen scheint; - als ob diese
Wirklichkeit das Ergebnis semiotischer Taten oder Untaten des
Dichtens wäre. Eine so verstandene Kunst erhebt oder versteigt
sich zu einem Totalitäts- und Absolutheitsanspruch, der genau
jenem des katholischen Dogmas von der realen Präsenz Christi in
der Verwandlung von Brot und Wein entspricht. Symbolisches
Geschehen und nicht-symbolisches Geschehen sollen in einer
Synthese aufgehoben werden, die ermöglicht, den Unterschied
zwischen dem Symbolischen und dem Nicht-Symbolischen genau in
dem Sinn zu machen, in dem, nach meiner Interpretation von
Shelleys Wort, der Unterschied zwischen dem Geheimen und dem
Öffentlichen oder der Unterschied zwischen einer künstlichen und
einer natürlichen Aufgabe dann gemacht wird, wenn Dichtung das
ist, was Gesetze gibt oder zerstört.
Während man also eine reine Wissenschaft wie die Mathematik,
ihrer Reinheit zum Trotz, wenigstens als ein präzises Instrument
dazu benützen kann, um in die Wirklichkeit gezielt einzugreifen,
oder aber, wie im Fall der Geisteswissenschaften, die
Abgehobenheit, das Tatenlose, das Künstliche ihrer Aufgaben,
also das Theoretische ihrer Erscheinungsform offen zu Tage zu
liegen scheint, gibt die Dichtung vor, selbst die ganze Praxis
zu sein; ein Wort, das eine Tat oder Untat wird, oder eine Tat
oder Untat, die ein Wort wird.
So steht der Kritik jener, für welche die Dichtung eigentlich
eine Zerstörung der Gesetze ist und eine allzu natürliche und
geheime Aufgabe, eine andere Kritik gegenüber. Sie wirft der
Dichtung vor, sie sei in dem Sinn eine allzu künstliche Aufgabe,
dass sie nichts bewirke als sich selbst, dass die Lösungen, die
sie biete, schon in den Aufgaben enthalten seien, die sie sich
stelle, während sie doch so tue, als bewirke oder löse sie
vieles andere oder sogar alles andere. Und gerade dieser falsche
Anschein einer umfassenden gesetzgebenden oder
gesetzeszerstörenden Tat, den die Dichtung erwecke, bringe es
mit sich, dass die Dichtung tatsächlich gesellschaftlich
zerstörerische Wirkung habe, insofern sie eben keinen Raum lasse
für jene Taten auf dem Schiff Welt, die dazu beitragen könnten,
es auf dem richtigen Kurs zu halten oder gar vor dem Untergang
zu bewahren.
Hinter dieser Kritik steht die Forderung, dass alles, was
gedacht wird, Mittel sein sollte, bestimmte Taten vorzubreiten,
die entweder selbstverständlich öffentlich sind oder jederzeit
öffentlich gemacht werden können. Nur diejenigen Formen des
Gebrauchs von Sprache sind dieser Kritik gerechtfertigt, die zum
Mittel gemacht werden können, natürliche Aufgaben zu lösen; nur
solche Formen des Gebrauchs von Sprache also, die sich in Taten
umsetzen lassen. Wir haben es oft genug gehört, und wir werden
es noch oft genug zu hören bekommen: die Welt soll nicht
interpretiert, sondern verändert werden. Was ist dann mit einer
Tätigkeit anzufangen, die sich bis zu dem Anspruch versteigen
kann, der Anfang, das Ende aller anderen Tätigkeiten und damit
auch aller Veränderungen zu sein, mit einer Tätigkeit, die auch
den Unterschied zwischen Interpretation und Weltveränderung auf
ihr Spiel setzt? Was soll man mit einer Welt machen, die - etwa
nach Mallarmé - in ein Buch mündet oder die aus einem Buch
entspringt? Und das noch dazu geheim und durch die Dichter oder
die Dichtung - wie jedenfalls die Matrosen behaupten, wenn sie
tatsächlich Matrosen sind und den Unterschied zwischen sich
selbst und jenen, die dichten, nicht machen, sondern einfach
vorzufinden behaupten.
*
Liegt es in der Natur des Zusammenspiels oder des Konflikts
zwischen dem Dichten (den Gesetzen dieser Kunst) und dem
empirischen Ich des Dichters (welches das der Matrosen selbst
ist), dass die Dichter den Hohn und den Spott der Matrosen als
Vorwürfe ernstnehmen und sich dazu verurteilen, die Matrosen und
ihre Vorwürfe bis zu dem Punkt nachzuahmen oder zu erleiden, an
dem sie selbst zu höhnenden, spottenden, aber auch
vorwurfsvollen Matrosen werden und damit das Gesetz jenes
Nachahmens oder Erleidens nicht mehr selbst zu geben vermögen?
So wie sich die Dichter das Ummünzen von Rausch in Inspiration,
von Anarchie in schöpferisches Chaos, von Nihilismus in das
Übermenschliche oder von Irrationalismus in Übervernunft gerne
gefallen lassen, obwohl sie vielleicht gerade damit die
Möglichkeit des Gesetzgebens oder des Gesetzeszerstörens aus der
Hand geben, so sehr gehen ihnen die Vorwürfe der Matrosen in
Fleisch und Blut über, etwa der Vorwurf, dass die Dichter ihnen,
gerade wenn sie und weil sie dichten, auf dem Schiff Welt
tatenlos bei ihrer Arbeit zusähen und damit in Kauf nähmen, dass
das Schiff vom rechten Kurs abkomme oder gar untergehe.
Und was für turbulente Dialektiken der irritierte moralische
Sinn da hervorruft! Da glauben und treten die Dichter an die
sogenannte Öffentlichkeit und dekretieren, dass sie alle
Matrosen seien und alle Matrosen wiederum unter allen Umständen
Dichter, dass die Welt selbst eine künstliche Aufgabe sei, etwa
eine soziale Plastik, und jede Tat, oder überhaupt alles, was
geschieht, ein poetischer Akt, also eine Art Wort.
Wir kennen alle die proklamierten Aufhebungen der Grenzen
zwischen dem ästhetischen und dem nicht-ästhetischen Gegenstand,
zwischen Kunst und Leben, Kunst und Nicht-Kunst, zwischen
künstlichen und natürlichen Aufgaben, vielleicht auch zwischen
geheimem, also dichtendem Gesetzgeben oder Gesetzeszerstören und
ihren öffentlichen, nicht erdichteten Gegenstücken.
So schreibt André Breton im Zweiten surrealistischen Manifest:
"Die simpelste Tat des Surrealisten ist, mit Revolvern in den
Händen auf die Strasse zu gehen und wahllos wie wild in die
Passanten zu ballern."; so soll, wie in Antonin Artauds Theater
der Grausamkeit, die Welt selbst - und diese Formel ist nicht
zufällig paradox - ein entliterarisiertes Totaltheater werden
und zugleich das Theater die Welt nicht nur bedeuten; und so
behauptet der Dadaist Raoul Hausmann (vielleicht wie Hugo Ball
fasziniert und beeinflusst von Anarchisten wie Bakunin oder
Krapotkin): "Die künstlerische Phantasie ist Sabotage am Leben,
sie ist romantisch, retrospektiv und dumm.". Und wenn Oswald
Wiener (in Zusammenhang mit dem Wiener Aktionismus) "Schluss mit
der Wirklichkeit" fordert, dann heisst das gemäss jenen
paradoxen Formen natürlich auch: Schluss mit der Kunst. (Denn
die Kunst und der Unterschied zwischen Kunst und Wirklichkeit
gehören zu der Wirklichkeit, mit der Schluss gemacht werden
soll.)
Und wie widersprüchlich, dass hier - nicht anders als angeblich
in der Kunst, gegen die sich solche Sätze richten - die Sätze
oder Programme, diese starken Sprüche, wiederum nur auf die
Taten verweisen, die sie fordern, dass sie sich somit selbst vor
allem als künstliche Aufgaben begreifen lassen müssen, die den
Unterschied zwischen sich und dem, worauf sie verweisen, als
Vorgefundenes behaupten. Diese Sätze sind, wenn es Ohrfeigen
sind, nur Ohrfeigen für den öffentlichen Geschmack! Hätte da
Shelley vom Standpunkt des geheimen Gesetzgebers aus nicht
antworten können?: Mit diesen starken Sprüchen, mit solchen
Programmen folgt ihr genau den Gesetzen, die schon gegeben sind,
und also findet ihr den Unterschied zwischen künstlichen und
natürlichen Aufgaben oder zwischen dem Öffentlichen und dem
Geheimen erst recht vor, und somit habt ihr die Köder
Wirklichkeit und Sprache geschluckt, ohne es zu bemerken. Nicht
nur mit roher Gewalt nicht, sondern auch nicht mit roher Rede-
Gewalt können Gesetze gegeben oder zerstört werden. (Und Shelley
könnte alle beklagen, die nicht auf dem Kamm der Welle zu reiten
vermögen, die damit hergestellt wird, dass das Unmittelbare und
das Vermittelte oder Symbolische, das Künstliche und Natürliche
einander wechselseitig hervorbringen oder vernichten.)
Aber die Aktionen selbst, die Taten, die jenen Sätzen oder
Programmen folgten, die natürlichen Lösungen für angeblich
natürliche Aufgaben!
Findet man das Schiff Welt mit samt der hohen See, auf der es
sich befinden soll, tat-sächlich vor, dann kann man, so viel
Stoff von dieser Welt man auch sprengen mag, dieses Schiff
dennoch nur so umbauen, dass es stets das Schiff Welt bleibt.
Wenn also durch jene Aktionen oder Taten Gesetze gegeben oder
zerstört worden sind, wenn es poetische Akte gewesen sind, dann,
so müssen die Matrosen oder die Dichter oder auch Shelley als
Matrose oder Dichter sagen: im Geheimen, das heisst: in der
Kunst, zum Beispiel in der Dichtung, dort, wo das Schiff Welt
sich wesentlich damit darstellt, dass ihm das Gesetz gegeben
oder zerstört wird, so dass der Unterschied zwischen künstlichen
und natürlichen Aufgaben nicht einfach vorgefunden wird, sondern
gemacht.
Doch die Turbulenzen jener Dialektik können auch andere Wellen
schlagen. Aus dem Vorwurf der Matrosen, dass die Aufgaben der
Dichter nur künstlich und geheim sind und die Dichter selbst auf
dem Schiff Welt nur unbrauchbar herumstehen und nichts dazu tun,
es auf dem rechten Kurs zu halten, aus der Not dieses Vorwurfs
lässt sich so leicht eine Tugend machen. Wie man als Dichter
oder als sein Souffleur zum Beispiel aus Rausch Inspiration
macht, so macht man daraus, dass man sich selbst mit den Augen
der Matrosen als nutz- und tatenlos sieht, den tapferen, ja
heroischen Ausssenseiter: den, der abseits steht, der ein ganz
Anderer ist. Man wird dann zu dem, der - für sich sein Einziger
und sein Eigentum - sich selbst in seinem Leben die Gesetze zu
geben und zu zerstören glaubt; man wird etwa zu einem poète
maudit (so der bekannte Titel einer Essay-Sammlung Verlaines).
Doch wird man damit nicht, wenigstens als Matrose, als einer,
der gerade nicht dichtet (und etwa auch keine Essays schreibt),
zum Opfer eines Lebensstils, eines Stils in einem zweifelhaften
Sinn des Wortes, der vor allem davon lebt, dass er sich negativ
definiert, sich von anderem abhebt, zum Beispiel die bourgeois
epatiert? Das kommt davon, wenn man das Wort Shelleys oder das
Bild aus Baudelaires Gedicht empirisch nimmt und scheinbar
praktische, jedenfalls öffentliche Konsequenzen aus der
romantischen Idee des schöpferischen und insofern gesetzgebenden
oder gesetzeszerstörenden Künstlers zieht. Man findet jene Idee
dann als Kulisse eines wenig klugen Ich wieder, das nicht weiss,
dass es spielt, das heisst: das nicht weiss, dass es eine
künstliche Aufgabe für eine natürliche hält oder eine natürliche
Aufgabe für eine künstliche, und dennoch den Unterschied
zwischen künstlichen und natürlichen Aufgaben blindlings
voraussetzt. So wendet man das wüste, exzentrische Gewand des
Dichters als Aussenseiter oder gar als Ausgestossener, und es
kommt als Innenfutter das als konformistisch verhöhnte
Matrosengewand zum Vorschein. Der Dichter aber, als Einzelner
oder Einziger, ist dazu verurteilt, nichts davon zu bemerken und
diesen Begriff von sich selbst, als von ihm selbst unverstandene
soziale Rolle, zu erleiden. Während der gefangene Albatros
glaubt, den Matrosen die Freiheit vorzufliegen, äfft er doch nur
unwillkürlich die Matrosen nach, verhöhnt und verspottet sie,
die doch ihrerseits ihn verhöhnen und verspotten, indem sie ihn
nachäffen.
*
Jene Dialektiken müssen allerdings nicht bis zur paradoxen,
nämlich öffentlich anzuerkennenden, Gleichsetzung von Dichtung
und Wirklichkeit, von natürlichen und künstlichen Aufgaben oder
bis zur paradoxen, nämlich öffentlich anzuerkennenden,
Behauptung der Abschaffung von Kunst durch Kunst führen - als ob
künstliche Aufgaben durch künstliche Aufgaben abgeschafft werden
könnten, die als solche vorgefunden werden - oder auch zu der
künstlichen und paradoxen Behauptung der Abschaffung von
Wirklichkeit durch wirkliche Taten (als ob natürliche Aufgaben
durch natürliche Aufgaben abgeschafft werden könnten, die als
solche vorgefunden werden). Sie müssen auch nicht dazu führen,
dass der Dichter sich dazu veranlasst sieht, das Wort Shelleys
oder das Bild Baudelaires empirisch zu nehmen, sich selbst zum
Einzelnen und Einzigen zu stilisieren, so als ob ein Gesetzgeben
oder Gesetzeszerstören unter den Umständen eines bestimmten
Lebens nicht insofern selbstwidersprüchlich wäre, als es auf der
Grundlage von Gesetzgebungen oder Gesetzeszerstörungen
stattfindet, die einfach vorgefunden werden.
Jene Dialektiken führen deshalb üblicherweise nicht so weit,
weil der Unterschied zwischen natürlichen und künstlichen
Aufgaben mit samt den schon damit vor-gegebenen Gesetzen
meistens anerkannt wird, und sowohl die Dichtung als
öffentliches Hilfsmittel dafür angesehen wird, die schon
vorgegebenen Dinge zu verändern, zu re-formieren, als auch der
Dichter - auch von sich selbst - ohne weiteres als jemand
begriffen, dem sehr wohl bestimmte gesellschaftliche Funktionen
eignen.
So wie jene geschickten Matrosen, welche die Dichtung und die
Dichter als geheime Gesetzgeber oder Gesetzeszerstörer der Welt
nicht direkt angreifen oder verurteilen, sondern die Gegenkünste
ihrer Reduktionen auf irgendeine andere Form von Erklärung oder
Theorie inszenieren, so versuchen die geschickteren Verfechter
von Unmittelbarkeit oder Praxis, die Dichtung - als wäre sie
eine Art angewandte Wissenschaft - als Instrument zu verstehen,
das die Welt so darstellt, dass diese Darstellung dieses oder
jenes Bestimmte in der Welt bewirken können sollte. Wenn wir die
Welt schon interpretieren müssen, dann wollen wir sie so
interpretieren, dass wir damit ihre Veränderung vorbereiten.
(Romanhaft träumen wir von Romanen, die Revolutionen
verursachen, Gedichten, die Waffen sind, vorzüglich Messer, also
gleichsam von einer Literatur aus geweihten Kanonen. Ach, alle
diese Worte, die man in die Welt setzt, als wären sie entweder
ausschliesslich Metaphern oder ausschliesslich keine Metaphern,
wenn man die Dichtung nicht als Dichtung versteht, und den
Unterschied zwischen wörtlicher und übertragener Rede nicht
macht, sondern einfach vorfindet!)
Damit wird die Dichtung, wie die Wissenschaft, zu einer
künstlichen und öffentlichen Aufgabe, zu einem Mittel dafür,
andere, nämlich natürliche, Aufgaben zu lösen. Die Künste, und
also auch die Dichtung, sollen nützlich sein: ob nun ihr Nutzen
darin bestehen soll, die Frömmigkeit oder Gottesfurcht zu
fördern, oder darin, soziale Veränderungen vorzubreiten, oder
darin, in einprägsamer Weise nützliches Wissen zu vermitteln.
Und wie viele Dichter, vergessend, dass sie dichten, nehmen sich
diese Kritik der Praktiker allzu sehr oder auf die falsche Weise
zu Herzen! Wir wollen dann dichten, aber zugleich öffentliche,
das heisst: für alle beobachtbare, Gesetze der Wirkung unserer
Dichtung annehmen: Wenn ich diese oder jene symbolischen Stoffe
vermische, dann soll sich diese semiotische Chemie ihrerseits
mit andersartigen, nicht-semiotischen Chemien auf vorhersehbare
Weise vermischen. Und das, obwohl ich den Unterschied zwischen
den semiotischen Chemien - die ich als solche im übertragenen
Sinn des Wortes ansehe - und den wirklichen Chemien - jenen im
angeblich wörtlichen Sinn - als selbstverständlich vorzufinden
behaupte!
Wir wollen, mit anderen Worten, unser, nach Shelley, nicht
anerkanntes und geheimes Gesetzgeben oder Gesetzeszerstören in
ein öffentliches und anerkanntes verwandeln.
Und natürlich gehen wir dabei häufig strategische Allianzen mit
jenen ein, die versuchen, das für sie fälschlich vorausgesetzte
Geheimnisvolle zu entschlüsseln oder zu enträtseln, in als
öffentlich zugänglich Vorausgesetztes zu übersetzen. - Denn erst
eine öffentlich anerkannte Sprache soll ein Instrument dafür
sein können, die Welt zu verändern; erst eine öffentlich
anerkannte Sprache soll zu nützlichen Handgriffen der Matrosen
auf dem Schiff Welt veranlassen können.
So wird uns die Dichtung zu etwas, das für etwas anderes da sein
sollte. Immer soll sie eine abgeleitete, sekundäre Form der
Äusserung sein. Sofern sie keine Tat ist, welche die Welt
tatsächlich verändert, ist sie uns nichts, und sie ist uns nur
etwas, sofern sie dazu gebraucht werden kann, die Welt zu
verändern. Damit sie aber dazu gebraucht werden kann, die Welt
zu verändern, muss sie, falls sie Rätsel aufgibt, in eine
öffentliche Sprache übersetzt werden. (Lassen sich nicht viele
unserer Missverständnisse, unsere eigene soziale Rolle
betreffend, darauf zurückführen, dass wir einerseits die
Manipulation von Symbolen als eine Art Ursache für bestimmte
Veränderungen anderer Dinge ansehen, andererseits aber
voraussetzen, dass die Unterschiede zwischen Künstlichem und
Natürlichem, zwischen Geheimem und Öffentlichen, alle die
Gesetze, die nach Shelley durch die Dichtung gegeben werden,
nicht gegeben oder zerstört werden können, sondern nur
vorgefunden und dann bestenfalls verändert?)
4
Da nun die Matrosen ständig in die Dichter und in die Dichtung
übergehen, während sich die Dichtung ständig in die Matrosen und
das Schiff Welt verwandelt, haben sie einander entweder nichts
vorzuwerfen oder eben alles: Wenn wir als Matrosen die Dichtung
als ein für alle Male künstliche Aufgabe oder als abgeleitete,
ausschliesslich symbolische Tätigkeit in einer natürlich
vorgefundenen Welt verstehen, dann neigen wir als Dichter dazu
(wenn auch vielleicht nur in dem Augenblick, da wir in Matrosen
übergehen), die Dichtung zur natürlichen Aufgabe zu verklären,
der gegenüber alle anderen menschlichen Tätigkeiten als
abgeleitete, künstliche Aufgaben herabgesetzt werden. Verstehen
wir aber als Matrosen die Dichtung als ein für alle Male
natürliche Aufgabe, die gerade deshalb das vernünftige und also
künstliche Ordnen auf dem Schiff Welt behindere, dann neigen wir
als Dichter dazu (wenn auch vielleicht wieder nur in dem
Augenblick, da wir in Matrosen übergehen), die Dichtung zur
nichts als künstlichen Aufgabe zu verklären, der gegenüber alle
anderen menschlichen Tätigkeiten als nichts als natürliche
Aufgaben herabgesetzt werden.
Ob es mit der Wirkung des Gifts zu tun hat, das in jeglicher
Verklärung der Dichtung enthalten sein mag, dass die Dichter und
auch die Dichtungen so häufig den Spiess umzukehren versuchen,
dass für sie die Dichtung so häufig zu einer Art Attack on the
World wird? Wie oft wird da nicht behauptet, dass die Gesetze,
denen alle folgen, eine Zerstörung jener Gesetze sei, die besser
seien und sich in der Dichtung zeigten oder sogar von ihr
gegeben würden. Und das betrifft nicht nur die, wie es scheint,
ausschliesslich gesellschaftlichen und öffentlichen
Angelegenheiten. Selbst die Naturgesetze geraten in Verdacht,
die besseren, die erdichteten Gesetze zu zerstören. Hätte
Novalis - von dem Shelleys berühmter Satz von den Dichtern als
den nicht anerkannten Gesetzgebern stammen könnte - nicht
dekretieren können: Dichten heisst, die Natur und ihre Gesetze
zu einer künstlichen Aufgabe zu machen? Womit auch unterstellt
würde, dass es den Dichtern frei stehe, die künstliche Aufgabe
der Naturgesetze durch andere künstliche Aufgaben, das heisst:
durch andere erdichtete Gesetze zu ersetzen. (Und es gibt auch
die literarischen Formen und Bewegungen, welche sich vielleicht
vor allem diesem Impuls verdanken: das Märchen, den
Surrealismus, ja auch noch die Science Fiction.)
Häufiger aber wird den Dichtern oder der Dichtung die
Gesellschaft oder das Schiff Welt zu einer Maschine, die jene
tieferen Gesetze zerstört, auf denen sie beruht, zu einer
Maschine also, die sich selbst zerstört! Wie, zum Beispiel und
Pars pro toto, ist der allgemein übliche Sprachgebrauch da nicht
verdächtigt worden! Als Generator von Missverständnissen, als
Sprach-, Erkenntnis- oder Einsichtzerstörend, als das, was alles
Verständliche verhindert oder vertreibt, wobei die Erkenntnis
dieser Unverständlichkeit konsequenterweise jenen verborgen oder
geheim bleibe, die sich dieser Sprache ohne weiteres bedienen.
Man denke nur daran, was Dichter wie Stephane Mallarmé oder
Stefan George dazu gesagt haben, aber auch Hugo Ball und die
avantgardistischen Poetiken der fünfziger und sechziger Jahre!
Und zu dieser Vorstellung von der Gesellschaft oder dem Schiff
Welt als einer Maschine, die jene tieferen Gesetze zerstört, auf
denen sie beruht, gehört auch, dass - wiederum als Pars pro toto
für alle gesellschaftlichen Institutionen - vielen Dichtern das
Gesetz im wörtlichen Sinn, insbesonders das jeweils geltende
Recht, verdächtig ist. Sie sehen es als schlechtes Beispiel für
das an, was sie besser vermöchten, wenn man sie nur liesse. Das
jeweils geltende Recht ist ihnen offenbar die groteske Karikatur
oder auch die Zerstörung der besseren Gesetzgebung, die durch
die Kunst stattfindet oder stattfinden sollte. Der Mechanismus
Gesetz, Gesetzesübertretung, Strafe wird zu einer groben
Vereinfachung und Verdinglichung des unendlich nuancenreichen
und genauen Arbeitens des moralisch-ästhetischen Sinns. Wenn
etwa in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften staatliches Recht
und Rechtssprechung anhand des Falls Moosbrugger dargestellt
werden, dann stellt der Erzähler des Romans der
Grobschlächtigkeit eines staatlichen Rechts und einer
Rechtssprechung das Ideal einer womöglich unendlichen
Genauigkeit im Umgang mit der eigenen Seele gegenüber. Jenes
Recht, jene Rechtssprechung erscheinen da gerade um der
Starrheit und Grobheit der involvierten klassifizierenden
Begriffe und um des plumpen Determinismus ihrer Anwendung willen
entweder als natürliche Aufgabe, die vielleicht durch die
künstliche Aufgabe einer Selbst-Erfindung in dem Medium der
Musilschen Romankunst ersetzt werden sollte, oder, um der selben
Eigenschaften willen, als künstliche Aufgabe, welche vielleicht
durch die natürliche Aufgabe einer Selbst-Entdeckung im Medium
der Musilschen Romankunst ersetzt werden sollte.
Ist aber diese Deutung von Dichtung als einer Art Attack on the
World, nicht wiederum die Deutung eines Matrosen? Eines
Matrosen, der die Köder Wirklichkeit und Sprache verschluckt hat
und damit dazu verurteilt worden ist, sich auf dem Schiff Welt
vorzufinden und also auch den Unterschied zwischen dem
Künstlichen und dem Natürlichen oder zwischen dem Öffentlichen
und dem Geheimen?
Vielleicht lese ich diese zu attackierende, öffentliche Welt zum
Beispiel aus Novalis' Heinrich von Ofterdingen oder aus Musils
Roman erst heraus, vielleicht dichte ich sie, auch jetzt, da ich
scheinbar aufgehört habe, in jenen Romanen zu lesen. Wie, wenn
auch Novalis und Musil oder ihre Leser Dichter sind, die uns, ob
nun geheim oder öffentlich, Gesetze geben oder zerstören?
Vielleicht haben wir auch ihnen zu verdanken, dass wir, sofern
wir dichten, die Unterscheidung zwischen künstlichen und
natürlichen Aufgaben, zwischen dem Öffentlichen und dem Geheimen
nicht vorfinden müssen, sondern dabei sein können, wenn diese
Unterscheidungen gemacht werden.
5
Es werden in diesem Aufsatz manche Unterscheidungen getroffen,
nicht nur jene zwischen Gesetzgeben und Gesetzeszerstörung,
zwischen dem Öffentlichen und dem Geheimen, zwischen künstlichen
und natürlichen Aufgaben wie auch zwischen dem, was man macht,
und dem, was man vorfindet. Vielleicht, um, wie Novalis in
seinem berühmten Monolog schreibt, das Wesen und Amt der Poesie
anzugeben zu versuchen und damit, nach Shelley, auch das Wesen
aller anderen Dinge. Aber wie, wenn - wie sich Novalis in seinem
Monolog fragt - damit keine Poesie zu Stande kommt?
Wie also, wenn jene Unterscheidungen hier nicht gemacht werden,
sondern vorgefunden? Wüsste man dann, wie Novalis schreibt, dass
man ganz was albernes über diese Dinge gesagt hätte, eben
insofern man sie gesagt hätte, ohne zu dichten, und also damit
kein Gesetz gegeben oder zerstört und den Unterschied zwischen
der natürlichen Aufgabe Dichtung und der künstlichen Aufgabe,
das Wesen und Amt der Poesie anzugeben, einfach vorgefunden
hätte?
Doch wenn man jetzt behaupten würde, hier komme sehr wohl Poesie
zu Stande, da jene Unterschiede sehr wohl gemacht würden und
also nicht einfach vorgefunden? Wüsste man dann mit Shelley
doch, dass das nicht anerkannt würde und deshalb geheim bleiben
müsste, dass kein Mensch einen verstehen könnte, der nicht genau
dasselbe machte wie man selbst?
Was aber heisst das überhaupt, eine Unterscheidung machen, und
was heisst das, sie einfach vorfinden? Wie weiss man, ob man
eine Unterscheidung macht, oder ob man sie vorfindet? Wer oder
was soll denn zwischen dem, der im Sinne Shelley tatsächlich so
dichtet, dass er Gesetze gibt oder zerstört, und einem
betrunkenen Matrosen unterscheiden, der sich einbildet, dass das
Schiff Welt seiner Trunkenheit zu Gebote steht, da doch der
Dichter und der Matrose ununterbrochen ineinander übergehen oder
auseinander hervorgehen? Und gerade deshalb würde es doch
andererseits auch nichts helfen, an nichts anderes zu glauben,
als dass man nüchtern und der Matrose sei, der alles
Wesentliche, das ganze Schiff Welt vorfinde, denn es könnte ja
sein, dass man gerade in den Dichter übergegangen ist, der das
Gesetz mit diesem Glauben erst gibt oder zerstört.
Wenn ich also behaupte, niemand als ich selbst könne mir sagen,
ob hier in Shelleys Sinn, das heisst: im Sinn eines
tatsächlichen Gebens oder Zerstörens von Gesetzen, Unterschiede
gemacht werden, oder ob jene Unterschiede und die Gesetze, auf
denen sie beruhen, einfach vorgefunden werden, dann könnte ich
genauso gut sagen, niemand und nichts können mir sagen, ob hier
Unterschiede und die Gesetze, auf denen sie beruhen, gemacht
oder ob sie einfach vorgefunden werden. Denn worauf verlasse ich
mich, wenn ich mich auf mich selbst verlasse? Auf etwas, das ich
im Sinne Shelleys mache, oder auf etwas, das ich vorfinde? Wie
soll ich da den Unterschied zwischen Künstlichem und
Natürlichem, zwischen Öffentlichem und dem Geheimem entweder
machen oder vorfinden, wenn das, was ich als mich selbst
vorfinde, und das, was ich als mich selbst mache, ständig
ineinander übergehen oder auseinander hervorgehen, genauso wie
jenes Ich, das ein anderer ist, und jenes andere, das ein Ich
ist, oder wie die Dichter in Matrosen übergehen oder aus ihnen
hervor und die Matrosen in Dichter oder aus ihnen hervor?
Ach, gäbe es ein jüngstes Gericht für das Schiff Ich, für das
Schiff Dichtung und das Schiff Welt, einen Gesichtspunkt, von
dem aus das ganze wechselseitige Hervorrufen von Machen und
Vorfinden, von Gesetzgebung und Gesetzeszerstörung, von
Öffentlichem und Geheimem, von Dichtern und Matrosen, so
deutlich würde, dass sich diese Frage beantwortete. Aber was ist
das für ein Wunsch, der sich von seiner Erfüllung so ohne
weiteres trennen lässt!
Würden sich unter jenem Gesichtspunkt einer Art Ewigkeit, die
Unterschiede zwischen dem Geheimen und dem Öffentlichen,
zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen und schliesslich
zwischen dem Machen und dem Vorfinden nicht genauso ereignen,
wie wir sie jetzt als Dichter, die Gesetze geben oder zerstören,
zu machen meinen und als Matrosen vorzufinden glauben?