meinblick und grenze im kopf


© Armin Baumgartner

Kurzprosa

meinblick


ein einziger tag: und da versinkt mein blick tief im weiß des papiers, das vor ihm liegt, weiß, unanständig leer, unfruchtbar im saft und gnadenlos, da versinkt er tief im nichts, mein blick, gerät in unruhe und wirft sich rückwärts zurück in meinen kopf, wuchtig, und entlang unsichtbarer spinnfäden hantelt sich mein blick weg von mir nieder auf das weiße blatt papier und wieder zurück, schnellt auf und ab, ist eine andauernde, immer wiederkehrende umpolung von wahrnehmung und dichtung, geschieht, ist da, ist ein fremdartiges entstehen von annahmen, andauernd, mich bestimmend, mich ergreifend, mich formend und zugleich mein mich erlösend, einlösend, immer in sich wiederkehrend, rundum seiend, mein blick ist zuweilen das überprüfen einer wahrheit, meiner wahrheit, meines jetzt vielleicht, und ist zudem auch noch mehr im neutralen begreifen, ist kristallen gleich dogmatisch pur und vergleicht sich, vergleicht mich und prüft ständig wissentlich getäuscht, und muss er sich als eine immerwährende sattheit verstehen, von hunger geplagt, ist er dennoch nur ein blick, ein langer blick, ein kurzer blick, mein blick, ist manchmal nur ein augenblick.

das ist er wieder, mein augenblick, mein blick, mein braver blick, im dunkeln wie im hellen, als auch im fahlen licht, immer ist er da, mein blick, nie lässt er mich allein, nicht im sein und nicht im traum, ist ein chamäleon der zeit, ist die lokomotive meiner wahrnehmung auf einer nie enden wollenden schienenstrecke, fährt entlang erdachter landschaft, und klingt stählern dabei, er, mein blick, ehernes glas, erdachte klinge, scharf und stumpf zugleich durchstößt er menschenfleisch, baumrinden, häuser, berge und leicht erdachtes, lässt mich dabei erfahren und enttäuscht mich elends, ist mein teurer blick, auf den ich mich verlassen muss, auf den verlass sein muss in aller täuschung auch, in aller lüge, in aller herkunft, in mechanischem sein, und ich schenke ihm zeit, meinem blick, ich schenke ihm die zeit, breche sie ab und verforme sie, fordere neues von ihm, erdenke mir grenzen, die mein blick nicht kennt, lasse ihn frei und zügle ihn zugleich, sowie auch er mich heimlich zügelt, mein blickfeld mir bestimmt und mich verachtet.

bedenke, ich, bedenke, mein blick ist mein verachter, er ist mein totengräber der bestimmung, erzeugt mich still und immer wieder, mein blick, ein erzeuger ist er, ja, ein stiller schöpfer, ein hoffnungsträger oder tatsachenbericht voller verschleierungstaktik, scheinbar ohne jegliches kalkül, ein verfälscher meiner welt, geradewegs mich ins verderben sehen lässt er und holt mich sanft wieder heraus, er ist ein knabe, leicht und androgyn, ein mann bisweilen, ein kritiker und schiedsrichter, im geheimen und im da, ein wonnebad in der umgebung, mein blick ist meine verewigung in existenzen, ein beobachter im hintersten, er faltet dämmrig das schlussprotokoll meines daseins, gratis, ist im wesentlichen immer da, und kann doch nichts verhindern, nichts besänftigt er, mein blick, ist stur im sein vergraben, erliegt sich selbst und gibt vor zugleich, und ist doch alles da, ist da und windet sich um meinen blick herum, so steht er vage fest in meinem kopf, an zwei angelpunkten schwingt er lässig über der wahrheit dann.

nichts kann er verhindern, mein treuer blick, nichts, was da ist und nichts, was ich erträume, nichts, was nur für sich da ist, und nichts, was ich erhoffe, er ist ein mich bestimmender vorhang, ein werkzeug aus denkgarn, leinwand und zelt, ein fadenwerk, und gern würde ich ihn brauchen können, brauchen für die erschaffung meiner welt, für meine kreation des michs, doch lässt er das nicht zu, mein blick, lässt nur geschehen, lässt das ständige verbot nur zu, erbleicht mich oft und fasst zusammen, ergänzt die grenzen und weitet mir die sicht, erschleicht sich manchmal in gedanken und wendet diese ab, erregt auch meine aufmerksamkeit auf merkwürdigste art, abgehoben von mir selbst, von irgendwo bestimmend, lenkend, augenlenkend, taumelnd in starker unabhängigkeit, ein dieb ist er, ein mitwisser und wermutstropfen des alles: und ich, was stelle ich ihm dar, mit meinem sehwerkzeug? was kann ich mit ihm tun und wozu erschaffe ich denn diesen meinen blick?

so bleibe ich mit meinem blick gerne in frisuren hängen, streife nackt im sehen mitunter erwartungsvoll, zärtlich über kunstvoll aufgestellte schnapsflaschen, krieche den fernet entlang, hauche sehend über den averna, den dunklen kristall, stelle mich dem pitu, dem kognac, dem absinth, dem vermuth, und dem weinbrand, verachte dann unverhofft den metaxa, den napoleon, den brandy, den torres, den martell, und den hennessey und erfühle besänftigt die form eines tequilas, eines bouchets, gleite sanft entlang einer flasche stolichnaya, eines absolut und wybarowa, lehne mich blickdicht an sherryflaschen, an den sandemann, an den cream sherry, an den don zoilo amontillado, durchleuchte die whiskeys, den kentucky, den bourbon und den tennessee, durchsteche die irish single malts, den jameson, den scottish, den glenfiddich, den glenkinchie, den auchentoshan, und versinke sumpfartig im baileys oder im southern comfort, ermuntere am becherovka und betrachte den glanz der edelbrände, erstrahle innen hell und bleibe hängen, hänge dann mit meinem blick in leeren, saub’ren aschenbechern, ertaste mit meinem blick die formen der aschenbecher und streiche unverhofft mit meinem sehfuß in geduldiger absicht über vorhänge hindurch auf die straße.

ich polstere meinen blick auch gern in fremden dekolletees, erforsche neugierig das gewebe feiner unterwäschen, ertaste körperformen sanft und streiche lautlos wieder durch gewelltes haar, geheim, spionen gleich und ohne sinn, erdenke mir gewagtes tief in meinem blick, ganz hinten, dort wo der blick beginnt, erbaue mir nicht stattfindende zärtlichkeiten, verehre und missachte auch, empfinde und erlösche mich, und nage sehends an den enden langer beine, und doch, plötzlich trifft mein blick den einer anderen person, eines fremden menschen und misst sich kraftvoll mit diesem, legt sich sichtfläche an sichtfläche blickdicht aneinander und erprobt des andern widerstand, drückt und gibt auch nach, erdenkt ein spiel, gibt sich hin, stellt sich dar, drückt und versenkt sich schleichend dann mit getarnten fäden zwischendurch ganz tief in diese fremde augen, dringt mit diesen fäden ein in eine fremde welt, und weiß von dieser täuschung, ist sich dieser wohl gewiss, und meldet mir den sieg über diesen fremden blick, den ich fordere, den ich immer fordere als ein betrachter der welt, der ich bin und dann verbindet sich mein blick mit anderen gar, verwebt sich, verknüpft und verstrickt sich auch, taucht wieder ein in fremde augen, sucht nach einem ausgang dort im fremden aug, sucht nach einem eingang, sieht zuweilen stumme blitze dort und oft auch nichts, schreckt sehendlich zurück vor der erwartung, heim, erbleicht mein inneres und erhellt das dunkel meines ichs.

da bin ich, da bin ich und da ist mein blick, und da ist die haut, die fremde haut, die nervendecke eines anderen, auf der mein blick dahingleitet, und eindringt in die poren und: hier beginnt mein interessanter blick, mein innerster blick, im innern eines andern, lässt er fäden los und durchsucht dort das gewebe, taucht ein und nimmer aus, verschwindet gleichsam stur im anderen sein, erreicht die höchstmarke schon im vorstellen und sieht doch bloß, was sich ihm manifestiert, das, was ist, auch wenn es nur erdachtes ist, und dennoch, er ist sich seiner sicher, ist ungetrübt und nicht verschwommen, nicht unwahr und nicht kurz, ist mein wahrsein jetzt, kann mich erdulden, so, wie ich ihn, und nachher? kurz nachher wendet er sich ab, mein blick, erschaut das glas am ende meines tisches, das leer ist, das funktionslos da ist, mich nur erinnern soll an meinen durst, an meine sättigung, streicht am obern rand entlang, in kreisenden bewegungen und erzeugt somit mir einen klang, den schauklang, diesen leisen hungerklang, versetzt das sehen dann in schwingungen und sieht mir eine melodie, mir, der ich im sehen versehentlich auch zu hören vermag. – sie klingt mir nach.

das ist der blick, ist der scheinblick, der all das sieht, was mir am nächsten kommt, was mich betört, was mich harmlos tötet, was mich erschafft erst aus der innen lebendig werdenden schwärze, aus dieser klaren nacht, klirrend kalt, authentisches nichts, kristallen gleich und daraus saugt der blick die ersten stummeln der erinnerung, die krumen, die da liegen, unsichtbar, die aus unzähligen blicken schon vorher sich versammelt haben, die sich winden hier im gras dieser erleichterung eines inneren vergessens, genährt aus vorurteilen, aus vorsehungen, enthemmt durch fantasien emporgewachsen zu wortwürmern sich schlängelnd, eigene fantasien und angehäufte, fremdverschuldete, vergifteten bildern gleich und oder wörtern, einer fremden innensprache entwachsen, verschleiert oft und durch die denkmembran hindurchgestoßen, die aus selbstsucht nur zu geltung kommen, doch nie die haltung, straff und aschentrocken, in mir aufzugeben drohen, die sich selbst genügen schon, nur ich, der ich den blick in meinem innern nicht zu befehligen vermag, ich glaube noch an dich, an das, was du mir vorgibst, heute, morgen, übermorgen noch zu sein, und was du gestern warst, und fällt es taub und unhörbar in diese meine nacht zurück. – ich muss mit und ohne blicke glauben.

aus der dunkelheit des anstandes erwächst mir nun ein stierer blick, genötigt nur in meiner wesensheit, in meinem bloßen wesen, entfremdet im bette der erheuchelten mir-wiedergutmachung, einer moralisch erfassten schrecksekunde, gespeist vom geglaubten, vom erwarteten, immer wieder zugelassenen, und mit wursttaktik beginnt er zu zerschneiden, was war, was kommt und was nie ist, nie sein wird, immer dem pulsschlag, dem dröhnendem gehör schenkend, seinem rythmus gehorchend, erschleicht sich nun mein blick in dieser dunkelheit schlanke wege, entlang der biegsamen geleise der vergangenheit, wo züge der erinnerung wie blaue blitze auf orangegeschmolzenem eisen fahren, einmal von außen betrachtet und wieder mitgefahren, die geschwindigkeit erprobt und nie mehr wirklich aufgefunden und doch auch immer: gewusst wie, sagt mir dann mein blick, gewusst wie, wo schaust du hin: meine vorurteile speisen meine richtung, sie lenken unwillkürlich meinen blick, verraten mir jedoch nichts von mir, versuchen zu verschleiern und taktieren immerfort, sie täuschen und sie nehmen mich hin und gestalten mich und das gesehene mit mir, nehmen mich auf in ihre verlogenen arme und strecken mich in eine höhe, von wo der blick ein guter ist, erlauben mich, mich und so, wie ich mich befinde, und ich erlaube dann meinem blick regelrechte streifzüge im betrachten, regelfremde kreuzzüge im sehen und das hilft, denn eine höhe ist das eine, eine höhe aus der ich vollbrachtes betrachte, entstehendes oder auch zerstörtes erblicke. ein stolzer blick erstiehlt die bilder nicht, sage ich dann, ein stolzer blick gibt aber auch nichts zurück, sage ich dann auch zu meinem blick und dann wird es still. – meinblick schweigt jetzt am boden liegend wieder.

jetzt katapultiere ich meinen blick über gerade spiegel wiederum in fremde augen, rechtwinkelig, stumpfwinkelig und sogleich immer amorph, lasse unbekümmert meinen blick scharfe linien in stumpfen räumen ziehen, setze angelpunkte hie und da, verbinde loses ganz mühelos lose, verknüpfe unabhängiges dasein, erspinne vergangenheiten, erdenke anderer räume, anderer ecken, beflissen und somit auch schon befangen, knüpfe knoten in der zeit und bestehe auf allem und dann, dann verbeiße ich mich mit meinem blick in da seiendem geäst, links, aber geradlinig, verliere mich im gefallenen laub und lasse meine hoffnung aufgehängt in einer straßenbahnhaltestelle, zerstöre blind mir fremde sehnsüchte in starr stehenden fenstern des hauses gegenüber, über diese verlassene straßenbahnstation mit ihren menschen hinweg im blick, im wächter dieser etwa meiner sehnsüchte, übersehener wächter, der dort in den einsichten lebender kreaturen, dort, wo das fremde licht scheint, schimmert, wo der abklatsch einer welt ist, ein fadenscheiniger versuch einer realität, widersinn und zugleich auch gegeben, und liegt im licht auch meine wahrheit, so strauchle ich beflissen, zögere ich, erwarte ich zu viel.

und vermag mit meinem blick ich keine eisen mehr zu biegen, kann ich nie die brandung sehend stoppen und auch keinen fall verhindern, den fall des seins, einfaches abfallprodukt vom gewesenen: ich vermag mich aufzufangen, ich kann mich halten, ich kann mit meinem blick ein gift verströmen, ein leises sehgift gar, das ausströmt und das andere betört, von seinem innern aus, ein unsichtbarer akt meiner gewalt und meines seins, ein störfaktor in einer welt, in einer allgemeinen welt, die nur erschaut nicht sein kann, jedoch erkannt sein will als nullsummenspiel in aller reinheit, in der sinne reinheit, vor uns erschaffen, schneller als das wahre sein, größer gar und eigenwillig, die ich mit meinem sehgift kommandiere, die ich mir einstelle als mein ewiger erreger, der mir doch auch immer meine schranken weist, vor dem ich alle schuld verberge und dessen krankheiten mich erfassen lange noch vor meinem tod: so erweise ich ergriffen schon vom tösen der bedingungen der welt mein hier und weiß um diese sichtbare unzulänglichkeit, erwache stets im stillen gegenüber, mannigfaltig, und verharre wieder, verharre vor dem, das sicher kommt: starr steift sich mein blick dann ein in eine leere wand, auf der in all ihrer großen weite bloß eine, eine einzige kleine rote spinne platz wird finden, wenn auch dieser tag vorüber ist.

grenze im kopf


um dich herum ist es vollkommen dunkel. alles um dich ist ruhig, nicht das geringste geräusch ist hörbar. du befindest dich in einem zustand der machtlosen erwartung. du weißt jedoch unbewusst: irgendetwas wird bald geschehen. in diesem moment bemerkst du, wie ein leiser lichtschein langsam deine vollkommen dunkle umgebung zu füllen beginnt. es ist ein vertrauter lichtschein, du kennst ihn und du hast ihn erwartet, er gibt dir die erinnerung an einen bekannten ort wieder. dieser lichtschein wird nun allmählich immer deutlicher, er dringt in deine dunkelheit ein, wirkt vorerst schal, mehr wie ein schleier, wird zaghaft, unwirklich heller und reift zu einer realen wahrnehmung in dir. du erinnerst dich: ich habe geschlafen. dann schlägst du langsam die augen auf. jetzt überschreitest du die grenze von schlaf zu wachzustand, jetzt beginnt dein tag.
das erwachen folgt dem schlaf, wird als schlagartige grenze von mir empfunden, scheinbar, und trennt zwei bewusstseinszustände voneinander. und dennoch: in den ersten momenten des wachens bin ich mir des erlebens nicht sicher. spinnfäden des schlafes schlingen sich noch in den wachzustand, lassen traumerlebnisse wie reale erinnerungen erscheinen und umgekehrt. ich bin mir meines bewussten erlebens noch nicht sicher.
du sitzt in deinem zimmer vor dem an der wand befestigten spiegel. der spiegel ist rund und er rückt dich in den mittelpunkt des hinter dir dich umgebenden zimmers. du erblickst die drei bilder, die an den zwei, in deinem blickfeld stehenden wänden hängen. die bilder erscheinen dir nun spiegelverkehrt. sie sind durch einen rahmen eingegrenzt. die wände sind nicht zur gänze sichtbar, sie sind vom rand des spiegels abgeschnitten. das zimmer ist in deiner wahrnehmung unvollständig. du betrachtest dich im spiegel, du entdeckst dich im zimmer. dein gesicht ist farblos, von einer blässe gezeichnet. deine augen sind verschwollen, du bist unrasiert, deine poren sind wie unzählige hungrige mäuler geöffnet, voll der begierde nach unerreichbarem, nach unerwartetem. du hast deine haut nicht unter kontrolle. deine haut reagiert auf innere und äußere einflüsse, eigenmächtig, ohne dein bewusstes steuern. deine haut ist dein spiegel, nach außen hin.
ich blicke leise hinter eines der bilder, in das bild hinein. es zeigt eine surrealistisch dargestellte landschaft, eine bunte landschaft. ich erfahre, wie ein gefühl in mir aufsteigt, ein mir unbekanntes gefühl, ein fremdes gefühl. es ist das gefühl einer fremden erinnerung, einer erinnerung, die nicht zu mir gehört. ich schmecke die ehrfurcht des erschaffers dieses bildes, ich schmecke dessen wehmut und ich schmecke eine mir fremde selbstverständlichkeit. der geschmack ist fahl, unsicher und dennoch: ich habe diesen geschmack schon einmal erlebt. ein mir schon lange zeit bekannter geschmack entsteigt einer höhle, einer höhle, wo verborgenes schlummert, wo längst schon vergessenes weilt, und ich kann dessen ursprung nicht orten. ich kenne ihn und gleichzeitig kenne ich ihn nicht. ich befinde mich nun in einem zustand zwischen den welten, zwischen den bewusst erlebten und den unbewusst erlebten welten. ich fühle mich in der wärme dieses zustandes geborgen. die wärme hebt sanft die grenzen auf. jetzt ertönt die glocke des draußen vor dem fenster sichtbaren kirchturmes. eine welt außerhalb wird mit den drei schlägen akustisch für dich wahrnehmbar. der spiegel jedoch grenzt dein blickfeld derart ein, dass du den kirchturm nicht siehst. du siehst nur die optische reproduktion deines ichs im spiegel, alles andere herum nimmst du nur schemenhaft wahr. du müsstest den blick umschalten, um alles außerhalb des spiegels, um etwa das dich umgebende zimmer ganzheitlich wahrnehmen zu können, in dem du dann jedoch für dich selbst nicht mehr sichtbar wärst, sondern nur noch betrachter.
ich werfe einen blick aus dem zimmer auf den kirchturm. zwei turmfalken kreisen über dem länglichen, steil abfallenden dach des kirchenschiffes. die beiden vögel erregen mein interesse. das flach einfallende licht der morgensonne wirft lange schatten der beiden vögel über dem dach. mein blick konzentriert sich auf die beiden vögel, auf ihre bedächtigen bewegungen, auf ihr spiel im flug. dann schweift mein blick mit dem verschwinden der beiden vögel auf die ringsum liegenden bergketten ab. ich vermute hinter diesen bergen ebenso noch müdes, schlaffes leben, mit dem sand der träume in den augen. die müdigkeit lässt meine gedanken träge und schwerfällig sich aneinanderknüpfen, sie werden unterbrochen und dann hemmt sie mein bewusstsein, bildet ein zähes band zwischen den zeitlich weit auseinander liegenden momenten und hebt die erlebnisebenen auf, verschiebt sie und verbindet sie willkürlich. ich bin sicher: meine wahrnehmungsmöglichkeiten sind grundlage meiner wahrheitsbildung, sie grenzen meine wahrheit von den vorhandenen möglichkeiten ab, schränken sie ein. mit dem um mich herum da seienden zimmer, dessen wände und fenster mir eine ganz bestimmte möglichkeit der wahrnehmung bieten, wird meine wahrheit definiert. der rest ist reine vermutung, ist reine erinnerung, ist memory-spiel im kopf.
jetzt stockt dein atem. dich im spiegel betrachtend hältst du die luft an. du bist einem geheimnis auf der spur, schier unerreichbar schwebt es über dir. es liegt dir auf der zerebralen zunge, doch deine gedanken können es nicht fassen, sie sind zu träge. du befindest dich in einem labyrinth, stehst kurz vor der lösung eines rätsels, vor der entdeckung eines geheimnisses, das in dir weilt, in dir leise schlummert, dessen träger du bist, ohne es mit sicherheit behaupten zu können. die lösung dieses geheimnisses kann in den poren deiner haut verborgen liegen, unauffindbar in äußerlichkeiten, und du erfühlst plötzlich im stocken deines atems die grenzen deiner gedanken.
ich hole tief luft. ich atme tief ein, sauge die luft um mich herum ein, spüre, wie diese luft in meine lungenflügel eindringt, wie der sauerstoff in den lungenbläschen in die blutbahn gerät und in mein gehirn transportiert wird, wie plötzlich ein neuer gedanke entstehen kann, die nervenzellen in meinem gehirn, angeregt durch die sauerstoffzufuhr, einen neuen gedanken zulassen: altes wird aufgebrochen, stockendes wird weiter transportiert, abgespalten, zerstückelt und neu zusammengesetzt. die aufnahme von sauerstoff erzeugt ein neues bewusstsein, transportiert meine gedanken weiter, erhebt mich auf eine neue wahrnehmungsebene. das mich umgebende sein, die luft, dringt also in mich ein, verwebt sich mit mir, verbindet sich mit mir und löst die grenzen auf. ich erfahre das atmen als ein voranschreiten in die zukunft. die aufnahme von atemluft ist mein vorankommen, eine zeitlich und räumliche aufnahme von zukunft. die luft um mich ist meine zukunft. also bin ich grenzenlos mit allem mich umgebenden verbunden, lasse es mit meiner haut in mich eindringen, nehme es mit der lunge auf, erlaube meinen sinnen eine aufnahme des äußeren, der mich umgebenden reize und reagiere von innen her gleichzeitig darauf, stoße inneres in die umgebung ab, gedanken, atemluft, und schweiß, der an der oberfläche meiner haut wieder verdampft. ist also angst im schweiß eingebunden, wird sie an die luft abgegeben und vermischt sich mit ihr.
du sitzt vor dem spiegel in deinem zimmer, dein blickfeld ist eingegrenzt, rund ist es eingegrenzt, gleich dem rand des spiegels, und du erkennst dich als fremde person darin. du könntest jetzt durchaus jemand anderer sein, jemand, den du das erste mal zu gesicht bekommst, der dir vollkommen fremd ist. dein spiegelbild ist dir jetzt einbildung. nur die erinnerung an dich lässt eine gewisse sicherheit zu, ein maß an selbsterkenntnis, der rest an selbstdeutung. du könntest jetzt spiegel, kirchturm, falken, kirchenschiff, bergkette, und spiegelbild gleichzeitig sein. du kannst dein tod sein und dein leben.
ich bin da, ich bin alles mich umgebende, ich bin das äußere und gleichzeitig mein inneres, ich bin verwoben mit allem mich umgebenden, ich bin eins mit meiner umwelt. die grenzen zwischen meiner innerlichkeit und meiner äußerlichkeit verschwimmen, sind nicht mehr klar abzustecken: ich bin alles, es gibt keine grenze zwischen mir und der umwelt. diese scheinbaren grenzen, die ich mir vorstellen kann, sind nur orientierungshilfe, ein begriff um des begriffes willen. ich kommuniziere mit meiner umwelt in anderer weise. die sprache brauche ich nicht mehr. meine sprache grenzt mich ein. alleine die sprache braucht den begriff grenze, um sich selbst definieren zu können, um verstanden zu werden. meine gedanken sind frei, sobald sie von der sprache abgekoppelt sind, sobald sie emotional empfunden und gedacht werden können.
es ist vollkommen dunkel um dich herum. langsam erhellt sich dein dich umgebendes umfeld. es ist ein lichtschein, etwas vertrautes, das sich in deiner umgebung manifestiert. du weißt genau, welche ecke des zimmers, in dem du dich befindest, durch den lichtschein in dem jetzt erlebten moment erhellt wird. die erinnerung an das zimmer wird deutlich. deine augen sind noch geschlossen. du weißt, du hast geschlafen, und nun übertrittst du eine grenze. du schlägst die augen auf: es ist hell und dein tag beginnt. du erwachst, jetzt ist der schlaf überwunden. die sonne wirft einen lichtstrahl auf den runden spiegel, der in deinem zimmer hängt. du richtest dich in deinem bett auf, wirfst einen blick auf deine uhr. es ist später morgen, bald wird die kirchturmuhr schlagen. die zeit ist alleine dafür verantwortlich, dass nicht alles gleichzeitig passiert. die zeit grenzt alles ein: dein leben, deine gefühle, deine ideen und deinen tod. du hast grenzen erfahren, du hast grenzen überschritten, du bist an grenzen gestoßen.
ich habe geträumt. ich habe mich im traum gedanklich mit meiner umwelt verwoben. ich habe die grenze zur grenzenlosen erfahrung überschritten. ich wurde mit meiner geträumten umwelt zu einem ganzen vereint. ich war alles. ich war alles und nichts. jetzt, da ich wache, bleibt mir nichts als das seiende, das einfach da-seiende. alles scheint wie ein ewiger kreislauf, ohne ende, ohne anfang. etwas unerklärliches schneidet meine gedanken ab, etwas kann nicht zu ende gedacht werden. die grenze im kopf beginnt sich zu manifestieren. jetzt schlägt die kirchturmuhr. es ist punkt zehn, gut hörbar und auch gut sichtbar. jetzt schließe ich meine augen. ich gehe in das bild hinein. ich stapfe auf scheinbar fremden gefühlen und weiß, dass sie in mir schlummern. ich rieche die zeit, eine fremde zeit und meine eigene. ich hebe mich auf, ich schlafe und wache zur selben zeit. ich lebe und bin tot. dort ist meine grenze, hier bin ich. alles wird dunkel um mich herum.

Kurzbiografie Armin Baumgartner
geb. 30. 1. 1968
1986 AHS-Matura in Wien
Studium der Publizistik und Philosophie
danach Techniker bei Film und Fernsehen
1998 Beginn der schriftstellerischen Arbeit
ab 1999: Korrektor bei einer österr. Tageszeitung
Vorstandsmitglied der IG Kultur Wien
2001 Dramatikerstipendium „luaga & losna“, Nenzing
Gründung des „Literarischen Sonntag“ – eine Literaturveranstaltungsreihe
Inszenierungen von szenischen Lesungen
seit 2002: Mitglied der GAV, Mitglied der IG AutorInnen & Autoren
2003: Anerkennungspreis Wr. Werkstattpreis
2004: internationaler Literaturpreis „Marguerite d'or“ in Wien

Bibliografie:

# „Das wahre Dilemma“ / erschienen auf der CD „we think you know“ von phone3phone (Extraplatte) ins Englische übersetzt von Ulrike Bulle, 2001
# „Des Lebens Wellental“, Hörspiel, veröffentlicht im KUKUK e. V., Freies Radio Jena, 2002
# „Brammer sieht Schwarz und sie lesen etwas“, ein Stück, Triton Verlag, Wien, 2002
# „Brammer sieht Schwarz und sie lesen etwas“, UA im dieTheater Konzerthaus, Sept. 2002, weitere Aufführungen im Theater Ticino, Zürich, CH / Februar, März 2003 / Prod.: nomad-theatre, R.: Thomas J. Jelinek
# seit 2003 Libretto für die Operette „Der Frauenminister“ von Prof. Michael Mautner als Auftragswerk des Konservatorium der Stadt Wien – szen. UA geplant 2005
# 19. Juni 2004: konzertante UA in Fragmenten der Operette „Der Frauenminister“ von Prof. Michael Mautner (Libretto Armin Baumgartner) im Konservatorium der Stadt Wien im Zuge der „Langen Nacht der Musik“ , musikal. Leitung Ernst Theiß
# in Arbeit: Gedichtband „Fragedichte“ / „meinblick“ – eine Sprechsonate / Roman (Arbeitstitel) „EC173 Vindobona“ / Übersetzung v. „Brammer sieht Schwarz“ auf Tschechisch (Marketa Maurova)

Fotoausstellungen:

„wellen“ – Fotografien in der Galerie p.s.kunst, Sept. 2003; Amtshaus Margareten 2003/04


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