TROTZ ALLEDEM !


Streuzettel und illegale Propaganda 1933-1939

Thomas Northoff, März 2006

Ständestaat 1935: Bundesbahnlotterie-Ziehung in einem niederösterreichischen Bahnhof. Neugierige und kommandierte Festgäste warten auf einen Zug. Ein Schnellzug passiert die Station und plötzlich steht die Festgesellschaft in einer Wolke im Fahrtwind zerstiebender, aus Papier gestanzter Drei-Pfeil-Zeichen. Sofort wurden alle verfügbaren Eisenbahner zum Entfernen des "revolutionären Schutts" aufgeboten.
Einer von vielen Vorfällen dieser Art, mit denen sich in Wien und Bundesländern das staatspolizeiliche Bureau der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit beschäftigte. Immer handelte es sich um Streu- und Klebezettel, das am häufigsten eingesetzte Massenmedium der politischen Parteien zur Zeit ihrer Illegalität unter der klerikalfaschistischen Ständestaatregierung.
Werden legale Flug-, Streu- und Klebezettel vorschriftsmäßig mit einem gültigen Impressum versehen, so fehlt dieses bei illegalen Druckmitteln, oder es beruht auf falschen Angaben. Von den Behörden konnte das Material zwar der Ideologie einer bestimmten Partei, jedoch nicht einer bestimmten Produzentengruppierung zugeordnet werden. Zur Bestimmung der Ideologie und Partei wurden mehrere Faktoren von den Verfolgern herangezogen. Man achtete auf die angesprochene Zielgruppe, die aufscheinende Darstellung und Wertung politischer Sachverhalte, die politischen Forderungen und Handlungsaufrufe. Und man zog weiters die Sprache, Papier, Schrift und Zeichen zu bestimmenden Vergleichen heran. Die oft in leidenschaftlich heroisierender Sprache verfassten Botschaften lasen sich beschwörend, drohend oder siegessicher. Der Zeitgeschichtler, Rundfunk- und Fernsehjournalist Georg Tidl sammelte viele dieser durch die Zeitläufe fast gänzlich verschwundenen Dokumente. Er schreibt zur Sprache auf den Flug- und Klebezetteln in den Jahren vor dem Nationalsozialismus: "Je mehr sich Österreich der Katastrophe nähert, umso aggressiver wird sie."
Streuzettel mussten vor allem klein sein, um sie leicht verstecken zu können. Gemeinsam mit größerem Agitationsmaterial wie Zeitschriften, Broschüren oder Flugblätter war ihr Besitz verboten. Das Aufheben von der Straße hieß In-Besitz-Nehmen und war strafbar. "Illegales Material konnte daher nur illegal weitergegeben werden."
Zweck des Streuzettels war nicht die ausführliche Information, sondern das Erregen von Aufmerksamkeit, gewissermaßen das Zeichen, uns, die Nicht-Einverstandenen, gibt es. Zur Blütezeit der Streuzettel entwickelte sich eine parallele Aktionsform: die Blitzkundgebung, bei der sich plötzlich inmitten einer größeren Menschenmenge Demonstranten versammelten, Parolen riefen (z.B. für die Befreiung von Gefangenen), ein Lied anstimmten (z.B. die Internationale), Streuzettel warfen - und vor Eintreffen der Sicherheitsorgane verdufteten. Streuzettel sollten, anders als Flugblätter, nur gesehen werden. Dementsprechend transportierten sie meistens Schlagzeilen, kurze Forderungen, Aufforderungen zum politischen Handeln. Sie könnten mit der Überschrift des Flugblattes verglichen werden, welches sodann den zur Überschrift gehörenden Text enthält. Den Rezensenten des Buches erinnert dies an heute aktuelle Graffiti der Anti-SchwarzBlau-Bewegung, die lediglich die Adresse einer Website angeben. Den ausführlichen Teil finden die LeserInnen dann im Netz.

Nicht anders verhält es sich mit den Klebezetteln. Heute sagt man Sticker. Klebezettel wurden in wesentlich geringerer Zahl produziert als die Streuzettel. Georg Tidl begründet dies so: "Stellte schon die Beschaffung von normalem Druckpapier die illegalen Aktivisten immer wieder vor große Probleme, wie viel schwieriger war es, gummiertes Papier heimlich aufzutreiben." Wie die heutigen Sticker wurden sie auf möglichst glattem Untergrund angebracht, auf Dachrinnen, Reklameschildern, Lichtmasten, Mauern, Mistkübeln und Toren. Die Aufdrucke von Streu- und Flugzetteln unterschieden sich kaum. Beide Medien mussten billig, massenhaft und einfach herstellbar und ihre Aussagen noch aus größerer Entfernung rasch erkennbar sein. Ihre Anzahl, Verbreitung und Herstellungsart lässt uns heute nachvollziehen, welche Gesinnungsgemeinschaften die sichersten Verstecke hatten und über die technisch beste Ausrüstung verfügten. Der Ständestaat verfolgte Hersteller und Verteiler illegalen Propagandamaterials unerbittlich. Ein Jahr schwerer Kerker und danach Abtransport ins Anhaltelager Wöllersdorf waren keine seltenen Gerichtsurteile für die AktivistInnen. Die illegalen Nazis flogen seltener auf, obwohl sie immer mehr Material besaßen und die Verstecke ihrer teils hochmodernen Druckereien geradezu nach dem Motto Frechheit siegt anlegten. Die Annahme, diese seien von Sicherheitsorganen bei Hausdurchsuchungen mit Augenzwinkern übersehen worden, liegt auf der Hand. Revolutionäre Sozialisten und die Kommunisten hingegen entbehrten zunehmend der wichtigsten Herstellungsmaterialien und beschrieben sogar Zettel einzeln mit der Hand.
Georg Tiedl stellt in seinem Buch nicht nur die Protest- und Agitationsform der Streu- und Klebezettel ausführlich dar, sondern geht gesondert auf inhaltliche Charakteristika der unterschiedlichen Urheber-Gruppen ein. Das unterlegt er mit Zitaten aus Polizei- und Gerichtsprotokollen und insbesondere mit sehr sprechendem Bildmaterial. Nicht zuletzt zeichnet er anhand der illegalen Streu- und Klebezettel die österreichische Innenpolitik der sechs Jahre vor der Nazi-Machtübernahme nach. Auf diese Weise gelingt ihm ein ausgezeichneter Beitrag zum Verständnis der Ständestaat-Gesellschaft und zu einer Geschichtsschreibung von unten.

Georg Tidl: Streuzettel. Illegale Propaganda in Österreich 1933-1939. Löcker Verlag 2005, 195 Seiten, 17.- E


·^·