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BEVOR DER KALTE KRIEG ZU ENDE GING



© Franz Krahberger

Mitteleuropaeische Aufzeichnungen

1983 -

November 1983: Wien - Westbahnhof. Orientexpress. Ab Wien - West verliert dieser Zug voellig seinen legendaeren Glanz. Die billige Ausstattung laesst die Aesthetik des realen Sozialismus verspueren. Ich teile das Abteil mit einer jungen Burgenlaenderin. Sie hat sich in einen verheirateten Zyprioten verliebt und faehrt nach Budapest, um mit ihm dort ein Wochenende zu verbringen. Wir reden ueber dieses und jenes, gewinnen Vertrauen.
Die Eisenbahn, eine fahrende Offenbarung. Ich frage sie, ob die Menschen aus ihrem Dorf es billigen wuerden, wenn sie erfuehren, dass sie ein Verhaeltnis mit einem Verheirateten hat und mit ihm in Budapest fremdgeht. Nein, ist die Antwort. Die alten Vorurteile ? Wir sprechen weiter ueber ihr Dorf.

Ich habe Kopfschmerzen, ich bin unruhig und lache gequaelt. Ich lache so , wie in den vorangegangen Wochen auch, zu laut. Uebertreibe beim Reden. Wirke ueberdreht. Zynismus, Ueberlastung. Nicht ausspannen koennen. Auf allen Ebenen haeufen sich die Schwierigkeiten. Nichts mehr hoeren, nichts mehr sehen, nichts mehr ausstehen koennen. Die ewigen Kreislaeufe und Wiederholungen der Szene satthaben. Die Kaltschnaeuzigkeit und gleichzeitige Idiotie des Kulturbetriebes nicht mehr aushalten wollen. Die Unmenschlichkeit blosstellen und deswegen als agressiv gelten. Jeder, der dieses dumpfe oesterreichische Sozialbiedermeier ankratzt, wird ein Nestbeschmutzer genannt.
Die feindselige Haltung des Oesterreichers wider Geist und Kunst hat Tradition.

In Oesterreich ist es fuer den Kulturschaffenden deswegen schlimm, weil er vorallem in der Bevoelkerung nichts gilt. Nur so kann ich es mir erklaeren, dass ein ehemaliger Kulturminister einem der ganz grossen oesterreichischen Dichter, den in der Zwischenzeit verstorbenen Bernhard, mit billigem Applaus rechnend, oeffentlich eine gewisse Gestoertheit vorzuwerfen sich herausnahm. Und sein Co-Redner, heute Vorredner der Nation, hatte die Stirn, zu behaupten, wer Vision habe, brauche auch gleich einen Arzt.
Wenn in Oesterreich von Gestoertheit gesprochen wird, ist das meistens ein leicht verdeckter Hinweis auf eine moegliche Geisteskrankheit.

Bernhard hat sich allerdings nie ein Blatt vor den Mund genommen und die oesterreichischen Dummheiten und Gemeinheiten, aus welcher weltanschaulichen Ecke, ob katholisch, nazistisch oder sozialistisch sie auch immer kamen, mit ordentlich festen Kreidestrichen an die Tafel gemalt.

Es sind ebenso die stillen Repressionen, die den kritischen Geist bedrohen.

Das Ghetto der Kunst, ohne Ziel, ohne Religion, mit windschiefen Aussichten und minimalen Moeglichkeiten. Demuetigend und oberflaechlich. Der vermarktete Mensch, die Kritik ebensolche Ware wie das kritisierte. Opfer eines vogelfreien Berufes. Alles versuchen, trotz Kunstausuebung, leben zu koennen. Im materialistischen Zeitalter der Idelogien und des Geldes haben die immer wieder beschworenen, bei Enqueten hervorgezerrten,von Politikern, Journalisten, von Kuenstlern fortwaehrenden beschworenen geistigen Werte keinen Wert.

1983 bin ich erstmals nach Budapest gefahren, um die neue ungarische Kunst kennenzulernen. Die Rebellen, die Dissidenten, die Nichtangepassten , die einen Hochseilakt zwischen kommunistischer Staatskunst, Autonomie, Originalitaet, und westlich orientierten Vorstellungen ausbalancierten. Augenzwinkernd.
Ich hatte mir vorgenommen dort so wie auch hier nichts zu verschweigen, keine Illusionen aufkommen zu lassen, nur jene maerchenhaften Augenblicke gelten zu lassen, in denen sich Kunst als lichter Moment erweist. Und ich bin damals auf eine hochinteressante Gruppe von Kuenstlern und Personen gestossen.

Orientexpress: Der Druck in meinem Kopf nimmt zu. Die Grenze. Jene Grenze, die Mitteleuropa in zwei Haelften teilt und beide Seiten zu Randbezirken zweier Weltsysteme gemacht hat. Die Verhandlungen in Genf sind gescheitert. Die Russen stellen ihre SS 20 auf , die Amerikaner halten mit ihren Pershings nicht hinter dem Berg und die Deutschen kauen zaeh an ihren Nachruestungsbeschluessen.
Die Drohung mit den Atomwaffen, mit dem alles vernichtenden Krieg, ist der alltaegliche Terror, den sie auf die Voelker ausueben. Eine Schraube, die sie nach Belieben anziehen und nach Belieben entspannen koennen. Der Terror trifft die Bewohner des Westens taeglich, aus allen Medien lugt das atomare Schreckgespenst. Wie sich in Budapest in Gespraechen herausstellen wird, nehmen die die Bewohner des Ostens den Schrecken weniger wahr.

Es wird darueber nicht so intensiv berichtet. Ein Nachteil der gesteuerten Presse ist die mangelnde Informationsintensitaet. In politischen Gespraechen wurde ich das Gefuehl nicht los, unter einer abschirmenden Huelle zu reden. Fuers erste eine irritierende Erfahrung. Ich bin an einen der Grundsaetze des Westens gewoehnt ; oeffentliche Information ist alles. Diese Ost-Kaeseglocke hat allerdings auch eine angenehme Seite. Man ist nicht mehr dem pausenlosen Anprall einer unerbittlich erscheinenden Realitaet ausgesetzt.

Ich konnte mich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass die politische Information und Bildung im Ostblock keinen Pfifferling wert ist. Soviel praktische Irrealitaet habe ich schon lange nicht mehr erlebt. In irgendeinem Gespraech mit einem an sich hellwachen Kuenstlerehepaar habe ich aus irgendwelchem Anlass den Einfall der Hunnen in Ungarn erwaehnt. Die beiden bestritten vehement, dass die Hunnen jemals in Ungarn waren.

Da half auch nichts, das ich die Nibelungengeschichte dagegenhielt, in dem Etzel (Attila) auftritt. Erst spaeter wurde mir klar, warum diese Hunnengeschichte so widerstritten wurde. Sie war einfach aus dem ungarischen Geschichtsunterricht gestrichen worden und damit aus dem Bewusstsein verdraengt. Der Primas von Ungarn, Kardinal Mindszenty hatte in seiner beruehmten Widerstandsrede anlaesslich des ungarischen Aufstands vom Einfall der Hunnen gesprochen. Er meinte damit jedoch die sowjetischen Besatzungsoldaten und jeder Ungar hat das damals auch gewusst. Der juengeren Generation wurde dann der Zugang zum historischen Wissen versperrt. Hegyeshalom - weiss gestrichener Betonzaun neben dem Bahnkoerper. Grenzer, Zoellner, Geldwechsler - Kontrolle. Die halbstuendige Haltezeit nervt. Erst nach dem Anfahren weicht der Druck, vorbei an den olivgruen gekleideten Grenzsoldaten mit ihren Kalaschnikows. Mit dem Druck weicht auch der ganze angehaeufte Wiener Stress. Aber das ist immer so, wenn ich mehr als hundert Kilometer von Wien weg bin.

Ueber den Weichen erzeugt der Zug einen schoenen Klang; der leise Glockenschlag der ungarischen Staatsbahnen. Irgendwo in der ungarischen Tiefebene haelt der Zug. Ueber ihm die Milchstrasse am in weitem Bogen am Firmament.
Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen. Seitdem ich nicht mehr ins Waldviertel fahre, habe ich sie nicht mehr gesehen. Die Milchstrasse. Sternsteinwald - eine kleine Referenz an Dylan Thomas. In Wien ist durch den duennen Smog bloss die Venus zu sehen, und die nicht immer, hin und wieder blinken ein paar Gestirne kalt. Die Betrachtung der Milchstrasse erfreut mich jedesmal. Der Anblick erzeugt Klarheit und laesst die alltaegliche Enge vergessen. Ich zeige der Burgenlaenderin den Polstern - Polaris. Sie wird immer aufgeregter; der Zypriote wartet. Dahinfahren, nachdenklich sein, plaudern. Die industriellen Ballungen nehmen zu. Ferenzvaros - Budapest - der runde stahlglaeserne Kuppelbogen des Keletibahnhofs - Ostbahnhof.

Die ungarischen Schaffner tragen aehnliche Uniformen wie die oesterreichischen Brieftraeger. Die Geschichte lebt im Untergrund. Akos Birkas, ein international bekannter ungarischer Maler wird ueber seinem Schreibtisch ein schwarzes Kreuz haengen haben, so eines, wie es von meinen Grosseltern auf mich gekommen ist.
Daneben wird das Bild eines kaiserlich koeniglichen Offiziers und das Bild des Unterseebootes, das ihm anvertraut gewesen war, haengen.
Im Gespraech wird er erwaehnen, dass er von schlechter Abstammung sei.

Der Enkel einer altoesterreichischen Buergersfamilie, der ungarisch, deutsch und italienisch spricht, hatte fuer das kommunistische System nicht den richtigen Stammbaum. Es fehlte ihm die proletarische Ader. Mir faellt erstmals auf, dass die Klassenlehre gewissermassen "rassistische" Zuege traegt. Er sagt es nebenhin, nicht einmal ironisch. Die Umkehrung der Geschichte ist fuer ihn normal geworden. Zumindest ist jener ironische Unterton , den ich sonst in Budapest sooft wahrnehme,daraus verflogen. In seinen Bildern erklaert er seine Liebe zu Ungarn, so wie auf andere Weise Janos Vetoe das auch macht. Die Stefanskrone malt er geteilt, mit dem schiefen Kreuz nach unten. Er malt alle seine Bilder in zwei Teile geteilt, gespalten, zerrissen. Das Herz, Mitteleuropa, mitten entzwei. Eine schrille Beweglichkeit spricht aus den Arbeiten. Er ist anerkannt und doch ein kritischer Beweger der Szene.

Einige Jahre spaeter wird er Ungarn auf der venezianischen Biennale repraesentieren. Heute malt er gespaltetene Bilder, ovale Kopfbilder.

Er spuerte, dass eine alte, lang fortdauernde Geschichte nicht durch ein neues Szenario einfach ueberwunden und vergessen gemacht werden kann. Er verwendet das Wort Palimpsest.
Ein Schluesselwort fuer Europa, fuer Freud, das mich selbst seit der Lektuere von Thomas de Quincey nicht mehr losgelassen hat.

>Unzaehlige Schichten von Vorstellungen, Bildern, Empfindungen sind nacheinander auf dein Gehirn niedergesunken, so linde wie das Licht. Es ist, als habe eine jede ihre Vorgaengerin begraben. In Wirklichkeit jedoch ist keine umgekommen.<
de Quincey

Welch schrecklicher Gedanke fuer jene, die versuchen die Geschichte umzuschreiben, umzudeuten, zu verbiegen und zu verleugnen.
Auf einer meiner spaeteren ungarischen Reisen kommt mir der Einfall, Stalin als Geschichtsfaelscher und Blaubart darzustellen. Orwells Ministerium der Wahrheit und das Tollhaus der Luege als Travestie.

Ich verabschiede mich von meiner Reisegefaehrtin und versuche Geld zu wechseln. Zu spaet alles, geschlossen. Die Uniformierten, die ich frage, verstehen mich nicht. Wie ich spaeter in Erfahrung bringe, koennen sie mich auch gar nicht verstehen.
Sie verstehen nur russisch. Es sind sowjetische Soldaten. Ich winke ab, trete hinaus auf den Platz und nehme mir ein Taxi.

Ich steige kurz vor dem Hoesoek tere aus, und sehe mich Arpad und seinem wilden Gefolge gegenueber. Die Nepkoezstarsasag liegt vor mir, seltsam hell und punktuell beleuchtet. Ein leichter kristalliner Schneefilm liegt ueber der Strasse, ueber den klassisch strengen Gebaeuden, deckt bloss wie ein leichtes seidenweisses Tuch den Prospekt. Ich trete in ein Wintermaerchen.

Nepkoezstarsasag 112, Klub der jungen Kuenstler. Studenten und die ungarische Avantegarde, die dem Staat nicht allzunahe stehen will. Das System zeigt Liberalitaet. Alles an einem Platz, leicht kontrollierbar und doch offen.

Laszlo Beke findet mein Vorhaben eines Ostwestsymposiums so verrueckt, dass er es gut findet und sich dafuer einsetzen wird. Und die Wichtigen sind auch fast alle da. Daraus wird dann das 3.Grenzzeichenprojekt werden.

Laszlo hat mein Vorhaben gut verstanden. Wahrscheinlich habe ich es auch ueberzeugend vorgetragen .In einer Zeit, in der offen mit dem Einsatz von Kernwaffen spekuliert wird, fuer Kooperation und Austausch zu sein, heisst auch , mitzuhelfen den Krieg zu ueberwinden.

Was hat das alles mit Kunst zu tun? Nichts, ausser mit den vitalen existentiellen Beduerfnissen des Kuenstlers die er mit allen anderen teilt, teilen muss. Kuenstler sind Hasardeure. Sie muessen hasardieren, um in der Welt des Gleichfoermigen aussergewoehnliches in die Welt zu setzen.

Positive Spannungen erzeugen, karthatische Effekte ausloesen. In dieser Weise kollidieren sie in allen Gesellschaften mit den Normen und Regulativen. Und doch kann dieser Widerstreit der individuellen und gesellschaftlichen Kraefte zu fuer allen Seiten erleichternden Loesungen fuehren.

Die neue ungarische Avantgarde, die in der Zwischenzeit etwas aelter geworden ist, zeichnete sich aus durch einen strengen Individualismus. Dies war nicht als Rueckkehr in die private, intime Sphaere zu verstehen, etwa als Neue Innerlichkeit , wie sie etwa im deutschen Sprachraum im Uebergang von den 70er zu den 80er Jahren aufkam. Nein, dem Individuum wird sein Grundrecht auf Ureigenheit zurueckerobert.

So wie etwa der Medicipapst Leo X nicht umhin konnte, der katholischen Welt und damit Europa und der kuenftigen Geschichte das Dogma der Individualitaet der menschlichen Seele zu bestaetigen, und damit das Grundrecht des Einzelnen erneut artikulierte.
Gerade die Frage der Individualitaet hat in jedem totalitaeren System, ob kommunistisch, ob faschistisch, ob konsumkonformistisch, eine nicht zu unterschaetzende Sprengkraft. Sie wirkt letztendlich in einer hoeheren Qualitaet befreiend.

Gyoergy Jovanovics >Ember< - (Mensch) ist 1968 entstanden und loeste damals eine grosse Diskussion im offiziellen ungarischen Kulturbetrieb aus, die seinem Erzeuger jahrelangen Restriktionen einbrachten.

Fuer mich ist diese gipserne Skulptur, Jovonovics arbeitet mit zerbrechlichen und fragilen Gips, zu einer Symbolfigur der neuen Haltung geworden.

Der Mensch, die Rechte an der Huefte geballt, die Linke an den Magen angelegt. ueber dem Sonnengeflecht, die Gestalt in ein gipsernes, weisses Tuch gehuellt, der Kopf aufrecht. Das Antlitz und die Augen in die Welt gerichtet.Die Welt klar und deutlich wahrnehmen , ohne die aeussere Macht eindringen zu lassen.

Es wird nach meiner Rueckkehr schwer sein, den Wienern klar zu machen, dass der sozialistische Realismus aufs Abstellgleis geschoben wurde. Sie haben eine grosse konstruktivistische Tradition in Lajos Kassak, inMoholy-Nagy, die durch Bak und eine Reihe von anderen , auch Jovanovics, ungebrochen sich fortsetzte. Mir gefaellt das konstruktive, auf seine Art sehr analytische Denken, dieses Herantasten an eine gefaehrliche Wirklichkeit, der risikobesetzte Versuch die ideologische Zensur auszutricksen, zu ueberwinden, blosszustellen. Das erfordert ein bestimmtes intellektuelles Niveau.

Die gemuetliche Wiener Grundhaltung, die Kunst aus dem Bauch schaffen zu wollen, dieses verflixte barocke Erbe, fuehrt allzuoft zu einem verwaesserten Kopf, zu voelliger Indifferenz in zwischenmenschlichen Beziehungen, zur Entseelung des Geistigen in der Kunst und im Leben.

Ich erinnere mich etwas wehmuetig an die patriarchalische Person des Miklos Erdely, der mit geringsten Mitteln einen der eindrucksvollsten surrealen Filme mit realistischer Aesthetik geschaffen hatte: Die Traumrekonstruktion.
Dieser Film liess mich dann auch sagen, dass die ungarische Kunst so etwas wie magischer Realismus sei. Aber diese Empfindung ist verflogen, sie ist bereits Kunstgeschichte.

Wie jedes wirklich katholisch gepraegte Land haben auch die Ungarn eine etwas seltsame und uebersteigerte Beziehung zum Tod, die sich manchmal platt symbolistisch, in der Folkloreabteilung, und manchmal eindringlich in grossartigen abstrahierten Kunstwerken wie etwa der >Traumrekonstruktion< als versteckte Mahnung offenbart. Und so wie die Oesterreicher haben sie eine besondere Beziehung zur Melancholie, zur Schwermut. In der nuechternen Jetztzeit spiegelt sich das allerdings eher als Depression.

Silvester 1983. Mein Kopf ist schwer. Kis, kis , kis (das ungarische Wort fuer klein) Vodka. Kis Vodka, schmale Oekonomie, kleine Oekonomie. Ostblockoekonomie. Nagy, nagy, nagy Vodka.... oesterreichisch, ungarische, russische Saufmentalitaet... sich niedersaufen.. sich unter den Tisch trinken... die Wirklichkeit ausblenden.

Silvester 1983. Ich erwache in Acquincum, in einem Neubauviertel.
Ich schlafe privat, bei einem Filmemacher, es ist einfach guenstiger und billiger als in einem der teuren Interhotels, die laengst schon an die globalen Preiskategorien angepasst sind und dem Reisenden einen hohen Standard vorspiegeln. Gemessen an der Gesamtsituation der Stadt war das allerdings ein potemkinsches Dorf.

Ungarische Gastfreundschaft. Wie hiess es so schoen: Fuer eine Flasche Whiskey bekommst du Budapest und fuer eine ganze Kiste schenken wir dir ganz Ungarn dazu.
Allerdings nur solange der Whsikey reicht.

Wohnsiedlungen wie jene in Acquincum sind so anonym wie ueberall anderswo auf der Welt. ABC Ladenwelt !

Ich troeste mich damit, das Acquincum eigentlich keltischen Ursprungs ist und Atlinkan geheissen hat. Das bedeutet soviel wie klares Wasser, aber klar war dort nur mehr polnische Wodka. Ein ordentlicher Stolicnaya war gar nicht aufzutreiben.

Jedenfalls Atlinkan. Keltak, tak, tak. James Joyce laesst gruessen, der, wie man weiss, keine Kneipe gescheut hat, und solch legendaere Pinten , die der Beste beehrte, habe ich dann auch in Triest kennen gelernt. Poldi Bloom, Virag aus Ungarn, der zum Wandern verdammte Ahasveros, Ullysys der keinen Suffwinkel in und um Dublin, in Triest, in Zuerich und Paris ausgelassen hat, pflueckt fuer die geduldige Frau Nora Barnacle einen Strauss ungarischer Heideblumen. Ich halte ein Taxi an. Margit hid, marx ter, lenin utca, tak , tak, tak. Kostet soviel wie ein Strassenbahnfahrschein in Wien. Tak, tak, tak. Ich treibe mich ziellos in der Innenstadt herum. In Bel Varosi. Ganz Budapest blaest aus Papptroeten, die an jeder Ecken angeboten werden. Vaeterchen blaest, Soehnchen blaest und Toechterchen stoesst auch ordentlich in die Troete und Mama Hungaria ist ganz aufgeregt. Dieses klaegliche Getute aus Kindertroeten erfuellt die ganze Stadt. Die Kleinsten koennen kaum laufen, doch mit ihren Troeten verblasen sie alles und jedes. Eine Stadt ist vollkommen entfesselt.

Drei Stunden laufe ich herum, eingehuellt in Laerm und Bewegung. Das alte Jahr verblasen. Die trueben Gedanken verjagen Ich hoere keinen einzigen Knallkoerper. In Wien wird an allen Ecken und Enden geknallt. Taub und muede kehre ich zurueck nach Atlinkan. Tamas hat eine grosse Party angesagt. Auf dreissig Quadratmeter tummeln sich 40 Menschen . Nagy und Kis. Ich trinke erst um Mitternacht. Aus dem Fenster und vor dem Fenster Feuerwerkskoerper. Menschen laufen auf einander zu. Sie tanzen. Eine Tuete ungarischen Dadaistenfrieden in den den ABC-Laeden zum Abholpreis. Magyar New Rock. Die jungen Ungarn sind in ihrem gruenweissroten Submarine unterwegs. Mich erinnerts an die spaeten sechziger und die fruehen siebziger Jahre.

Um drei Uhr will ich noch in die naheliegende Havannabar auf der Margareteninsel. Gleich in der Naehe, rueber ueber Arpads Bruecke Bundesdeutsche PKWs, wenige Oesterreicher. Frauen im Abendkleid, teuren Klunker am Hals. Die Maenner im Smoking, aus dem Speisesaal klingt "Wien, Wien nur du allein". Ich ,in Jeans, zwar mit Sakko und Krawatte, spuere sofort, dass ich hier nicht hinpasse.

Der Tuerlschnapper schaut mich abschaetzig an und haelt die Tuer zu. Ich ueberlege mir noch, ob ich ihm einen der magischen amerikanischen Scheinchen, die im Osten immer fuer gruenes Licht sorgen, hinueberreiben soll.

Ich erinnere mich an Miguel de Cienfuegos, von wegen Havanna und lass es sein, ordere ein Taxi, ein Oelscheich aus dem Golf kreuzt noch meinen Weg, und ich bin weg. Bundesdeutsche Mark, ein wieselflinker Ungar, der fuer Dollars das Eldorado der Ostblockspieler oeffnet, die weinerliche Wienermelodie, die aus dem Speisesaal dringt und die verpfuschte kubanische Revolution, die fast in den dritten Weltkrieg muendete, das alles auf einmal ist mir zuviel an dichtem Assoziationsangebot.

Einfach weg, nur weg in irgendeine vernuenftige Hotelbar, und mit einer etwas abgetakelten Henni verbringe ich den Rest der Nacht. Zu einem etwas spaeteren Zeitpunkt werde ich in aller Morgenfruehe eine aehnliche Hanni nach einer durchzechten Nacht mit dem Taxi nach Czeppel bringen, in einen Budapester Arbeiterbezirk in Randlage. Und da werde ich erstmalsam fruehen Morgen die abgearbeiten Gesichter der ungarischen Arbeiterklasse, die ihrer Arbeit zustreben, sehen und werde wissen, dass mich eine andere Wirklichkeit eingeholt hat.
Die Maer vom Arbeiterparadies loest sich mir nichts dir nichts auf.
Der Kommunismus hat fuer die, in deren Namen er regiert, wenig bis gar nichts uebrig. Aber das hat schon Milovan Djilas in den 50er Jahren in seinem Buch >Die Neue Klasse< beschrieben und dafuer unter Joseph Broz Tito ca 12 Jahre Kerker ausgefasst. Unter Kampfgefaehrten ist man im Kommunismus nicht zimperlich. Siehe Reijk und Rakosci, siehe oben, siehe titoistisch, amerikanische Abweichung, siehe Stalinistenprozesse usf usf usf ... in Wahrheit eine Strasse der Traenen und des Leids.

Warum interessiert mich das alles? Ich lebe in einem sensiblen Raum. Wien war lange Zeit in einer aehnlichen Lage wie Berlin, eine Schnitt- und Grenzstelle zwischen zwei Weltsystemen: Hegyeshalom war so etwas wie Checkpoint Charly. Jetzt ist der Raum offen, die willkuerlich in Jalta gezogenen Grenzen haben sich zugunsten westlich demokratischer Systeme nach Osten verschoben. Aber trotzdem wirkt der Raum destabilisiert, er liegt oekonomisch am Boden und weiss noch nicht recht mit den neuen Freiheiten umzugehen, ist ein wehrloses Feld fuer Spekulanten und Gluecksritter aller Groessenordnungen.

Mit dem Niedergang des alten Regimes ist auch ein geistiges Vakkuum entstanden, die neue Avantgarde, die unter relativ stabilen Zustaenden entstanden ist, ist nicht in der Lage dieses Vakkuum aufzufuellen und nun kommen die alten nationalistischen Toene hoch, die das alte Europa schon so sehr gequaelt haben und die offensichtlich auch dem neuen nicht erspart bleiben. Die alte oesterreichisch - ungarische Monarchie galt lange Zeit als Integrationsmodell des neuen mitteleuropaeischen Dialogs.
In Triest etwa gibt es als besonderes Kuriosum eine Splitterpartei, die sowohl von Traditionalisten, Monarchisten und Linksradikalen Zulauf hat. Und ueber all spielen die Nationalismen eine Rolle. Da ein bischen Autonomie gegenueber Rom, dort los von Belgrad, Boehmen und Slowakei driften auseinander, Serben geraten sich mit Kroaten in die Haare, Rumaenen kojunieren die ungarische Minderheit und erwachen mittendrin im Voelkerhader der alten Donaumonarchie, von der ja boese Zungen behaupten, dass es nicht die gute alte Zeit gewesen waer, sondern schlicht und einfach ein Voelkerkerker gewesen ist, den noch Joseph Stalin vor dem endgueltigen Zusammenbruch in Wien studiert hat und der ihm moeglicherweise als Modell fuer seine sowjetische Agglomeration gedient hat. ..................

Im Roman >Trotta< , laesst der mon-anarchistische Chronist des Niedergangs, Jospeh Roth, einen Grafen in der Irrenanstalt einsitzen, der ein paar Stoffetzen auf den Oberschenkeln hin und herschiebt. Es stellt sich heraus, dass sie ihm als Analoges fuer die zerfetzte Kartographie der Generalstabskarte dienen muss und muede murmelt er, dass er den Fleckerlteppich nicht mehr miteinander verknuepfen koenne.

Der zweite Weltkrieg folgte dem ersten globalen Desaster. Beide Kriege festigten den Aufstieg der USA zur unantastbaren Fuehrungsmacht.

Genauso eine Hin- und Herschieberei von Fleckerln, Resten, und nationalen Identitaeten zeichnet sich jetzt wieder ab. Die Welt ist in Bewegung geraten, als die alte Donaumonarchie und mit ihr Mitteleuropa in Scherben fiel. Jetzt ist Mitteleuropa wieder in Bewegung geraten, nicht zuletzt durch die Bruechigkeit und den Niedergang des sowjetischen Grossreichs, und damit ist auch Europa in Bewegung geraten. Die Ungarn haben wieder einmal, nach 1956, historischen Mut bewiesen, indem sie, noch Mitglied des Warschauer Paktes, DDR-Buergern die Ausreise ueber Oesterreich nach Deutschland ermoeglichten.
Wie wir heute wissen, war auch das ein mit Amis und Sowjets abgekartetes Spiel. Akos zeigte sich verwundert darueber, dass in Ungarn nach dem Abtritt des kommunistischen Regimes nicht so ein Aufatmen und Durchatmen wie in Spanien nach dem Tod Francos und nach der Einrichtung der Demokratie erfolgte. Offensichtlich besteht ein Unterschied zwischen der Beendigung eines faschistischen Gewaltregimes und der Aufloesung einer sozialistischen Diktatur. Die Ratlosigkeit ist ein Moment der Destabilisierung, die durch die Konsumorientierung nicht ersetzt werden kann.

Zurueck in das Jahr 1983. Neun Uhr Morgens. Orientexpress. Ich werde in Wien zurueckerwartet. Budapest Hotels International. Fremder >ember< sieht nur die Oberflaeche.

Glamour, Hungarian Stage, Primas und Wein, suesser Tokayer und Marillenschnaps. Alle Ungarn sind Schauspieler. Devisen, Devisen, Devise. Noch einmal Elisabeth, Erszebeth von Ungarn.

Die einsame Strasse der Erszebet Schaar in der Nemzeti Galerie im Koenigspalast, bewacht von den maechtigen schwarzen Schwingen des Steppenadlers, der in natura dazu einen gelben Schnabel hat.
Sein Verbreitungsgebiet und Biotop reicht bis vor Moskau und bis an den Neusiedlersee und findet sich seltsamer Weise voellig durch Zentraleuropa getrennt im spanischen Raum wieder.
Wer die oesterreichische Geschichte wirklich kennt, findet das allerdings gar nicht seltsam. Die Schaarstrasse. Abweisende, starre Frauenfiguren. Karl Marx mit Haarstraehnen aus silbernem Draht. Die ertrinkende Elisabeth an Israels Kueste. Die Einsamkeit der Frauen. Die Abwesenheit von Leben. Lebensdefizit.
Kunstmachen ist mithin Selbstbehauptung. Jahre spaeter werde ich einen Essayband ueber die neuere slowenische Literatur Wege der Selbstbehauptung nennen , die schliesslich zur Umgestaltung und Aufloesung des totalitaeren Gefueges fuehren.
Den nachfolgenden Balkankrieg habe ich nicht geahnt.
Weisse Flecken ausfuellen. Schoepferisch sein. Besser als die in Wien lange Zeit gaengige Verdraengungstheorie, die da sagte Kunst sei bloss Sublimation eines sexuellen Defizits. Sigmund Freud, Muehl und die Aktionisten. Damals habe ich noch gehofft, dass der ungarische Weg eine neue Gestalt annehmen werde. Doch diese Hoffnung hat sich nicht erfuellt. Es war da etwas in der ungarischen Kunst, dass mir nun abhanden gekommen ist.

Damals habe ich noch geschrieben: Die alten und neuen Quellen fliessen ueber. Jovans Camera lucida: Das Licht staerker machen. Noras verhuellte Frauen, aus Seide geknitterter Faltenwurf.
Ich weine den alten Verhaeltnissen keine Traene nach, aber ich setze auch kein kreatives Vertrauen in die nun folgende technokratische Rationalitaet, die sich stuemperhaft in das elektronische Zeitalter vortastet, die Ungleichzeitigkeit ueberwinden muss, die Qualitaetsspruenge in technologischer und zwischenmenschlicher Beziehung vor sich hat, von denen sie bloss die ersten Schritte erahnen koennen.

Budapest ist mir zum Spiegel meiner Welt geworden. Die Spiegel verschmelzen.
Die Grenze ist bloss ein verrottender Zaun, und der >Eiserne Vorhang< ist nun tatsaechlich weitlaeufig verschwunden. Die Welt wird nicht so sein, wie sie frueher einmal gewesen war. Sie wird anders sein, aber noch ist sie nicht wirklich.


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