Performance in Wien von 1960 bis heute

"let's twist again"


© Hermann Hendrich

Carola Dertnig und Stefanie Seibold, die beiden Herausgeberinnen dieses grossformatigen und umfangreichen Bild- und Textbandes schreiben im Vorwort unter anderem:
Der Mangel an Informationen zu einflussreichen Performances der letzten 30 Jahre (sind es nicht schon mehr als 45 Jahre seit 1960?) in Wien ist offensichtlich. Wichtige Statements, die die Vielfalt der heutigen Performance Ansätze möglich machen, sind bisher wenig oder gar nicht in einer offiziellen Geschichtschreibung aufgetaucht.Durch fehlende Dokumentation entstehen jedoch auch Wissenslücken in Bezug auf die eigene Produktion.

Den letzten Satz kann ich sehr gut verstehen, verweist er doch auf das von mir ständig monierte Fehlen jeglichen geschichtlichen Bewusstseins in unserem Kunstraum, in dem auch die KritikerInnen der ästhetischen Ereignisse - oder die dafür als solche geachtet werden - selten oder gar nicht den zeitlichen Zusammenhang herzustellen im Stande sind. Zu den Sätzen davor muss man freilich bemerken, dass zu jeder halbwegs wissenschaftlichen Arbeit, und sei es auch nur ein Überblick wie dieser, der Mangel an intensiver Archivarbeit und Nachlesen in entsprechenden Publikationen das Anführen einer Liste von Akteurinnen und Akteuren der letzten 20 Jahr nicht ersetzt.

Aber beginnen wir mit dem Anspruch des Titels: ...von 1960... Mir ist beim Durchlesen des Bandes keine Bemerkung aufgefallen, die auf dieses Jahr verwiesen hätte. Allgemein bekannt ist wohl, dass 1958/1959 das erste und zweite literarische cabaret stattgefunden haben, die viel später mit dem US entstandenen happening verglichen worden sind, aber im Sinne der Definition sogar des vorliegenden Buches selbst Performances waren. Anfang der 60er Jahre entstand dann die ZOCK Gruppe, dessen wesentlichster Initiator Oswald Wiener war, und, wie nur zu ausführlich bekannt, ab Mitte der 60er Jahre der Wiener Aktionismus. Alle diese Ereignisse sind in zahlreichen Publikationen allgemein zugänglich dokumentiert.

In let's twist again gibt es dazu höchstens blasse Schatten.
Viele der befragten Performance-Künstlerinnen geben in den entsprechenden Interviews als Vorbild neben vielen internationalen Frauen immer wieder VALIE EXPORT an, nur verzichten die Herausgeberinnen darauf, wenigstens andeutungsweise einige der bedeutenden Performances von V.E., die sie ab 1968 im In- und Ausland durchgeführt hat, zu beschreiben oder zu analysieren. Anstelle eines solchen In-Erinnerung-Rufens verbreitet Doris Guth die Legende über Genital Panik weiter, die nur auf Grund des Ortes, eines nicht mehr im Betrieb befindlichen Kinos, das als Fotostudio benutzt wurde, zuerst im amerikanischen Raum mißverstanden wurde. Auch ist das Standfoto aus dem Film adjungierte dislokationen nicht ein Ausschnitt einer Performance. Vom Fingerdicht möchte ich überhaupt absehen. Da ich selbst bei den meisten Performances von VALIE EXPORT in den Jahren von 1968 bis 1978 nicht nur als Beobachter anwesend war, erlaube ich mir schon diese Zurechtstellung einer ganz großen künstlerischen und nie mehr wiederholten Leistung. Für die naive Leserin/Betrachterin dieses Buches wird die die eigenständige künstlerische Arbeit von VALIE EXPORT völlig uneinsichtig.

Die Grundstruktur des Bandes, die Geschichte der Performance in Wien (gab es nicht auch in Graz eine dichte und intensive Szene?) durch eine riesige Ansammlung von Interviews mit den KünstlerInnen darstellen zu wollen, wirkt letztenendes kontrapunktiv, da die Selbstdarstellungen und -verherrlichungen korrekturlos gebracht werden. Auch eine Auswahl von Originalfotos kann eine systematische Analyse nicht ersetzen. Somit sind achtzig Prozent des Bandes eine sehr stark persönlich gefärbte Auswahl der Herausgeberinnen aus ihrem Bekanntinnenkreis mit dem Effekt, dass man als Leser zur Kenntnis nimmt, dass das da etwas zu einem gewissen Zeitpunkt passiert ist.

Ausnahmen sind die ausgewogene Darstellung der künstlerischen Entwicklung von Marie Theres Escribiano und die Abschnitte über Gerhard Stecharnig, letzere enthalten auch eine Anzahl von Querverweisen, die von besonderem Interesse sind.

Patricia Grzonka versucht eine "Bestandsaufnahme" des Internationalen Performance Festivals vom April 1978, die als kurze dokumentative Studie in Ordnung geht (der Rezensent hat an vielen Performances damals als Besucher teilgenommen, und z.b. Laurie Anderson technisch unterstützt), kann uns aber keinen Inhalt anbieten. Natürlich wäre eine solche Auseinandersetzung mit den damaligen Ereignissen von ganz besonderem Interesse für die im Vorwort angegebenen Ziele des Bandes gewesen, vielleicht hätten die Herausgeberinnen doch eine verstärkte Suche nach entsprechenden Zeitzeuginnen und Dokumentationen durchführen können.

Aufgefallen in einem sehr korrekt erscheinenden Rückblick auf die siebziger Jahre sind mir die Interviews mit Erika Mis, Renate Bertlmann und Birgit Jürgenssen, die in der ruhigen Betrachtung dieser Jahre und der Aktivitäten der Künstlerinnen sich auch vorteilhaft von dem Geplauder mancher anderer unterscheiden.

Von vielen bedeutenden Künstlerinnen (nicht nur von VALIE EXPORT, siehe oben) erfährt man wenig oder überhaupt nichts. Wenn Rita Furrer mit einem sehr kleinen Foto erwähnt wird, ohne auf ihre umfangreiche und jahrelange intensive Arbeit als Performancekünstlerin im öffentlichen Raum hinzuweisen, widerspricht das selbstverständlich den - wahrscheinlich nur vorgetäuschten - Absichten der Herausgeberinnen. Es gibt auch in der Performancekunst ästhetische und kommunikative Werte, die man erkennen und analysieren kann. Da Furrer nur in dem Beitrag über die IntAkt erwähnt wird, kann ich noch dazu bemerken, dass diese vier Seiten des Buches besser gar nicht abgedruckt worden wären, denn verstehen kann die Rolle dieses seit 1977 bestehenden Künstlerinnen-Vereines so niemand.

So kann nur mitgeteilt werden, dass die 300 Seiten samt biographischem Anhang (Warum auch der zweisprachig gehalten worden ist?) für die jüngere Generation von Künstlerinnen eine Art ....kränzchenbuch darstellen werden, dass aber auf Grund der besonders krassen Unausgewogenheit des Umganges mit den Materialien (z.B. Susanne Widl oder Linda Christanell) für eine Aufarbeitung der im Vorwort genannten Zielsetzungen nicht geeignet sind, höchstens als noch zu überprüfende Dokumente für ein anderes Buch über Performance in Wien 1960 bis... dienen werden. Wenn auf eine ernsthafte ästhetische Analyse verzichtet wird und die Werthaltung der Herausgeberinnen sich nur durch ihr Weglassen und Unter-drücken künstlerischer Arbeit beurteilt werden kann, lohnt eine weitere Auseinandersetzung mit diesem Buch nicht.

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