Venezianische Totenklage


venice caddish from the bottom


© franz krahberger

ich bin mit ihr am fruehen abend von mestre herkommend an venedigs kuesten parkplatz angekommen. der nebel hing ueber der lagune und es ist zugig wie feucht gewesen. gefahren bin ich ihren froschgruenen renault mit dem handdrueckschaltgestaenge neben dem lenkrad, das mir so gar nicht passte.

da ist mir mein zu schrott gefahrener morris mit dem schottischen schaltsystem schon lieber gewesen, mit dem ich noch mit ivic und deren tochter ruth durch ganz frankreich gefahren bin. wir haben zwei tage im watt zu fuessen von mont saint michel verbracht, ich sammelte muscheln und bereitete daraus ein muschelgericht.
from coast to coast.
atlantic trans middlemare.
marie saint la mere und agues mortes, dem maurischen festungsgeviert.
da habe ich unter zigeunern unser zelt aufgeschlagen. aber das ist eine andere geschichte.

sie und ich nahmen eines der staedtischen vaporettos, um nach academia zu kommen, um dort in naehe in einer kleinen niedlichen wie freundlichen pension, die ansonsten von jungen americans bevorzugt worden ist, abzusteigen.

im vaporetto hat mich von einer sekunde zur anderen der zauber venedigs gefangen genommen. und ich sah nach den steinernen ufern der haeusern, an die im stetigen rhytmus der leichte wellenschlag der lagune und die von den motorbooten ausgeloesten verdraengungswellen klatschten.

canalettos blick hatte ich damals noch nicht. doch ist er mir spaeter zugefallen. wie ich vieles in meinem leben erst spaeter begriffen habe. man bleibt ein suchender, solange man erfaehrt. wenn mann wirklich weiss und begriffen hat, versinkt vieles in bedeutungslosigkeit.

so, wie nun venedig immer tiefer sinkt. ohnehin nur mehr buehne des welttourismus und der rigorosen restvermarktung.

nichts mehr von jener zeit, als wir mit unseren stolzen segelschiffen von gibraltar herkamen, um den pfeffer gegen das geld der venezianischen pfeffersaecke zu tauschen, und die lange seefahrt aus suedostindien ums kap der guten hoffnung hinter uns gebracht hatten.

jetzt im vaporetto verspuerte ich den alten zauber der ankunft wieder. und war weggetreten, was ihr nicht passte und es sie noch zusaetzlich veraergerte, weil ich meinen gefallen an einer schoenen venezianerin nicht verbergen konnte.

doch wir kommen gut den canale grande entlang in academie an, wo jene venenzianische malerei ihren platz hat.

ihre misstimmung wie auch ihr zorn darueber, dass sie reise und aufenthalt fuer beide zu zahlen hatte. ich war naemlich flach wie ne flunder oder so mittellos wie james joyce in den triester jahren. der hatte wenigsten einen job und italo svevo hat ihm seinen suff bezahlt, im libero, unter der triester seefestung san juste.

was das mit venedig zu tun hat? im cafe tomasseo an der hafenmolle von triest ist casanova gesessen und hat truebsinnig in richtung venezia geschaut, das er nach seiner flucht aus den bleikammern nicht mehr betreten konnte.

in dieser ersten nacht in der italienischen pension habe ich ihr italiensches gesicht erkannt, dass so untypisch kaerntnerisch gewesen ist. ab da an nannte ich sie augenstern.

unsere tochter war damals um die zwei jahre alt, sie war waehrend dieser weihnachtstage am woertersee bei ihren grosseltern verblieben, und augenstern und ich hatten nach jahren der trennung wieder zu einander gefunden.

am naechsten morgen machten wir uns auf nach san marco. zuvor bewunderte ich noch santa maria del salute vie lagunenblick, die dem canale, an dem wir wohnten, gegenueber lag.

auf plazza san marco trafen wir wie vereinbart maler franz und walters freund, den spieler, die mit ihren feen nach venedig gereist waren. auch rosenblueth und gueldenstern waren angekommen. etwas spaeter soll mir noch mein freund jalmar stoppelfeld und seine gefaehrtin ueber den weg laufen, mit denen wir am tag vor silvester noch in einer kleinen, aber feinen gaststaette zu mittag gegessen haben.

klar haben wir in harrys bar vorbeigeschaut, in leichter schieflage wieder herausgekommen, gingen ins floriani auf einen cafe, und in einem kleinen bistro. nach dem ich das hilfreiche zueinander der venezianischen italiener zu einander bemerkt hatte, konnte ich mir sogar eine reale version des italienischen kommunismus vorstellen.
comte del sardo di nato berlinguer hatte mich zu dieser zeit sehr interessiert.

italiener nutzen ihre urbanen einrichtungen grundsaetzlich als lebensbuehne. wenn man auf eine plazza tritt, wird man umgehend wahrgenommen, so wie man selbst wahrnimmt. da schaut keiner oder keine am anderen vorbei, wie das etwa in wien der fall ist oder der fall gewesen ist. man nimmt geradezu automatischen mit freier miene den aufrechten wie weitsichtigen venezianischen gang ein.

in die kathedrale san marco habe ich kurz verweilt und habe einen prediger gehoert, der so aussah wie savanorola und vergleichbar gegeifert hat.

das war nicht der stil johannes XXIII, roncali, des patriarchen von venedig, meinem jugendpapami, den alle so gemocht haben und der auch seinen guten jugendfreund, den bilderhauer und kommunisten manzu nie verleugntet hat.im gegenteil, johannes hat dafuer gesorgt, dass giacomo auftraege des vaticans erhalten hat und bekam im gegenzug beste italienische bildhauerkunst der moderne, fundiert an der latinischen klassik.

hieronymus boschens totenengel des hellstrahlenden jenseitigen himmelslichtes habe ich erst bei meiner naechsten venedigreise, gut zehn jahre spaeter, gesehen. zu diesem zeitpunkt war dieses bild im dogenpalast dem verfall preisgegeben, bosch hat zinkfarben verwendet. heute strahlt es wieder im neuen duester illuminierten glanz des uebergangs. ein kleines wunder der restaurierkunst. diese stadt hat noch viele solcher wunder noetig, so sie im alten glanz bestehen will.

des abends haben wir uns mehrmals im nebel und in engen gassen verirrt, im kreis gelaufen und dann abseits angekommen. doch auch das war kein fehl. so fanden wir in eine oder andere der einheimischen venezianischen kneipen und ich talkte mit ihnen in anglaise.

das truebe licht der spaerlichen laternen links und rechts der schmalen kanaele, in die gerade zwei gondolas, oder ein motorboot und eine gondel knapp nebeneinander passen, zeigte den erbaermlichen desolaten fundamentzustand der stadt, die vom wassergrund her ruiniert wird.

mit schuld daran die motorboote und die alleinige orientierung am tourismus. andererseits ist venedig eine alte, sterbenssehnsuechtige dame, die gerne in ihrem letzten glanz versinken moechte. das wahre wesen ihrer natur ist der alten dame schon lange abhanden gekommen und da laesst sich auch mit kulturhilfsprogrammen und lagunensperren vor dem eindringenden hochflutenden seegewaessern wenig ausrichten.

vor der wegfahrt bin ich mit ihr noch in der grant galeria im palazzo grassi am canale grande gewesen und habe mein erstes rebbild von marc chagall gesehen.
den doppelgesichtigen, den ich damals den shizoreb nannte, den ich heute reb doppelbogen nenne.

eine chassidish baalschemish meditations malrabbistik vom chasarisch charsiddischn chagall, die in mir den chaddish erweckt hat.

ich habe noch einige rebs von chagall gesehen, aber keiner mehr hat mich so beeindruckt wie venedisch reb.

und so ich darf, widme ich diese erinnerung an den doppelreb dem gedaechtnis an den warschauer aufstand und der erinnerung an die chasarischen ostjuden, die in groesster zahl im inferno des holocausts umgekommen sind..

shoa kaddish venice. zum abschied hat mir kafkas himmelsjaeger gracchus noch leise, wiederum aus dem nebel, zugefluestert, ich moege wiederkommen.

zu silvestertag am parkplatz angelangt, musste ich zuendkerzen kaufen und wechseln. die waren feucht wie unbrauchbar geworden. ein gutes geschaeft fuer venezianos parkplatzwaechter und tankstellenbesitzer, wie ich mir erzaehlen habe lassen.

am silvesterabend sind wir nach der fahrt durch das kanaltal in klagenfurt angekommen und ich habe die nacht allein wie muede im hotel robert musil am bahnhof verbracht, waehrend augenstern mit meiner tocher silvester in velden bei ihren eltern feierte.
warum das so gewesen ist, werde ich hier nicht erzaehlen. am neujahrstag trafen wir uns in einer klagenfurter stadtkonditorei und fuhren zu dreien zurueck nach wien.

kurz nach zeltweg, wo ich meine militaerflugdienste geleistet hatte, zerschlug ein stein, ausgeloest von einer sterischen autowildsau auf bmw die windschutzscheibe unsres kleinen franzoesischen strassenfrosches.

so mussten wir noch eine nacht im steirischen sankt.georgen verbringen, nicht unweit meiner heimat ueber den bergen im parallelen tal. auch da gibt es ein santt georgen, und das ist der ort meiner geburt. und getauft wurde ich in der kirche des drachentoeters.
augenstern war leicht sauer, aber unsere tochter hat sich im murtalischen georgen total wohl gefuehlt.

am naechsten tag bin ich bei kaltem jaennerwind nach knittelfeld gefahren, um eine neue windschutzscheibe zu besorgen. ab da an stand der heimreise nichts mehr im wege.

von augenstern habe ich mich spaeter getrennt und ich habe jahre im weiten land der vereisten seen zugebracht.

ich habe eines gelernt. um neu zu leben, muss man alles vorherige hinter sich lassen, ohne es vergessen zu muessen. man muss imstande sein, das lebensschiff auf hoher see umzubauen, ohne einen hafen anzulaufen.

und so muessen wir auch unsere verhaeltnisse abschliessend regeln. da dies niemals einseitig geschehen kann, lassen wir in diesem sinne prosperos prolog aus the tempest gelten.
wo ihr begnadigt wuenscht zu sein, lasst eure nachsicht mich befreien.

das vergangene versinkt hinter uns. wir koennen es zwar bewahren, doch nie in der form, in der es ursprunglich sich konstituiert hat.

das vergangene ist oft dem neuen hinderlich, steht ihm im wege und verhindert den wahren neubeginn.

doch es kann uns auch mit faszination, sentimentalitaet und wehmut und freude des wiedererkennens erfuellen.
das vergehende entwickelt eine eigenartige beruehrende aesthetik des verfalls im urbanen wie in der natur.

in betrachtung der natur wird das nebeneinander von aufbluehen und vergehen. von wachstum und absterben deutlich.

das merkwurdige daran ist, dass gerade uns dieses nebeneinander von vergehen und leben, uns die welt als ausgewogen wahrnehmen laesst.

diese gleichzeitigkeit unterschiedlicher prozesse, der des lebens und der des verfalls birgt sowohl verstehen des vergaenglichen in sich wie die hoffnung des lebendigen.

um erneuert leben zu koennen, muessen wir ueber die vergangenheit bescheid wissen, um sich von ihr loesen zu koennen. man sich sich ein klares wie stimmiges abbild davon machen.

erst dann eroeffnet das leben und der himmel neue wege und bringt neue geschenke. und die sind mir zuteil geworden.

doch der caddish, ausgeloest von reb doppelbogen, hat mich nie mehr verlassen. und das ist so richtig.

meine tochter seh ich und hin wieder. doch wir sind zwei aehnlich sture charaktere, die leicht polar aufeinander krachen.

noch versteht sie es nicht, augen wie ohren auf die welt zu richten. noch will sie die welt nach ihrem sinn tanzen lassen.

wahrscheinlich wird auch sie zum schwarzen golem reb nach josefzov praha pilgern muessen, wie ich es spaet, aber doch, getan habe.

ich hab loewen reb einen schwarzen knopf auf sein hekatomb getan, und der knopf ist aufgegangen.

franz krahberger, august 2004



Elisabeth Thamm zum Gedaechtnis



caddish pict




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