© Helmut Eisendle
Das Erinnerungsvermögen ist die Zukunft des Vergangenen, sagt Paul Valéry.
Waltraud Seidlhofer stellt eine Kunst des Erinnerns in der ihr eigenen Sprache vor und behauptet damit ein Gedächtnis neuer, anderer Art, indem sie mit dem Universum der Erinnerung als Gedachtes, Denkbares und Niederge-schriebenes spielt.
Wenn es alles schon gegeben hat, die Menschen aber gleichsam eine Kunst des Vergessens betreiben, jedermann also nicht nur nichts weiß, stellt Waltraud Seidlhofer dieser Tatsache eine Kunst des Erinnerns in der ihr eige-nen Sprache gegenüber, eben Literatur, indem sie mit dem ganzen Universum in Gedanken spielt.
Ist Erinnerung dabei das, was die Engländer splendid isolation, eine herrliche Trennung von der Wirklichkeit nennen ?
Wenn sie, indem ihr Ich anders denkt, nicht denken kann, daß ihr Ich anders ist als sie denkt, so ist sie das, was sie denken kann.
Sie, die Autorin Waltraud Seidlhofer ist tatsächlich das, was sie sagt.
Sie fügt Erinnern zu einem rätselhaften Ganzen. Gleichsam zu einem Frag-ment, das beeindruckt und aus seiner Form Bedeutung erhält.
Die Erinnerung ist aus vielem zusammengesetzt, hinter ihr liegt die Wahrheit oder das, was man tatsächlich für sie hält.
Dass sich im laufe des erinnerns immer wieder luecken ergeben, breite flaechen von zeit, deren verlauf leer erscheint.
Die Sätze, die wir uns nun anschauen wollen, konstituieren ihre Welt. Sie sind alles, was ist (William Gass). Dieses Motto, welches Waltraud Seidlhofer verwendet, ist genau auf sie anwendbar:
wie sich so die arbeit des erinnerns vollzog, die prozesse abliefen, angenommen und wieder verworfen.
Das eine oder andere ins gedaechtnis geholt, verglichen, an vorhandenes angepasst, dann wieder zur seite, spaeter vielleicht oder ganz einfach vergessen.
Und an der stelle des tatsaechlich erlebten die fiktion trat, aus buechern und bildern geholt und aus zeilen, und diese fiktion vielleicht nur fuer den schreibenden galt und nicht für den leser, den rezipienten, fuer den tatsaechliches und fiktion sich vermengten und die fiktion, aus einer anderen tatsache gebrochen, derart anstelle der beschreibung trat...
Kunstwerke sind keine Musterstücke von Stoffballen oder Behältern, sondern Proben aus dem Meer. Sie exemplifizieren buchstäblich oder metaphorisch Formen und Gefühle, Affinitäten und Kontraste, die in einer Welt zu suchen oder in sie einzubauen sind, sagt der Philosoph Nelson Goodman.
Diesen Standpunkt sollte man einnehmen, wenn man Waltraud Seidlhofers Buch: text: ein erinnern zur Hand nimmt.
Erinnern heißt bei der Autorin für die tatsächliche Wahrheit einer oder ihrer Geschichte die Wirklichkeit des entstandenen Textes einzutauschen. Diese Welt, welche sie herstellt, ist für den Leser nicht zuletzt damit brauchbar in jedem Detail.
nahm die stille ihren platz ein, zogen und dehnten sich flaechen, auch die nacht, so hell, dass es moeglich war, die hallen das ueberdimensinale zelt zu verlassen, zwischen den baeumen auf wegen und moos zu gehen, ein wenig entfernt nur, sodass das toenen die genauen strukturen noch deutlich zu hoeren waren.
Im zweiten Teil des Buches versucht die Autorin einzelne Sätze fiktional und in anderen Versionen weiter laufen zu lassen; was ihr so gelingt wie ein end-loses Forttreiben von Fiktionen, immer brauchbar.
Die vom Markt verdorbenen Leser, die ohnehin stets verwechseln, was von dem Autor gedacht wird, was geschrieben steht, was von ihnen in einem gewaltigen Durcheinander hinzugebracht wird, was tatsächlich von Literatur gefordert wird, vergessen, daß Sprache, auch Sprache der Erinnerung nichts anderes als Annäherung ist.
Annäherung an was ?
Annäherung an das eigene Erleben und Denken.
Ob geschrieben, gemalt oder gespielt, die Fiktionen der Kunst und Literatur treffen in Wahrheit weder auf nichts noch auf durchsichtige mögliche Erin-nerungen und Tatsachen zu, sondern, auf Wirklichkeiten, die sich im Inneren des Lesers, des Betrachters, des Zuhörers befinden. Dort, und nur dort, kann man sie in Bezug setzen und zur Wahrheit machen.
Mir ist das mit der Lektüre des Buches von Waltraud Seidlhofer gelungen.
Waltraud Seidlhofer; text: ein erinnern; 232 Seiten, Blattwerk, 1999, ATS 235.-