© by Franz Josef Czernin
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Die Schreibweisen und die Ästhetik, die dem Common sense zu
entsprechen scheinen, sind die, welche nach geläufiger
literaturhistorischer Klassifikation realistisch genannt werden.
Die Philosphie, die anscheinend sowohl dem Common sense als auch
dem literarischen Realismus am nächsten liegt, könnte man
metaphysischen Realismus nennen. Sie enthält normalerweise diese
Annahmen: Es gibt etwas wie Welt oder Wirklichkeit jenseits des
menschlichen Erkennens; das, was es da gibt, ist auf eine
bestimmte Weise beschaffen, hat bestimmte Eigenschaften; und
schliesslich: was es da gibt, ist erkennbar. Diese Annahmen
wiederum enthalten zumeist, dass das, was es gibt, von dem
unterscheidbar ist, was es geben könnte oder geben sollte.
Ich will nun, der üblichen Praxis entgegen, gar nicht versuchen,
das, was unter Realismus in der Literatur zu verstehen sein mag,
durch Definitionen festzulegen, die sich auf bestimmte
Schreibweisen oder gar auf bestimmte Themen bzw. "Stoffe"
berufen bzw. auf bestimmte literaturhistorisch klassifizierbare
Programme oder Bewegungen. Ich will im Gegenteil Realismus als
eine Lesart von beliebigen literarischen Texten verstehen. Ob
dann ein Text als realistisch bezeichnet wird, hängt nicht
unmittelbar von seiner Schreibweise ab (davon, ob sie diese oder
jene Merkmale hat) oder seinen angeblichen Gegenständen, sondern
zunächst davon, wie er interpretiert wird, wie mit dem Text
umgegangen wird. Das schliesst natürlich nicht aus, dass
bestimmte Schreibweisen traditionell vor allem dazu verführen,
im Sinne eines Realismus gelesen zu werden.
Realismus wird somit zu einer Lesart, die man jedem
literarischen Text angedeihen lassen kann, wenn auch mit
unterschiedlicher Fruchtbarkeit für seine Interpretation. Dieser
Lesart folgend verhält man sich so, wie sich ein metaphysischer
Realist konsequenterweise verhalten muss, wenn er Sprache
gebraucht, um eine ausserhalb seines Sprechens gegebene entweder
wirkliche oder mögliche Welt zu erkennen. Nur impliziert eine
solche Lesart nicht, dass der, der ihr folgt, die Philosophie
des metaphysischen Realismus für richtig oder auch nur für
plausibel hält. Er stellt ja keine philosophische Theorie auf,
sondern unterwirft sich einer Praxis des Lesens. Und diese
Praxis verpflichtet ihn auch dann nicht zu einer bestimmten
Philosophie, wenn ihn Annahmen leiten, die auch dieser
Philosphie zugrunde liegen.
Mit anderen Worten: so eng der Zusammenhang zwischen der Lesart
Realismus und dem metaphysischen Realismus auch sein mag, so hat
er keineswegs den Charakter der Nowendigkeit: Auch die
realistische Lesart eines Texts kann suggerieren, dass Annahmen,
die dem philosophischen Realismus zugrundeliegen, falsch oder
unplausibel sind, oder aber natürlich auch, dass sie nur eine
Möglichkeit darstellen, sich etwas klarzumachen. Und umgekehrt
könnte ein Text, der so geschrieben ist, dass man nicht geneigt
ist, ihn als realistisch zu lesen, dennoch suggerieren, dass
Annahmen, die dem metaphysischen Realismus zugrundeliegen,
richtig oder plausibel sind.
Bei meinem Versuch, die Lesart Realismus, aber auch ihr
Gegenstück, zu charakterisieren, bediene ich mich bestimmter
Termini Robert Musils, dessen Roman Der Mann ohne Eigenschaften
man übrigens als realistischen Roman lesen kann, der dennoch die
Philosophie des metaphysischen Realismus unplausibel macht.
*
Für jemanden, der einen Text realistisch interpretiert, ist
das, was ist (das, worauf sich der Wirklichkeitssinn
bezieht), das, was so erfahren werden kann, dass es von den
Erfindungen (dem, worauf sich der Möglichkeitssinn bezieht)
unterschieden werden kann. Und für den im Rahmen Realismus
Schreibenden oder Lesenden gibt es auch eine Sprache, die
sich auf das, was jenem Rahmen zufolge ist - also die
vorgegebene Wirklichkeit -, bezieht und es wiedergeben kann.
Diese Sprache ist ein Werkzeug, das gerade dazu benützt wird.
Bezieht sich die Sprache nicht auf jene vorgegebene
Wirklichkeit, während sie doch etwas wiedergibt, so gibt sie
etwas wieder, das nicht wirklich ist. Sie gibt eine mögliche
Wirklichkeit wieder, zum Beispiel eine vorgestellte.
Der Begriff jedes literarischen Texts enthält aber, dass der
Text selbst schon Erfindung, ein Ergebnis der Tätigkeit des
Möglichkeitssinns ist. Nicht nur müssen wenigstens einige
Figuren oder einige Ereignisse als erfundene (als, wie man sagt,
romanhaft) angesehen werden, um aus einem Text einen
literarischen zu machen, sondern ein literarischer Text ist auch
insofern Erfindung, als er selbst keine Mittel dafür in die Hand
gibt, das, was er von jener vorgegebenen Wirklichkeit
auszussagen beansprucht, überprüfen zu können.
Anders gesagt: das, was überprüfbar erscheint, als überprüfbare
Data aus einem literarischen Text destilliert werden könnte,
wäre genau das Nicht-Literarische. Zu behaupten, man könne es in
Form von Aussagen isolieren und diese Aussagen überprüfen,
hiesse, eine andere Art von Text lesen, selbst dann, wenn der
Fall eintreten sollte, dass dabei der vorliegende literarische
Text wortwörtlich derselbe bleibt.
Das realistische Moment eines Texts kann man demnach so
beschreiben: Es ist das Moment literarischen Schreibens oder
Lesens, das den Unterschied zwischen der Wirklichkeit und den
Möglichkeiten innerhalb des literarischen Schreibens
konstruiert - innerhalb dessen also, was selbst vor allem als
Tätigkeit des Möglichkeitssinns verstanden wird, während
zugleich unterstellt wird, dass sowohl die Wirklichkeit als auch
das Nicht-Wirkliche, aber Mögliche, das in dem Text beschrieben
wird, in wesentlichen Hinsichten dem Wirklichen und dem
Nicht-Wirklichen, aber Möglichen ähnle, das man auch unabhängig
vom Text für gegeben hält.
*
Der Realismus als die Form literarischen Schreibens oder
Lesens, die den Unterschied zwischen Wirklichkeit und
Möglichkeit innerhalb des Schreibens oder Lesens konstruiert,
konstruiert also auch einen anderen Unterschied: denjenigen
zwischen der Sprache als Mittel, um etwas, was ist, oder etwas,
das erfunden wird, wiederzugeben, und dem Wiederzugebenden
selbst.
Und es ist bezeichnend für diesen Unterschied und für seine
Produktion in einem diesbezüglich realistisch interpretierten
Text, dass er auch dem Unterschied zwischen Denken und
Wirklichkeit entsprechen kann; dieser Unterschied aber kann sich
zu einem Hindernis auswachsen, wenn es darum gehen soll, die
Wirklichkeit so zu erfassen, wie sie ist. - Man kann dieses
Problem in vielen Reflexionen zum Realismus, wohl auch in vielen
realistischen Romanen selbst finden. Ich zitiere als Beispiel
aus dem Mann ohne Eigenschaften: "Das Gewöhnliche ist, dass uns
eine Herde nichts bedeutet als weidendes Rindfleisch. Oder sie
ist ein malerischer Gegenstand mit Hintergrund. Oder man nimmt
überhaupt kaum Kenntnis von ihr. Rinderherden an Gebirgswegen
gehören zu den Gebirgswegen, und was man in ihrem Anblick
erlebt, würde man erst merken, wenn an ihrer Stelle eine
elektrische Normaluhr oder ein Zinshaus dastünde.
Ansonsten überlegt man, ob man aufstehn oder sitzenbleiben soll;
man findet die Fliegen lästig, von denen die Herde umschwärmt
wird; man sieht nach, ob ein Stier unter ihr ist; man überlegt,
wo der Weg weiterführt: das sind unzählige kleine Absichten,
Sorgen, Rechnungen und Erkenntnisse, und sie bilden gleichsam
das Papier, auf dem das Bild der Herde steht. Man weiss nichts
von dem Papier, man weiss nur von der Herde darauf."
Nach Musil vulgo Ulrich sind es diese Sprach- beziehungsweise
Begriffs-bestimmten Wahrnehmungen, die einerseits meistens
verhindern, dass wir Wirklichkeit so erleben, wie sie ist, und
es andererseits mit sich bringen, dass die Sprache als die
gleichsam handhabbare kommunikable Form, die jene Begriffe
annehmen, nicht an jene Wirklichkeit heranreicht. Dagegen ist
die Sprache gerade deshalb manchmal ein geeignetes Instrument,
Wirklichkeit wiederzugeben, weil sie eben von der Wirklichkeit
unterschieden werden kann, die sie wiedergibt.
Wäre es aber nicht gerade der angebliche Mangel, der darin
bestehen soll, dass unsere Begriffe, unsere für Musil allzu
begriffsbestimmten Wahrnehmungen uns daran hindern, Wirklichkeit
so zu erleben, wie sie ist, der uns zum Möglichkeitssinn
befähigt; zu jenem Möglichkeitssinn, der uns erlaubt das, was
angeblich nicht ist, mit Hilfe der Sprache zu erfinden? Wäre es
nicht jener angebliche Mangel, der uns erlaubt, das Papier, auf
dem jene Herde steht, seinerseits zu dem zu machen, was man
gerade erlebt, zu einer wirklichen Herde, die aus Absichten,
Sorgen, Rechnungen und Erkenntnissen besteht, aus all dem, was
jener Beschreibung des Realismus gemäss, als nicht-wirklich
verstanden wird?
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Nun gibt es aber auch Texte, die nicht in erster Linie dazu
verführen, sich von den Mechanismen der Interpretation leiten zu
lassen, die zu der Lesart führen, die ich als realistisch
gekennzeichnet habe, zu jener Lesart, die, zufolge von Annahmen,
die der metaphysische Realismus enthält, selbstverständlich
handelt und ihnen gemäss liest. Diese Texte sind sehr häufig,
aber natürlich keineswegs immer, Gedichte, also Texte, welche
den problemlosen Gebrauch des Wirklichkeitssinns im Rahmen der
Erfindung Literatur erschweren: Dass in solchen Texten die
Zeilen nicht bis zum Ende der Seite geführt werden, dass es
auffällige Symmetrien begrifflicher, grammatikalischer,
lautlicher, rhythmischer Art gibt, alles das also macht es
unmöglich, gänzlich über die scheinbar reale Gegenwart des Texts
selbst hinwegzusehen. In manchen Texten bzw. manchen Traditionen
werden die Hindernisse für eine realistische Lesart sehr gross.
Man denke etwa an die Lyrik in der Tradition Mallarmés, an
manche Gedichte Georges, Trakls oder Celans, aber auch an die
Texte in dadaistischer und surrealistischer Tradition,
schliesslich an die Texte in jener Tradition, die Reich-Ranicki
so polemisch bekämpft, an die Texte in der modernistischen oder
avantgardistischen Tradition, wie sie vor allem in den
fünfziger, sechziger und siebziger Jahren entstanden sind und
vielleicht heute noch entstehen.
*
Für meine Skizze zweier entgegengesetzter und komplementärer
Lesarten nehme ich an, dass die Mechanismen einer realistischen
Interpretation, denen Reich-Ranicki so leicht verfällt, sich
deutlicher als Mechanismen und als eine Möglichkeit unter
anderen zeigen, wenn ich mir einen Text vorstelle, der diesen so
üblichen Mechanismen einigen Widerstand bietet.
Ich stelle mir also einen Text vor, sagen wir ein Gedicht, das
von der allgemein üblichen Sprache ziemlich weit entfernt ist,
das sich nicht unmittelbar auf anscheinend bekannte Vorgänge und
Ereignisse beziehen lässt, und dessen Sinn sich auch nicht
unmittelbar in der Prosa der alltäglichen Umgangssprache
paraphrasieren lässt.
Um eine der hier möglichen Abweichungen von der allgemein
üblichen Sprache möglichst deutlich auszumalen, nehme ich
zunächst an, dass in dem Gedicht eine Reihe von Wörtern
vorkommen soll, die dann als Homonyme angesehen werden können,
wenn man darauf verzichtet, manche Wörter durch Grosschreibung
hervorzuheben: Wörter wie das Wort naht (sich nähern oder die
Naht); hut (das, was man aufsetzt, und das Hauptwort von
behüten); lose (die Lose oder das Lose (lose Fäden)); regen
(sich regen oder der Regen), wolle (Konjunktiv von wollen oder
die Wolle); trachten (nach etwas trachten, oder die Trachten);
kappen (ein Tau kappen oder die Kappen, die eine Art Hut sind);
tauen (von den Tauen, die eine Art Stricke sind, oder als
Infinitiv des Zeitworts, das die selbe Wurzel hat wie das
Hauptwort der Tau).
Um aber tatsächlich immer beide Bedeutungen empfinden zu lassen,
sollten in dem Gedicht häufig die Synonyme beider möglichen
Bedeutungen vorkommen oder wenigstens beiden Bedeutungen des
Homonyms verwandte Bedeutungen: kappen als Pluralform von die
Kappe könnte hut entsprechen; kappen im Sinne von Abschneiden
könnte schnitte entsprechen und das tau, das man kappt; tauen im
Sinne dessen, was der Tau tut, könnte tropfen entsprechen; tauen
als Dativ Plural von das Tau vielleicht stricken, das als
Pluralform von Strick und wiederum zum Zeitwort kappen passen
könnte.
In dem Gedicht, von dem ich hier träume, könnten alle Ausdrücke,
die Begriffe bezeichnen können, als aus bestimmten
Begriffsfeldern stammend angesehen werden: tau, tropfen, regen
könnte dafür sprechen, dass das Begriffsfeld Wasser eine
wesentliche Rolle spielt, manche andere der erwähnten Wörter
sprechen dafür, dass es auch das Begriffsfeld Kleidung wichtig
ist, und gerade deshalb (weil die Kleidung ja normalerweise dazu
da ist, Körper zu bedecken) stelle ich mir ausserdem vor, dass
auch das Begriffsfeld Körper für das Gedicht wesentlich ist.
*
In einem Gedicht Homonyme, Synonyme usw. ausfindig zu machen und
verschiedene Begriffsfelder zu identifizieren, also
festzustellen, dass eine Reihe von Wörtern vorkommt, deren
Bedeutungen mehr oder weniger eng verwandt sind, wäre natürlich
nur der Beginn des Verstehens des Gedichts.
Und ich behaupte nun: versucht man dieses Gedicht im Sinne jener
Lesart zu deuten, welche die Annahmen des metaphysischen
Realismus nicht akzeptiert, muss man sowohl unter
Möglichkeitssinn als auch unter Wirklichkeitssinn etwas anderes
verstehen als Musil. Wenn Musil den Möglichkeitssinn als die
Fähigkeit definiert, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken
und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht
ist, dann könnte Möglichkeitssinn jetzt zunächst als
Vieldeutigkeitssinn verstanden werden; nämlich als die Fähigkeit
definiert werden, alles, was ein Wort ebensogut bedeuten könnte,
zu denken, und die eine Bedeutung nicht wichtiger zu nehmen als
die andere. Ob nun das Wort naht in dem Gedicht etwas damit zu
tun hat, dass sich etwas nähert, oder mit der Stelle, an der
etwas genäht worden ist, das bleibt zunächst offen; genauso
offen, wie ob das Wort kappen mit dem Wort schnitte
zusammenhängt oder mit dem Wort hut. So also könnten zunächst
die Homonyme und die Synonyme als solche erkannt werden und
damit allgemeiner: das Entfalten des Zusammenhangs zwischen den
Ausdrücken (Klang und Schrift) und den Begriffen.
Wenn sich hier etwas wie Wirklichkeitssinn entfaltet, dann als
Einschränkung der Tätigkeit jenes Möglichkeitssinns innerhalb
des Verstehens des Gedichts, den ich Vieldeutigkeitssinn genannt
habe. Die Wirklichkeit jedes Moments des Verstehens ist der
Kontext des Gedichts. Was ich lesend verstehe, verstehe ich um
so besser, um so besser ich es verstehe, die Eigenschaften der
in einem Lese-Augenblick er-lesenen Wirklichkeit an die
Eigenschaften der anderen Lese-Augenblicke zu knüpfen. Wenn
Musil schreibt: "Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will,
muss man die Tatsache achten, dass sie einen festen Rahmen
haben: dieser Grundsatz [...] ist einfach eine Forderung des
Wirklichkeitssinns.", dann könnte man hier so übersetzen: Wenn
man gut verstehen will, was das Wort Tür in diesem Gedicht
bedeutet, dann muss darauf achten, in welchem Zusammenhang es
vorkommt: in welchem grammatikalischen, lautlichen und
begrifflichen Zusammenhang. So ist dieser Zusammenhang nicht
etwas anscheinend ausschliesslich für die Sinne Gegebenes wie
die geöffnete Tür und mein Körper, der gut durch sie kommen
will, sondern ein Bedeutungskonstrukt, das sinnlich
Wahrnehmbares nur als einen seiner Aspekte enthält.
*
Für mich ist mit dieser Lesart des Gedichts impliziert,
dass jedes Wort alle seine möglichen Bedeutungen beziehungsweise
alle seine möglichen Wirklichkeiten enthalten kann; und damit
auch, dass jedes Wort die ganze Sprache, also jeden möglichen
sprachlichen Sinn enthalten kann, so ähnlich wie jeder Ton alle
anderen Töne in Form von Obertönen enthält.
Unter dem Verdacht stehend, ein Wort eines Gedichts zu sein,
erregt etwa das Wort tauen für sich allein genommen alle
möglichen Verbindungen seines Vorkommens diffus: In diesem
Augenblick sind jenem Vieldeutigkeitssinn noch keine
Grenzen gesetzt. Erst dann, wenn andere Worte dazukommen, lässt
es sich in mehr vordergründige und mehr hintergründige
Verbindungen einordnen. Der Möglichkeitssinn, der sich am Wort
tauen entfaltet, wird dann in bestimmte Richtungen gelenkt,
seine Freiheit durch die Wirklichkeit, die Wirksamkeit des
Gedichts eingeschränkt.
Eingeschränkt wird diese Freiheit allerdings auf ganz andere
Weise als dann, wenn man den Text realistisch interpretiert und
also unterstellt, dass der Text Eigenschaften von Gegenständen
beschreibt oder darstellt, die auch unabhängig von ihm (als
wirkliche oder mögliche) existieren; eingeschränkt wird nicht
etwa durch vorgeblich detailliertes Benennen, das erlaubt, sich
Situationen auszumalen, die jenen, in die wir unabhängig vom
Lesen des Texts zu geraten glauben, in vielen Hinsichten ähneln
sollen, sondern dadurch, dass die Eigenschaften der Sprache, die
bei ihrem Gebrauch in einem Roman wie Der Mann ohne
Eigenschaften eine angeblich untergeordnete Rolle spielen - also
Klang, Schriftbild, grammatikalische Form, aber auch die
semantischen Implikationen der begrifflichen Seite des Wortes -,
dazu gebraucht werden, das Wort mit anderen Worten in Beziehung
zu setzen und somit sein Sinn-Potential zu ordnen, zu
hierarchisieren, einzuschränken. In dem Gedicht, das mir
vorschwebt, bestünde das dichterische Spiel darin, manche
jener Eigenschaften der Sprache zu aktualisieren und andere zu
unterdrücken.
Nicht nur wird ansonsten unvermerkt verschlungener Sinn
aktualisiert, sondern es wird auch der in dem jeweiligen
Zusammenhang unerwünschte Sinn ausgesondert oder wenigstens
ferngelegt; allerdings eben nicht unvermerkt, sondern merklich,
das heisst als Moment einer Deutung, oder, vom Schreibenden aus
gesehen, einer Absicht. Käme in dem Gedicht das Wort tauen so
vor, dass es sich sowohl um eine Form des Taus auf Gräsern als
auch um eine Form des Taus, der ein Strick ist, handeln kann,
und kämen in dem Gedicht auch das Wort rot und das Wort
getauscht vor, welches das Wort tau enthält, dann bedürfte es
vielleicht nicht mehr vieler Schritte, um dazu zu kommen, dass
hier tau und blut - als Flüssigkeit und auch als eine Art
dicker, roter Faden (=Strick) - einander ersetzen
können. Andere Begriffe, die vielleicht mit dem tau (auf
Gräsern) in anderen Zusammenhängen näher verbunden sind, sind
damit aber unterdrückt, ja unmerklich wäre auch die übliche
Definition von Tau als Wasser, das sich bei klarem Wetter auf
Dingen unter freiem Himmel absetzt, in den Hintergrund gedrängt.
Für einen solchen Text, für ein solchen Gedicht liegt eben die
Interpretation nahe, dass ein Wort erst im Zusammenhang der
Organisation des Gedichts seine Bedeutung annimt, nämlich durch
Gewichtung unter seinen möglichen Bedeutungen.
*
Für diese Lesart gilt also, dass die Norm der allgemein üblichen
Sprache in den Hintergrund rückt, und vor allem jene Beziehungen
zwischen den verschiedenartigen Elementen des Gedichts zählen,
von welchen angenommen wird, dass sie durch die Sprache des
Gedichts selbst hergestellt werden.
So könnten in dem Gedicht alle Wörter, die normalerweise Teile
der Kleidung bezeichnen (also zum Beispiel Fäden, Falten, Saum,
Naht, usw.), als das angesehen werden, was Teile des selben
Gegenstands bezeichnet, der auch durch eine Reihe von Wörtern
bezeichnet wird, die normalerweise Teile des Körpers bezeichnen
wie Finger, Schweiss, Blut, Hals, Mund usw.
Welche Interpretationsentscheidungen man hier auch treffen mag:
sie hängen von jener speziellen Form des Möglichkeitssinn ab,
die ich Vieldeutigkeitssinn benannt habe.
Alles, was zu diesem Modell des Verstehens eines Texts
gehört, impliziert für mich also, dass es für dieses Verstehen
nur ein Moment darstellt, dass sich die Wörter, die Begriffe
bezeichnen können - Hauptwörter, Zeitwörter, Eigenschaftswörter,
Umstandswörter -, normalerweise auf bestimmte Eigenschaften von
Gegenständen oder Vorgängen oder Relationen zwischen ihnen
beziehen und auf andere nicht. Von diesem Modell aus gesehen
sind alle üblichen Klassifikationen von Gegenständen, unser
ganzes übliches Begreifen von Wirklichkeit nicht massgeblich.
Auch sie gehören zu einer Interpretation, die nur durch den
Kontext des Gedichts selbst rechtfertigbar ist.
Wenn man hier annimmt, dass das Gedicht sich auf eine Welt oder
Wirklichkeit bezieht, dann wäre diese Welt oder Wirklichkeit
nichts als die Resultante der jeweils unterstellten Beziehungen
zwischen den begrifflichen Elementen des Gedichts.
Für diese Lesart besteht das Verstehen in der dynamischen
Entfaltung der voneinander wechselseitig abhängigen
Elemente des Gedichts. Die Wirklichkeit wird während des Lesens
konstruiert und durch das Lesen; sie besteht darin, dass die
sinnlichen und die sinnhaften Momente des Sprachlichen, ihr
dynamisches Entfalten, mitvollzogen und (untrennbar von
diesem Mitvollziehen) klassifiziert werden.
Diese sich so entfaltende Wirklichkeit ist also umfassend: Die
Sinne werden von den sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der
Sprache absorbiert, die sinn-bildenden Kräfte konstruieren die
Bedeutungen, den Sinn des Gedichtes, in Wechselwirkung mit jenen
sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften von Sprache. Es gibt keinen
anderen Zeit-Raum als den während des Verstehens des Gedichts
hervorgerufenen. Alles, was erfahren wird, wird nicht aus seinen
hier und jetzt gegebenen gedichtsprachlichen Bedingungen
entlassen. Die Sprache des Gedichts stellt die Wirklichkeit als
seine Wirksamkeit her; die Wirklichkeit des Begreifens ist die
Wirklichkeit.
*
Die Schreibweisen und die Ästhetik, die dem Common sense zu
widersprechen scheinen, sind die, welche man konstruktivistisch
nennen könnte. Die Philosophie, die anscheinend sowohl dem
Common sense als auch dem literarischen Realismus am fernsten
liegt, jenem Konstruktivistischen aber am nächsten, könnte man
Idealismus nennen. Sie könnte diese Annahme enthalten: Welt oder
Wirklichkeit werden durch menschliches Erkennen hergestellt;
oder, in einer schwächeren Variante: Gibt es etwas jenseits des
menschlichen Erkennens, so kann man es von der Welt oder
Wirklichkeit, die durch menschliches Erkennen hergestellt wird,
nicht unterscheiden. Wird dieser Idealismus im Zusammenhang mit
Literatur, einer ästhetischen Haltung bzw. Schreibweise wirksam,
dann wird aus jener ersten Annahme: Welt und Wirklichkeit werden
durch das jeweilige Lesen des literarischen Texts hergestellt;
oder, gemäss der schwächeren Variante: gibt es etwas jenseits
dessen, was durch das jeweilige Lesen des literarischen Texts
hergestellt wird, so ist es nicht erkennbar.
Für das Verhältnis zwischen den behaupteten konstruktivistischen
Schreibweisen und jenem Idealismus gilt aber wiederum Ähnliches
wie für den Zusammenhang zwischen behaupteten realistischen
Schreibweisen und der Philosophie des metaphysischen Realismus:
auch dieser Zusammenhang hat nicht den Charakter der
Notwendigkeit. Scheibweisen, die man als konstruktivistisch
klassifiziert, können suggerieren, dass die Annahmen des
philosophischen Idealismus falsch oder unplausibel sind, oder
aber natürlich auch, dass sie nur eine Möglichkeit darstellen,
sich etwas klarzumachen. Umgekehrt könnte ein Text, der so
geschrieben ist, dass man nicht geneigt ist, ihn als
konstruktivistisch zu klassifizieren, dennoch suggerieren, dass
die Annahmen, die dem Idealismus zugrundeliegen, richtig oder
plausibel sind. Vielleicht ist Der Mann ohne Eigenschaften
gerade dafür ein gutes Beispiel.
*
Die Eigenschaften des fiktiven Gedichts, die ich mir ausgemalt
habe, haben etwas gemeinsam: Dieses Gemeinsame besteht in der
Häufung dieser Eigenschaften. Die Häufung dieser Eigenschaften
macht erst plausibel, dass eine Interpretation, die sich auf sie
beruft, nicht zufällig ist. Wäre die Häufigkeit solcher Merkmale
im Bereich des statistisch Erwartbaren, wie vielleicht in einem
Text wie Der Mann ohne Eigenschaften, dann wäre auch jene
nicht-realistische Lesart entsprechend unfruchtbar.
Mit anderen Worten: man wird dadurch verführt, den Text in dem
Sinn zu begreifen, in dem ich es versuche, dass eine ganze Reihe
von Sinnelementen in präsentis vorkommen, von denen
normalerweise die meisten in einem Kontext nur in absentis
vorkommen. Theoretisch stehen in einem bestimmten Augenblick der
Rede alle semantischen Elemente einer Sprache zur Wahl.
Normalerweise allerdings kommen tatsächlich nur wenige in Frage,
und dass diese wenigen in besonderem Mass in Frage kommen,
begründet ihre semantische Verwandschaft.
Unter der Wucht der alltäglichen Umstände, des Pragmatischen
oder auch des Common sense und damit auch geleitet von der
Vorstellung, dass der zu bezeichnende Gegenstand schon so oder
so jenseits seiner Bezeichung existiert, wird dann nur jeweils
eines der zu Gebote stehenden semantischen Elemente ausgewählt
und also tatsächlich geäussert. Der Auswahlmechanismus selbst,
und also auch der Zusammenhang zwischen den angeblichen
Eigenschaften jenes Gegenstandes mit dem sich automatisch
vollziehenden Auswahlmechanismus, bleibt, so muss man meist
unterstellen, im Dunkeln - in diesem Sinn spricht man viel
weniger, als man gesprochen wird. Besteht nun nicht ein
wesentliches Moment des Schreibens oder Lesens von Poesie darin,
weder blindlings ein einziges semantisches Element auszuwählen
und zum Text zu machen, noch blindlings einen schon mit diesen
oder jenen Eigenschaften existierenden Gegenstand
vorauszusetzen?
- Nicht entweder der Hut oder die Kappe also, sondern sowohl
der Hut als auch die Kappe. Das heisst allerdings nicht,
dass tatsächlich sowohl das Wort Hut als auch das Wort Kappe
im Text vorkommen müssen. Unter Umständen können auch andere
Verfahren als das Auftauchen des Worts selbst erreichen, dass
man die Alternativen mitdenkt, dass sie, obwohl in absentis, zum
Text gehören, das heisst zu seinem Verstehen.
Mit der Häufung von jeweils semantisch naheliegenden Elementen
wird etwas erreicht, das ganz wesentlich ist: Es gibt nicht nur
Ausdrücke, die bezeichnen, sondern der Text zeigt auch etwas von
den Auswahlmechanismen, die zum Bezeichnen führen.
Man hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass die
Aufmerksamkeit auf die Nachricht selbst gerichtet werde. Ich
halte diese Formel für etwas missverständlich, wird mit ihr doch
suggeriert, man würde die Aufmerksamkeit vor allem auf die
Oberfläche des Texts richten, auf das, was vom Text tatsächlich
vorhanden ist. Ich glaube, es ist hier mindestens so richtig,
davon zu sprechen, dass die Aufmerksamkeit damit auf das
Auswählen selbst gerichtet wird; also nicht nur auf die
Vorstellung einer Sache, die sich damit aufdrängt, dass das
gewählte Wort etwas bezeichnen soll, sondern auch auf jenen
Bereich von Gegenständen, den man sein eigenes semantisches
Potential nennen könnte. Man könnte auch sagen, dass sich die
Aufmerksamkeit auf die ganze Tätigkeit des eigenen Geistes
richtet und nicht nur auf das Resultat, das darin besteht, dass
bestimmte Worte als das gedacht werden, was bestimmte Dinge
bezeichnet. Dass die Begriffe bzw. die Relationen zwischen den
Begriffen als eigenständiger Bereich von Gegenständen betrachtet
werden können, wäre ein Aspekt davon, dass sich die
Aufmerksamkeit auf den eigenen Geist richtet. Und ein Aspekt
davon wäre wiederum, dass das jeweils unterstellte
Gegenständliche jenseits des Begrifflichen als Resultat der
Entfaltung des Begrifflichen betrachtet werden kann. (Diese,
meine Rede davon ist allerdings insofern selbstwidersprüchlich,
als sie jenes semantische Potential oder den eigenen Geist
wiederum als gegebenen Bereich von Gegenständen hinstellt, so
als ob er auch unabhängig von der Bedeutungskonstruktion des
jeweiligen Lesens bestehen würde.)
*
In diesem Modell gibt es zwei verschiedenartige Möglichkeiten,
übertragenen Sinn (also etwa Metapher, Metonymie, Pars
Pro Toto usw.) zu behaupten. Die erste Möglichkeit ist schon im
letzten Kapitel angedeutet worden. Man versteht so, dass man
einen Gegenstand konstruiert, der diese oder jene Eigenschaften
hat, zum Beispiel etwas, das sowohl die Eigenschaften des Löwen
als auch die des Menschen hat. Dieser mit dem oder durch das
Gedicht konstruierte Gegenstand des menschlichen Löwen oder des
löwenhaften Menschen kann nur metaphorisch eine Eigenschaft
haben, die weder dem Menschen noch dem Löwen zugesprochen
werden. Ihm können auch nur metaphorisch jene Eigenschaften
abgesprochen werden, die normalerweise sowohl Löwen als auch
Menschen haben, zum Beispiel Mähnen oder Haare.
Die andere Möglichkeit, übertragenen Sinn zu behaupten, hat
damit zu tun, dass die Gegenstände, die man mit dem und durch
das Verstehen des Texts konstruiert, auch Begriffsfelder sein
können, das heisst Reihen von Begriffen, denen man bestimmte
Beziehungen zueinander unterstellt. Gerade weil in dieser Lesart
keine vom Lesen unabhängige Wirklichkeit oder Möglichkeit
vorgegeben ist, kann man den Bereich des Begrifflichen als
eigenständigen ansehen. Das Lesen des Gedichts wird zur
Entfaltung dieses Bereichs. Es besteht jetzt darin, zwischen
Begriffselementen Beziehungen herzustellen, Beziehungen, die
sich im Verlauf des Lesens auf vielfältige Weise ändern können,
Beziehungen deren Ordnungen sich erst mit und durch das Lesen
herausstellen. (Das Lesen erzeugt sozusagen die Geschichte von
Begriffen.)
So könnte in dem Gedicht, das ich mir vorstelle, das
Begriffsfeld Kleidung und das Begriffsfeld Körper behauptet
werden und als aus diesen oder jenen Begriffselementen bestehend
gedacht werden, die in dieser oder jener Ordnung zueinander
stehen. Wird nun eines dieser Begriffselemente durch ein Wort
bezeichnet, das in dem Text selbst vorkommt, dann kann dieses
Wort so gelesen werden, als stünde es für einen Aspekt oder Teil
dieser begrifflichen Ordnung, aus der es stammt: Würde etwa der
Begriff Hemd in dem Text bezeichnet, während für das
Begriffsfeld Kleidung zugleich eine Ordnung so behauptet wird,
dass der Begriff Hemd dem Begriff Kleidung logisch untergeordnet
ist (Hemd ist sozusagen eine Art in der Gattung der Kleidung),
dann kann so gelesen werden, dass das Wort Hemd auch für den
Begriff Kleidung steht. Ist das Gedicht so organisiert, dass
eine Reihe von Wörtern als Hinweise zu einer Konstruktion jener
begrifflichen Ordnung aufgefasst werden können, dann können
durch ein beliebiges Wort dieser Ordnung (etwa durch das Wort
Hemd) bestimmte Beziehungen zwischen den Begriffselementen jener
Ordnung selbst bezeichnet werden (etwa durch das Wort Hemd die
Relation Art/Gattung).
Ein zweites Beispiel: werden die begrifflichen Beziehungen zum
Beispiel insofern geordnet, als das Begriffsfeld Körper und das
Begriffsfeld Kleidung voneinander unterschieden werden, während
ihnen aber zugleich eine vergleichbare Ordnung begrifflicher
Elemente zugesprochen wird, dann könnte - immer, natürlich, eine
Organisation des Gedichts vorausgesetzt, die diese Lesart
plausibel macht - irgendein Element aus dem Begriffsfeld
Kleidung für irgendein Element des Begriffsfelds Körper stehen,
während damit zugleich auch die Relation der Vergleichbarkeit
zwischen den beiden Begriffsfeldern bezeichnet werden könnte,
also die metaphorische Relation selbst. Welche sprachlichen
Eigenschaften für den übertragenen Sinn, zum Beispiel des Wortes
Ärmel, plausibel namhaft gemacht werden können, hängt wiederum
von dem Kontext des Gedichts ab: Wird etwa behauptet, dass das
Wort Ärmel sowohl den Begriff Arm als auch die Vergleichbarkeit
der Begriffsfelder Kleidung und Körper bezeichnet, dann könnte
die Ähnlichkeit der Klänge von Arm und Ärmel ein Anlass dafür
sein, genauso wie die den Begriffen Arm und Ärmel als gemeinsam
unterstellbaren Begriffselemente längliche Form oder die den
beiden Wörtern gemeinsame grammatikalische Form Hauptwort.
Man sieht hier auch: was ich in Analogie zu Musils Begriff des
Möglichkeitssinns Vieldeutigkeitssinn nenne, bezieht sich nicht
nur darauf, dass ein Wort in dem Sinn vieldeutig ist, dass es
hinsichtlich einer Ebene des Bezugs verschiedene Bedeutungen
haben kann, sondern auch in dem Sinn, dass es sich auf
verschiedene Ebenen des Bezugs beziehen kann: nicht nur auf
Gegenstände möglicher Wahrnehmung (in der von mir als
realistisch bezeichneten Lesart) oder auf Gegenstände als
Ergebnis des Konstruktion begrifflicher Ordnungen, aber auch
nicht nur auf Begriffe als Gegenstände, sondern auch auf jenen
Bereich von Gegenständen, der die Eigenschaften jener Begriffe
und ihre Ordnungsbeziehungen enthält.
Die Sphäre des Begriffs als eigene auszuzeichnen, setzt also
einen Begriff von Sprache voraus, speziell von literarischer
Sprache, der auch ermöglicht, die bezeichnende Funktion der
Sprache mit ihrer begrifflichen zu identifizieren, sich also auf
Begriffe zu beziehen, und die Möglichkeit, dass man sich mit
Hilfe der Begriffe auf Gegenstände jenseits des Begrifflichen
bezieht, hintanzustellen.
Dass dieser Aspekt einer konstruktivistischen Lesart seine
eigene langwierige Tradition hat, die keineswegs auf
modernistische oder avantgardistische Poetiken reduzierbar ist,
könnte man nicht nur aus verschiedenen Bemerkungen der Brüder
Schlegel oder von Novalis ersehen, sondern genausogut auch aus
manchen Poetiken des italienischen oder spanischen Barock, die
heute unter dem Namen Konzeptismus beschrieben werden. Ich denke
dabei etwa an die berühmte Poetik des Tesauro.
*
Eine weiterer Aspekt davon, dass nicht die Existenz einer
Wirklichkeit, die bestimmte Eigenschaften hat und unabhängig
vom Verstehen des Gedichts existiert, angenommen wird, ist also:
die begrifflichen Relationen, und somit einige der mit Hilfe der
Rhetorik beschreibbaren Figuren, werden selbst zum Gegenstand
der Aufmerksamkeit. Denn damit, dass nicht einfach eine zu
benennende und schon strukturierte Welt jenseits des
Begrifflichen vorgestellt wird, sondern eine Welt aus Klängen
und Schriftzeichen einerseits, andererseits aus Begriffen, deren
Beziehungen erst in einem weiteren Schritt eine Welt oder
Wirklichkeit er-lesen lassen, wird nicht nur der ansonsten
fundamentale Unterschied zwischen wörtlicher und übertragener
Rede relativ, das heisst zum Moment einer Deutung, sondern es
werden auch die Umstände des jeweiligen Sprechens und ihr
jeweiliges Ziel unbestimmt oder vielfach bestimmbar, ja mögliche
Begriffe dessen, was Umstände des jeweiligen Sprechens sein
könnten, rücken selbst ins Gesichtsfeld. Die Logik der
semantischen Beziehungen und im besonderen auch diejenigen
dieser Beziehungen, die in Rhetoriken verzeichnet sind,
verlieren ihre pragmatischen Funktionen, denn einerseits wird
das jeweils unterstellte Gegenständliche bzw. das jeweils
unterstellte Pragma als ein, durch das Lesen des Texts selbst
hervorgerufener, Entwurf einer Wirklichkeit deutbar, und
andererseits kann diese Wirklichkeit diejenige der begrifflichen
Ordnungen selbst sein, deren Konstruktion jetzt das ist, worauf
man sich bezieht.
Die semantischen und die rhetorischen Beziehungen, aber auch die
Grammatik, als eines der Momente, in denen sich diese
Beziehungen zeigen können, werden damit zu dem, was die
Romantiker, wie die Brüder Schlegel oder auch Novalis, von ihnen
verlangt haben: zu Gestalten der Kontemplation; einer
Kontemplation, in der sich das Spiel der Erzeugung von
Gegenständlichkeit, Welt oder Wirklichkeit in einem einzigen
Lesen auf verschiedenen Ebenen herstellen kann, und eben damit
zugleich zur Reflexion der Konstruktion von Gegenständen wie
auch zur Reflexion der Gegenständlichkeit der Reflexion selbst
wird. Gegenstände als Ergebnis begrifflicher Operationen und
Begriffe als Gegenstände bringen einander wechselseitig hervor
und damit etwas, für das die Poesie unentwegt in die Poesie der
Poesie und die Poesie der Poesie unentwegt in die Poesie
übergeht. So wird unter diesem Gesichtspunkt das Lesen eines
Texts zu einem Prozess des Verstehens, der den Verstehenden bzw.
sein Entwerfen von Sprache und Sache in flagranti zu ertappen
sucht. Und laufen nicht viele programmatisch sprachkritische
Äusserungen des Modernismus oder Avantgardismus, seien es jene
der Dadaisten oder auch jene der experimentellen Literatur nach
dem 2. Weltkrieg (Heissenbüttel, die Wiener Gruppe) auch genau
darauf hinaus?
*
Für diese, vielleicht tatsächlich vor allem romantische, Lesart
wären es, um auf die zitierte Passage aus dem Mann ohne
Eigenschaften zurückzukommen, gerade das Papier aus Rechnungen
und Erkenntnissen und das zu diesem Papier gehörige Bild der
Herde, was zur Wirklichkeit würde. Man wüsste vielleicht vieles
von dem Papier und von der Herde, aber es gäbe jedenfalls keine
andere Wirklichkeit als eben diejenige jenes Wissens; dieses
Wissen bzw. seine Konstruktion würden zu Papier und Herde
gehören, und keine elektrische Normaluhr, kein Zinshaus wären
möglich, die auf eine wirklichere Wirklichkeit des Erlebens
jenseits jener Rechnungen und Erkenntnisse aufmerksam machen
könnten.
Dass kappen zu tau gehört, tau aber sowohl zu wasser als auch
zu strick und damit zu faden, beide aber zu vergleichbaren
begrifflichen Ordnungen, könnte es nicht das Gespinst
solcher Beziehungen sein, welches das Gewoge von Empfindungen
(in diesem Fall: äusserer sprachlicher wie auch innerer
Empfindungen) herstellt, das wir dann als Wirklichkeit
erfahren? In einem solchen Verstehen würde im Akt seines
Herstellens oder seines Rezipierens auch das Gewoge des Sinns
(der Rechnungen und Erkenntnisse) wahrgenommen statt
ausschliesslich das Gewoge dessen, was mit den Sinnen
wahrgenommen wird und ja auch ein Teil jener Rechnungen und
Erkenntnisse wäre.
Die Begriffe (als die Rechnungen und Erkenntnisse in einem ihrer
möglichen Zustände) würden sich nicht vor die Wirklichkeit
schieben - darin besteht eben die Vorstellung des literarischen
Realismus - sondern Wirklichkeit als Vorgang des Lesens
oder des Schreibens hervorrufen.
*
Ich habe im Zusammenhang dieser Lesart immer von Ausdrücken (von
dem, was sichtbar und hörbar an Sprache ist) gesprochen und von
Begriffen (der semantischen Seite der Sprache) und von dem,
woraus Begriffe vielleicht bestehen, also von all dem, was Musil
Rechnungen und Erkenntnisse nennt. Und wenn ich von Dingen oder
Ereignissen gesprochen habe, dann nicht von Dingen oder
Ereignissen, die unabhängig von dem Verstehen des Gedichts
stattfinden oder stattfinden können, so als könnte das Gedicht
sich auf sie beziehen oder gar: sie wiedergeben oder darstellen.
Wenn es mit diesem Modell vereinbar sein soll, dass etwas dem
Gedicht Jenseitiges und von ihm Unabhängiges wiedergegeben oder
dargestellt wird, dann wäre das nicht ein Aspekt, ein Teil des
Jenseits des Gedichts, ein bestimmter Bereich von Gegenständen
unter anderen, sondern dann würde - wie es Novalis, dieser
Euphoriker des Möglichkeitssinns ausdrückt - durch das
Verhältnisspiel der sprachlichen oder durch das Lesen erzeugten
Dinge das Verhältnisspiel der Dinge jenseits der Wirklichkeit
oder Wirksamkeit des Gedichts wiedergegeben oder dargestellt,
also so etwas wie das gesetzmässige Verhalten der ganzen
Wirklichkeit und aller Möglichkeiten jenseits des Gedichts.
Diese Wiedergabe oder Darstellung könnte man sich dann aber auch
als wechselseitig denken: Nicht nur gäbe die er-lesene
Wirklichkeit die Wirklichkeit und die Möglichkeiten der Welt
wieder, sondern auch die Wirklichkeit und die Möglichkeiten der
Welt die erlesene Wirklicheit.
Die Behauptung dieser sehr allgemeinen Entsprechung wäre aber
ihrerseits Resultat einer Spekulation, Ergebnis wiederum eines
frei entwerfenden Möglichkeitssinns im Rahmen eines
metaphysischen Realismus, der - gleichsam von einem imaginären
dritten Auge aus - das Spiel zweier selbstständiger Universen
- des Universums Gedicht und des Universums Welt - betrachtet
und gewisse Ähnlichkeiten zu beschreiben behauptet.
Mit dieser Formel, die so etwas wie eine Entsprechung der
Wirklichkeit des Gedichts mit allem, was es in einem Jenseits
des Gedichts geben kann, für möglich hält, schlage ich die
Brücke zur zweiten Lesart, zu dem Modell, dem Reich-Ranicki
allzu selbstverständlich folgt.
3
In dem Gedicht, das mir vorschwebt, sollten einerseits Homonyme
und Synonyme erkannt werden können und andererseits auch, dass
die Wörter, die Begriffe bezeichnen können, aus bestimmten
Begriffsfeldern stammen. Alles das wurde als Hinweis dafür
aufgefasst, das Gedicht nicht im Sinne der Vorgaben eines
Realismus zu lesen.
Ein Hinweis in die andere Richtung, nämlich darauf, dass aber
auch die Lesart Realismus für eine Interpretation fruchtbar sein
könnte, könnte nun in vielen anderen, unterstellten
Eigenschaften des Gedichts bestehen. Das könnte damit beginnen,
dass es vielleicht in vielerlei Hinsicht die üblichen Regeln des
Satzbaus einhält, dass es Wörter verwendet, die auch sonst dazu
verwendet werden, etwas, das ausserhalb ihrer gedacht wird, zu
bezeichnen usw. Und spezieller stelle ich mir vor, dass das
Gedicht bestimmte idiomatische Züge behält, dass man es auch als
aus Phrasen zusammengesetzt denken kann, die normalerweise
häufig gebraucht werden. Nimmt man an, dass in dem Gedicht das
Begriffsfeld Kleidung eine wesentliche Rolle spielt, so könnte
in dem Gedicht davon die Rede sein, dass jemand zugeknöpft ist
oder etwas aufbauscht usw.; denkt man an das Begriffsfeld
Körper, so könnte in dem Gedicht davon die Rede sein, dass etwas
oder jemandem beine gemacht werden, oder davon, dass etwas oder
jemand das gesicht verliert usw. Die Begriffsfelder, auf die
einige lexikalische Bestandteile dieser Phrasen doch
zurückgeführt werden können, treten jetzt in den Hintergrund.
Damit würde nicht nur plausibel herauslesbar, dass es eine Welt
ausserhalb des lesenden Erlebens des Gedichts gibt (indem die
Erinnerung an solchen Sprachgebrauch evoziert würde), sondern es
würden auch, spezieller, Situationen evoziert, in denen das
Bezeichnen von Dingen oder Vorgängen so selbstverständlich, so
sehr dem Common sense gemäss, funktioniert, dass über die
tatsächlich evozierte Bildhaftigkeit der Phrase hinweggesehen
werden kann. Damit würde aber auch der Grund für dieses
selbstverständliche Bezeichnen und das ständige Hinwegsehen über
das Sprachliche wirksam: also die Vorstellung einer von dem
jeweiligen lesenden Begreifen unabhängigen Wirklichkeit.
*
Für die Lesart, die sich somit aufdrängt, gilt wieder das, was
auch für die Prosa Musils, sofern sie als realistische Prosa
aufgefasst wird, gilt: Die Sprache ist ein Mittel, auf etwas zu
deuten, was jenseits ihrer selbst liegt und nicht erst mit oder
durch ihren Gebrauch hergestellt wird. Der Text als Summe seiner
auf mich wirksamen Elemente weist auf etwas hin, das entweder
als eine Wirklichkeit oder als eine Möglichkeit jenseits des
Gedichts beziehungsweise seines Verstehens angenommen wird.
Dementsprechend begreife ich dieses Modell einer Lesart, wenn
auch nicht als Prosaisches, so doch als Realistisches.
Ich habe behauptet: Der Begriff der Literatur enthält, dass ein
literarischer Text auch Erfindung, Ergebnis der Tätigkeit des
Möglichkeitssinns ist; dass ihm, eben im Vergleich zu einer
angenommenen Wirklichkeit jenseits der Sprache, etwas Fiktives,
Erfundenes eignet.
Anders aber als in einem Roman wie Der Mann ohne Eigenschaften
sind es in diesem zweiten Modell einer Interpretation eines
Gedichts wie von jenem, von dem ich träume, nicht Figuren oder
Ereignisse, welche als erfundene angesehen werden müssen,
sondern es sind ganz andere Züge des Umgangs mit dem Text
selbst, die darauf verweisen, dass Wirklichkeit oder
Möglichkeiten nicht einfach so wiedergegeben werden, wie sie
ausserhalb des gegebenen Texts an und für sich sein mögen.
Denn selbst wenn man daran festhält, dass etwas wiedergegeben
wird, das nicht durch das Verstehen des Texts selbst erzeugt
wird: die Interpretation liegt nahe, dass dieses Wiedergeben
oder Darstellen von etwas anderem Entwurf oder Erfindung
enthält. Sowohl die Wiedergabe der Wirklichkeit als auch
diejenige von Möglichkeiten wird selbst als eine mögliche
Wiedergabe unter anderen möglichen hingestellt. Alle jene
Eigenschaften, die kennzeichnend für Gedichte sind (wie Reim,
Rhythmus oder Zeilenanordnung), können dafür namhaft gemacht
werden, insofern sie betonen, dass jene Wiedergabe oder
Darstellung sich von den üblichen sprachlichen Berichten über
Wirklichkeit und ihrer angeblichen Sachlichkeit unterscheidet.
Man kann allerdings innerhalb dieses
Modells auch so deuten, als ob die sonst jenseits des Gedichts
angenommene Wirklichkeit oder Möglichkeit selbst in dem Gedicht
wiedergegeben würde. Dann beruft man sich auf Verkörperung,
eigentlich auf sprachliche Inkarnation eines Gegenstandes. Und
man behält dabei die Voraussetzung, dass dieser Gegenstand auch
jenseits des Gedichts existiert und auf verschiedene Weise
verkörpert werden könnte. Der Gegenstand erscheint dann im
Gedicht in bestimmter Gestalt. Allerdings bekommen dann alle
jene für Gedichte kennzeichnende Eigenschaften eine anderen
Akzent: sie betonen jetzt, dass diese Verkörperung eine sinnlich
wahrnehmbare Tatsache ist, dass sie sich zeigt.
Wenn der Unterschied zwischen der Wiedergabe oder Verkörperung
von Wirklichkeit und von Möglichkeiten in Gedichten wie dem, das
ich mir vorstelle, auch gemacht werden kann, so spielt er
doch in ihnen eine viel geringere Rolle als in einem Roman wie
Der Mann ohne Eigenschaften. Und das liegt daran, dass in
solchen Texten auch der Unterschied zwischen der Wiedergabe von
wirklichen Dingen und der Wiedergabe von möglichen Dingen der
beiden gemeinsamen Eigenschaft untergeordnet wird, dass - kraft
der so betonten sinnlich wahrnehmbaren Präsenz des Texts -
beide, die wirklichen wie auch die möglichen Dinge, in ihrer
Wiedergabe erlebt werden. Mit anderen Worten: Die erlebte
Wirklichkeit wie die erlebte Möglichkeit haben die Tendenz als
Wirklichkeit des Erlebens ineinander überzugehen. (Darin besteht
die vielzitierte "Subjektivität" lyrischer Dichtung).
Anders als in dem ersten skizzierten Modell wird aber auch
diese Wirklichkeit des Erlebens nicht in notwendiger Verbindung
mit dem Gedicht - dem Akt seines Schreibens oder Lesens -
gesehen, sondern nur in kontingenter.
*
In einem literarischen Text kann, wie auch sonst, wenn Sprache
gebraucht wird - und unabhängig davon, ob das Ereignis, auf
welches das Gedicht deutet, nun als Wirklichkeit oder
Möglichkeit aufgefasst wird - etwas im wörtlichen oder im
übertragenen Sinn verstanden werden. In dem ersten Modell, das
ich skizziert habe, ergibt sich der Unterschied zwischen
wörtlicher und übertragener Bedeutung entweder aus den
Eigenschaften, die dem erlesenen Gegenstand zu- und jenen, die
ihm abgesprochen werden, oder aus unterstellten Ordnungen
innerhalb des Begrifflichen.
Für dieses zweite Modell gilt aber, dass der Unterschied
zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung davon abhängt,
dass zwischen Sprache und ihrem Gegenstand auch unabhängig von
dem jeweiligen Text unterschieden werden kann, und dass diesem
Gegenstand auch unabhängig von dem jeweiligen Text gewisse
Eigenschaften zugesprochen, andere abgesprochen werden können.
Diejenigen, die ihm, wörtlich genommen, abgesprochen werden,
können ihm aber im übertragenen Sinn zugesprochen werden. Das
gilt nicht nur selbstverständlich für Gegenstände, die als
wirkliche, sondern auch für solche, die als mögliche gedacht
werden.
Man kann etwa die Möglichkeit wiedergeben oder verkörpern, dass
ein Mensch fliegt. Drückt man diesen Flug in einem Text durch
den Satz Meine Flügel schlugen die Luft aus, dann wird
diese Möglichkeit mit Hilfe einer Metapher deutlicher
gemacht, wenn nicht schon die mögliche Wirklichkeit selbst so
gedacht wird, dass das fliegende Lebewesen, obwohl es ein Mensch
ist, Flügel hat und nicht Arme.
*
Für dieses zweite Lesart bezieht sich das Gedicht also
auf ein Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen, die sowohl
unabhängig von ihrem Status als Wirklichkeit oder Möglichkeit
wie auch unabhängig von ihrer sprachlichen Wiedergabe oder
Verkörperung eintreten können.
Die Arbeit des Lesens besteht jetzt vor allem darin,
herauszufinden, was für ein Ereignis oder welche Reihe von
Ereignissen eigentlich in dem Text wiedergegeben wird, oder
darin, welches Ereignis eigentlich in dem Gedicht verkörpert
wird.
Das Gedicht wäre also in Hinblick auf etwas zu entschlüsseln,
das nicht in dem sprachlichen Sinn des Gedichts selbst besteht,
sondern in etwas anderem, ob man es nun selbst als sprachlich
oder als nicht-sprachliches Erleben denkt, etwa als inneren
Zustand, oder als Vorstellung, als sinnliche Wahrnehmung oder
als etwas, das alle diese Eigenschaften oder einige davon
besitzt. Das Gedicht ist jetzt eine verschlüsselte Botschaft.
Unser Vieldeutigkeitssinn würde sich hier insofern betätigen,
als es verschiedene Möglichkeiten der Entschlüsselung gibt. Was
für ein Vorgang könnte etwa in dem Gedicht beschrieben werden,
das ich mir vorstelle? Fällt da jemand mit seinem Gewand ins
Wasser? Schält sich etwas oder jemand aus seiner Haut wie aus
einem Gewand? Wird hier wiedergegeben oder verkörpert wie ein
Körper wie ein Gewand abgelegt wird oder ein Gewand wie ein
Körper? Wird hier die Alchimie verschiedener stofflicher
Bereiche wiedergegeben oder verkörpert? Oder geht es, da so
viele Wörter vorzukommen scheinen, die sich auf Textilien
beziehen, um den Text selbst, vielleicht um seine Herstellung?
Oder soll hier ein besonderer, vielleicht ein anderer Zustand
erfahren werden? Oder sogar auf verschlüsselte Weise ein
gesellschaftlicher Zustand dargestellt und kritisiert?
Die jeweils behauptete Entschlüsselung wäre aber ihrerseits
nicht notwendig durch eine sprachliche Paraphrase des Gedichts
wiederzugeben, obwohl solche sprachlichen Paraphrasen bei der
Entschlüsselung eine wichtige Rolle spielen können, zum Beispiel
(wie schon angedeutet worden ist) jene Paraphrasen, die den Text
in eine Sprache zu übersetzen versuchen, die der allgemein
üblichen ähnlicher ist als die des Gedichts.
Diese Entschlüsselung wäre eher gleich dem Entdecken von
Aspekten oder Teilen der Wirklichkeit oder von Möglichkeiten,
die als dem Gedicht entsprechend angesehen werden; dem Entdecken
von Aspekten oder Teilen der Wirklichkeit oder von
Möglichkeiten, an die man sich vielleicht erinnert, von denen
man jedenfalls annimmt, dass es sie auch jenseits des Gedichts
gibt.
Wenn es hier auch verschiedene Möglichkeiten der Entschlüsselung
gibt: Ist nicht dennoch ein wirksamer Antrieb, das Gedicht
richtig zu entschlüsseln; - nämlich das zu erfassen, wovon das
Gedicht spricht, seine Wahrheit, vielleicht sogar sein
Geheimnis? Mehrere Möglichkeiten könnten hier also auch ein
Anzeichen dafür sein, dass noch nicht gut genug verstanden wird.
Die wahre, die wirkliche Bedeutung des Texts hätte sich noch
nicht geoffenbart. Mehrere Möglichkeiten könnten auch ein
Anzeichen dafür sein, dass der Wirklichkeitssinn mit Hilfe des
Vieldeutigkeitssinns noch die Wirklichkeit oder die Möglichkeit
sucht, die zu entdecken das Gedicht verhelfen soll.
Dass es mehrere gleichwertige Möglichkeiten gibt, das Gedicht zu
entschlüsseln, könnte also auf uns zurückzuführen sein. Es
könnte ja der Augenblick kommen, da wir richtig verstehen, eine
Art jüngster Tag des Verstehens. Dann würde uns klar, worum es
in dem Gedicht wirklich geht.
Wenn sich die wahre, wirkliche Bedeutung des Texts nicht
offenbart, dann könnte das aber auch auf das Gedicht
zurückgeführt werden. Das Gedicht würde dann eben nicht
hinreichend wiedergeben oder auch verkörpern.
4
Man kann die beiden skizzierten Lesarten genauso gut als
einander ausschliessend ansehen wie als einander ergänzend. Man
kann auch jede der beiden Lesarten in die andere integrieren,
indem man die eine als besonderen Fall der anderen ansieht.
Für die erste Lesart wäre dann die zweite eine Möglichkeit: die
mit dem Text, durch den Text entstehende Wirklichkeit wäre dann
eben eine, die zwischen der Wirklichkeit, die mit dem Text
entsteht, und einer, die als jenseits und unabhängig von dem
Text angenommen wird, unterscheidet. Man käme so, um ein Wort
Heimito von Doderers zu variieren, aus Ärmeln, die den
Unterschied zwischen Wirklichkeit und dem Text nicht kennen, mit
dem Unterschied zwischen wirklichen und erdichteten Armen
heraus.
Für die zweite Lesart, die eine Wirklichkeit jenseits des
Gedichts annimmt, wäre die erste, welche das nicht tut, nur
einer ihrer möglichen Fälle: Dass erst mit dem Lesen des
Gedichts, durch das Lesen des Gedichts Wirklichkeit entsteht,
entspricht eben nur einer Möglichkeit, mit Sprache umzugehen,
die selbst nicht notwendig gerade mit dem jeweiligen Gedicht
verbunden ist, sondern etwas ist, das auch jenseits des Lesens
des jeweiligen Gedichts entstehen können muss, etwas, das durch
das spezielle Konstruieren der Wirklichkeit des jeweiligen
Gedichts nur wiedergegeben wird, ohne dass der Lesende davon
weiss. (Man käme so aus Ärmeln, die den Unterschied zwischen
Wirklichkeit und dem Gedicht kennen, mit der Leugnung des
Unterschieds zwischen wirklichen und erdichteten Armen heraus.)
*
Im Licht dieser Darstellung, die skizzieren soll, wie
jeder Text (wenn auch nicht in gleichem Ausmass) sowohl
realistisch als auch, und im Widerspruch dazu, so interpretiert
werden kann, dass alles, was es gibt und geben könnte, als
durch ihn selbst hervorgerufen aufgefasst werden kann, kann man
Reich-Ranickis Eintreten für einen Realismus und seine Polemik
gegen Texte, die er nicht realistisch interpretieren will oder
kann, auch als Kritik an einer bestimmten Form von Mangel an
Möglichkeitssinn verstehen. Bestimmte Texte bieten ihm nichts
mehr oder zu wenig von der Möglichkeit, sie realistisch zu
interpretieren, das heisst der so tiefsitzenden realistischen
Intuition nachzugeben. Sein Zorn gegen bestimmte Schreibweisen
bzw. Schriftsteller könnte vielleicht bedeuten, dass er ihnen
vorwirft, sie sähen das Problem nicht deutlich genug, sie
verarbeiteten nicht hinreichend, dass jeglicher Umgang mit
Texten, jegliche Interpretation mit der realistischen Reaktion
zu rechnen hat; und so könnte seine Kritik auch als Hinweis
darauf verstanden werden, welcher Möglichkeiten sich Literatur
begibt, wenn sie diese realistische Reaktion nicht stark und
überzeugend provoziert, wenn sie nicht zu einer plausiblen
Möglichkeit wird, den Text zu lesen. Es mag Reich-Ranickis
kritisches Taktgefühl verletzen, dass gerade so manche
modernistische oder avantgardistische Schrift, sich von jener
realistischen Reaktion nur negativ und polemisch absetzt, diese
Reaktion zu einer Art Idiotie herunterzumachen scheint. (Aber
schon bei Friedrich Schlegel findet man diese Tendenz, wenn er
über einen Roman Fieldings spottet: "Wir lernen [...]
wenigstens, wie man zu der Zeit, da das eben Mode war, sich in
London ennuyierte, auch wie eine britische Dame vor Delikatesse
endlich zu Boden stürzt und sich blutrünstig fällt; das Fluchen,
die Squires und dergleichen sind im Fielding wie aus dem Leben
gestohlen..." Und nicht viel anders Carl Einstein im Jahr 1912
in über den Roman: "Der deskriptiv schildernde Roman setzt
vollständige Unkenntnis des Lesers von Tischen, Nachttöpfen,
jungen Mädchen, Treppenstiegen, Schlafröcken, Busen,
Hausklingeln usw. voraus.")
Man könnte also Reich-Ranickis Reaktion als eine Polemik gegen
eine Polemik verstehen, so sehr sie über einzelne Texte
hinweggeht, an denen solche Polemik zuschanden würde oder sich
als solche herausstellte.
Bemüht man sich, Reich-Ranickis Zorn so zu verstehen, ja ihn
brüderlich zu teilen, dann könnte man beinahe vergessen, dass
die entgegengesetzte Position viel mehr der Verteidigung
bedürfte, einfach weil sie (wenigstens in der Kritik von
Literatur) viel seltener eingenommen und auch reflektiert wird;
man könnte dann beinahe vergessen, wie einseitig Reich-Ranickis
Kritiken sind, wie einseitig und unreflektiert er mit dem
Begriff des Realismus bzw. dem entsprechenden
Interpretationsrahmen umgeht; wie wenig er sich die jenem Rahmen
entgegengesetzte Vision zu eigen gemacht hat.
*
Es ist diese Einseitigkeit, diese interpretatorische
Aspektblindheit, die ihn in Schwierigkeiten bringt, wenn er sich
zum Thema Realismus äussert.
Da Reich-Ranicki einerseits glaubt, Literatur und Wirklichkeit
voneinander trennen zu können, und deshalb der Schrifsteller für
ihn eine Art Jäger ist, der hinter dieser Wirklichkeit her ist,
ihr auf der Spur, er andererseits aber nicht Dogmen folgen will,
die festlegen, mit Hilfe welcher literarischer Mittel die
Wirklichkeit dargestellt werden kann und mit Hilfe welcher
Mittel nicht - er ist heute beileibe kein Anhänger des
sozialistischen Realismus - behauptet er, dass man der Realität
"glücklicherweise mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen
Mitteln und Stilen beikommen" kann.
Aber gerade diese programmatische und heute so wohlfeile
Offenheit hat zwei Konsequenzen, die beide im Widerspruch zu
Reich-Ranickis Anschaungen stehen. Entweder wird mit ihr der
Begriff der Realität wieder hinterrücks entleert und die
Realität degeneriert zu einem reinen Ding-An-Sich. - Denn welche
Eigenschaften soll eine Wirklichkeit (und gar eine politisch,
moralisch und soziologisch begreifbare Gegenwart!) nicht haben,
wenn sie mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Mitteln
dargestellt werden kann? Wenn ihr aber jegliche Eigenschaft
durch Literatur zu Recht zugesprochen werden kann, wenn sich
also die Literatur jegliches Bild von der Welt zu Recht macht,
welche Erkenntnis von der Welt kann dann das jeweilige Bild
herstellen? (Und Reich-Ranicki besteht ja darauf, dass Literatur
Erkenntnis der Wirklichkeit bedeutet oder bedeuten soll.)
Oder aber die Literatur wird zu dem, was aus jenem
eigenschaftslosen, amorphen Ding-An-Sich verschiedene, ja
gegensätzliche Wirklichkeiten, Realitäten schafft. Was aber im
Gegensatz zu Reich-Ranickis Anschauung wiederum dazu führt,
dass auf jene Realität, die man von ihrer Darstellung in der
Literatur trennen kann, die man mit ihrer Darstellung in der
Literatur vergleichen kann, verzichtet werden muss.
So wie sich die Literatur auf etwas beziehen soll, das als
ausserhalb ihrer selbst existierend vorgestellt wird (sei es als
Wirklichkeit oder als Möglichkeit), soll das Mittel, diesen
Bezug herzustellen, die Sprache sein. Gemäss seinen
realistischen Prämissen ist die Sprache für Reich-Ranicki ein
Werkzeug oder ein Vehikel, also etwas, das bestimmte Zwecke hat,
im Fall der Literatur, eben die Zwecke, die Wirklichkeit oder
die Möglichkeiten darzustellen oder wiederzugeben. Diese
einseitige Betonung des Werkzeugcharakters der Sprache ist auch
als Aspekt seiner Polemik gegen das zu verstehen, was er als
Antithese dazu vereinfacht. Heftig widerspricht er der
Behauptung, die wohl nie jemand ausserhalb von Polemiken so
simpel vertreten hat, dass Literatur nichts als Sprache sei. Und
er antwortet (in einem Aufsatz über Herbert Eisenreich): "Aber
diese These hat nie gestimmt und stimmt auch jetzt nicht. Die
Sprache ist ein Werkzeug, ein Instrument, ein Vehikel. Freilich
ein Instrument dessen Anwendungsmöglichkeiten unbegrenzt sind;
ein Instrument, dem der Meister Töne zu entlocken vermag, deren
Existenz ihm überhaupt nicht bekannt war; ein Vehikel, das sich
selbstständig machen und demjenigen, der sich ihm anvertraut, in
Bereiche bringen kann, von denen er bisher nichts gewusst hat."
Es ist ganz bezeichnend, dass die Art und Weise, wie er seine
These zum Werkzeugcharakter der Sprache zu umschreiben versucht,
ihn zu den gleichen Inkonsequenzen verführt, wie die, in der er
den Bezug von Literatur auf gegebene Wirklichkeiten zu
beschreiben versucht. Da will er die Wirklichkeit
schon strukturiert und vorgegeben haben und zugleich eine
Literatur, die sie auf unbegrenzt viele verschiedene und
widersprüchliche Weisen darstellen können soll. Jetzt will er
die Sprache als Werkzeug, aber als ein Werkzeug mit unbegrenzten
Anwendungsmöglichkeiten. Das Bild ist, wenn nicht schief, so
doch irritierend inkonsequent. Denn ein Werkzeug ist eben etwas,
das man zu einem bestimmten Zweck gebraucht, vielleicht noch zu
mehreren bestimmten Zwecken, aber jedenfalls hat es nicht
unbegrenzt viele Anwendungsmöglichkeiten. Um die Sprache als
Werkzeug zu verstehen, in wie weitem Sinn auch immer, muss man
immer schon ein Bild davon haben, worauf sie anwendbar ist und
worauf nicht. Man muss schon wissen, wo man die Sprache von der
Wirklichkeit trennt, wo das Bearbeiten der Wirklichkeit beginnt
und das Werkzeug dazu selbst endet. Man muss also wenigstens
einige Eigenschaften voraussetzen, die das Werkzeug und das, was
es bearbeiten soll, nicht gemeinsam haben, und damit auch einige
Eigenschaften, die das Werkzeug nicht hat.
Dieses Werkzeug für alles wäre keines mehr, denn es müsste dann
auch zu Zwecken gebraucht werden, die einander ausschliessen,
und es müsste dementsprechend auch Eigenschaften haben, die
einander ausschliessen. Dieses Werkzeug Reich-Ranickis ist ein
Hammer, der zugleich ein Nagel ist. Doch selbst wenn die Sprache
ein Werkzeug mit unbegrenzt vielen Anwendungsmöglichkeiten wäre:
auf eine Wirklichkeit, die schon struktiert vorgegeben ist, die
also bestimmte Eigenschaften hat und andere nicht, könnte nur
ein begrenzter Teil dieser Anwendungsmöglichkeiten tatsächlich
angewendet werden. Und wenn dieses Werkzeug in Reich-Ranickis
einigermassen diffus-rhetorischer Aufzählung unversehens zum
(Musik)Instrument wird, dem "der Meister Töne zu entlocken
vermag, deren Existenz ihm überhaupt nicht bekannt war", oder
"zum Vehikel, das sich selbständig machen und demjenigen, der
sich ihm anvertraut, in Bereiche bringen kann, von denen er
bisher nichts gewusst hat", dann werden jene entlockten Töne
aber doch eine Art Programmusik sein müssen (denn sie sollen ja
die Realität wiedergeben) und die Selbständigkeit jenes Vehikels
wird, so sehr man sich ihm anvertrauen mag, durch jene dennoch
wiederzugebende Realität sehr eingeschränkt sein müssen.
Dass Reich-Ranicki die Wirklichkeit sieht, durch alle Literatur,
durch alle Schreibweisen hindurch, dass diese Wirklichkeit, die
er, zu einem wie geringem Ausmass auch immer, schon zu kennen
beansprucht, sein kritischer Masstab ist, und die angesichts der
Vielfalt von Texten und der Vielfalt der Reaktionen auf sie
damit notwendig verbundene Inkonsequenz, setzen sich bis in die
kleinsten Bausteine seiner Kritiken fort. - Reich-Ranicki
schreibt: "Wer was erzählen will, spielt nicht mit Klängen und
jongliert nicht mit Worten. Erzählen ist vor allem: sehen und
sichtbar machen, schauen und veranschaulichen, wahrnehmen und
wahr machen, glauben und beglaubigen. Erzählen heisst: der
Wirklichkeit zur Wirksamkeit verhelfen." Wie seltsam, dass
gerade diese Passage auf dem durchaus geschickten Spiel mit
Klängen, auf dem Jonglieren mit Worten beruht. Spielt also der
mit Recht mit Worten, der eine Kritik schreibt, obwohl deren
immanenter Realismus auch für Reich-Ranicki schon darin bestehen
muss, dass sie voraussetzt, einen Gegenstand zu haben, dem sie
mehr oder weniger gerecht werden kann?
So wie sich unreflektierte Negation einer Position häufig in
oberflächlicher Polemik zeigt, zeigt sich unreflektierte
Affirmation, also unanalysierte positive Emotion, häufig in
klischierter Sprache, in einer Art Kitsch: In einem Vorspruch zu
dem Band Literatur der kleinen Schritte, der aus dem Jahr 1965
stammt, unternimmt es Reich-Ranicki, etwas allgemein
Verbindliches über die deutsche Literatur im Jahr 1965 zu sagen.
Er wittert Morgenröte für einen neuen Realismus und drückt das
so aus: "Denn das Leben fordert wieder sein Recht. Die
nachprüfbare Wirklichkeit, deren Existenz unentwegt bestritten
wurde, lässt sich auf die Dauer nicht ignorieren. Sinn, Inhalt
und Stoff gewinnen erneut Bedeutung. Eindeutig wendet man sich
dem Konkreten zu. Die Geringschätzung der Psychologie gehört der
Vergangenheit an. Der Begriff "Realismus", eben noch
Schimpfwort, ist nicht mehr verpönt und erweist sich letztens
sogar als unentbehrlich."
Leben wird hier offenbar mit Wirklichkeit identifiziert,
Wirklichkeit wird aber nachprüfbare Wirklichkeit, also
verbindlich beschreibbare Wirklichkeit.
Anders gesagt: Reich-Ranicki bemerkt nicht, oder er nimmt es
nicht ernst genug, dass er eigentlich nicht Literatur an
Wirklichkeit misst, sondern intendierte Literatur an nicht-
intendierter Literatur, am üblichen Sprachgebrauch; Reich-
Ranicki übersieht, dass es, wenn überhaupt einen, nur einen
ernsthaften Versuch gibt, Geschichten und Erzählungen auf eine
vorausgesetzte und von der jeweiligen Erzählung über sie
möglichst unabhängige Wirklichkeit zu beziehen: den Versuch
empirische, das heisst: falsifizierbare Theorien zu entwickeln.
Und wenn auch die Geschichte der Naturwissenschaft und ihrer
Philosphie, des Empirismus, zeigt, dass es zweifelhaft bleiben
muss, ob und wenn ja, in welchem Ausmass oder Sinn, dieser
Versuch erfolgreich ist, so zeigt diese Geschichte doch auch,
wie weit von der Literatur sich Verfahren entfernen, welche die
Forderung, ihre Texte an einer unabhängigen und überprüfbaren
Wirklichkeit zu messen, ernstnehmen.
Wäre Reich-Ranicki sich dessen hinreichend bewusst, dann würde
er besser begreifen, dass diese angeblich wiederzugebende
Wirklichkeit sehr plausibel selbst schon als sprachlich oder
wenigstens zeichenhaft begriffen werden kann, dass es sich bei
ihr womöglich um ein geläufiges Bild handelt, um eine Reihe
geläufiger Zeichen.
Das Erkennen und Bedenken dieser Möglichkeit würde es leichter
machen, die Vorstellung von der Wiedergabe oder Darstellung von
etwas Zeichenlosem zu verlassen, und stattdessen von einer Art
Übersetzung zu sprechen, und gerade bei der Literatur, die
Reich-Ranicki fordert, von einem Weiterverarbeiten von
vorgegebenen Zeichen durch weitere Zeichen. Selbst wenn jenes
geläufige Bild also tatsächlich etwas abbilden würde, das selbst
kein Bild von etwas ist, also die unmittelbare Wirklichkeit
selbst wäre, man müsste sich doch, gerade wenn man von der
Literatur fordert, sie habe aktuelle gesellschaftliche oder
politische Ereignisse zu verarbeiten, klarmachen, dass man von
einem geläufigen Bild ausgeht und nicht von Unmittelbarem.
Gerade dieser Gedanke wird aber von Reich-Ranicki kaum ernstlich
in Betracht gezogen, als Kritiker jedenfalls handelt er zumeist
so, als gäbe es den unmittelbaren Bezug auf eine Wirklichkeit
jenseits der Zeichen. Er setzt diese Vorstellung niemals der
Kritik aus, sieht sie nicht als eine mögliche künstlerische
Arbeitshypothese oder als ein Moment einer Dialektik.
Dass unsere sogenannte Wirklichkeit begrifflich und nicht
unmittelbar ist, dass wir vorzufinden, zu beobachten meinen, wo
wir eigentlich mindestens so sehr erfinden, dass wir vielleicht
einen Wald von Symbolen nur fälschlich als Hinweis auf einen
Baum begreifen, der in dem Sinn wirklich ist, dass er kein
Symbol ist, daraus besteht natürlich nur unsere übliche Weise
miteinander umzugehen. Geht man aber auch in der Literatur
ausschliesslich oder auch vor allem auf diese übliche Weise,
miteinander um, so lässt man die Möglichkeit ausser acht, die
literarischen Strategien auch so verstehen zu können, dass sie
sich nicht von vornherein auf eine schon so und so existierende
Wirklichkeit beziehen, sondern aufeinander, nämlich als die
Entfaltung eines Spiels von Wirkungen oder Kräften begriffen
werden können, deren ontologischer Status selbst auf diesem
Spiel steht, das Ergebnis bestimmter Züge innerhalb dieses
Spiels ist.
Nicht, dass Reich-Ranicki nicht zugeben würde, dass Literatur
nicht ausschliesslich als Wiedergabe einer von ihr unabhängigen
Wirklichkeit zu lesen ist. Natürlich weiss er, dass man
Literatur auch so betrachten kann, als erfände sie eine Welt und
ihre Abbildbarkeit ausserhalb ihrer Sprache. Nur ist er in
diese, seine Intuition, dass die Wirklichkeit auch ausserhalb
ihrer jeweiligen Darstellung so und so existiert, so verliebt,
dass er die ihr entsprechende Lesart, und eben in
Übereinstimmung mit dem Common sense des Publikums, zum
Fundament seines Begriffs von Literatur macht, von dem aus alles
andere als abgeleitet oder sekundär erscheint. Er verdinglicht
diese Lesart zur zweiten Natur, macht sie zu etwas, das die
Natur der Kunst bestätigen soll und einer künstlichen Kunst
polemisch entgegengesetzt wird.
Der Realismus, den er in seinem Vorspruch zu dem Band Literatur
der kleinen Schritte dementsprechend propagiert, wird als einer
charakterisiert, der seine Grenzen kennt, der von vernünftiger
Sachlichkeit ist, die aber nicht unpoetisch sein soll.
Einer der rhetorischen Gesten, die zur Polemik passen, ist die
der Warnung: Und manchmal wirft sich Reich-Ranicki in Namen
seines Realismus tatsächlich zu einer Art Cassandra auf und
prophezeit den Schriftstellern, die sich der Wirklichkeit
widersetzen: "Wer die Realität von sich stösst, um eine neue zu
konstruieren, schafft vielleicht eine Konstruktion, doch keine
Realität." - Der selbstherrliche Autor, der die Realität von
sich stösst, als Lucifer, der aus dem Himmel der Literatur
stürzen wird.
Gerade heraus gesagt: dieser Text Reich-Ranickis entpuppt sich
bei genauerem Hinsehen als nichts als eine Ansammlung
von Reizworten, halben Synonymen, unfreiwilligen und banalen
Lyrismen, produziert von jemandem, der bestimmten Konnotationen
zum Opfer fällt, wohl um einer für ihn nicht explizit
austragbaren Dialektik willen, des zur Polemik
heruntergekommenen Widerspruchs gegen eine ganz andere
Literatur, die denn auch als die "Bemühung der ewigen Bastler
und Jongleure des Abstrakten, als das geheimnisvolle Spiel mit
Chiffren und ausgeklügelten Symbolen, das oft nur ein Spiel mit
gezinkten Karten war", wie bei Reich-Ranicki üblich, summarisch
denunziert wird.
Ähnlich und wohl nur scheinbar etwas differenzierter
argumentiert Reich-Ranicki in der Rede die deutschen
Schriftsteller und die Wirklichkeit, die statt eines Nachworts
am Ende des Bands Literatur der kleinen Schritte steht. Reich-
Ranicki beginnt hier so: "Nun sag, wie hast du's mit der
Wirklichkeit? Mit dieser Frage werden deutsche Schriftsteller
seit Jahrhunderten bedrängt."
- Nein, niemand wird an der Wichtigkeit dieser Frage zweifeln,
ja diese Frage nach der Wirklichkeit ist so wichtig, dass sich
die deutschen Schriftsteller, wollen sie im emphatischen Sinn
dieses Wortes welche sein, sich besser selbst und anhaltend mit
dieser Frage bedrängen sollten. Selbstverständlich ist das Thema
Literatur und Wirklichkeit für alle ästhetischen und
literaturkritischen Äusserungen zentral. Aber auch in dieser
Rede versucht Reich-Ranicki gar nicht, das Verhältnis zwischen
diesen Begriffen näher zu bestimmten, präziser zu fassen.
Unversehens wird dafür plötzlich aus Wirklichkeit die umgebende
Wirklichkeit oder das Verhältnis eines Autors zu seiner Umwelt.
Und also werden in diesem Nachwort dutzende Schriftsteller
aufgezählt, aber kaum einer, dem man nachsagen kann, dass jenes
Verhältnis zwischen Literatur und Wirklichkeit eine ihn
tatsächlich bedrängende Frage wird, sich also als
ästhetisches Problem zeigt, als etwas, das bestimmte ästhetische
Konsequenzen erfordert.
Zu dem Nicht-Austragen von Widersprüchen, gehört auch der
oberflächliche Gebrauch von polaren oder antonymen Begriffen.
In seinem Nachwort zu Erfundene Wahrheit, deutsche Geschichten
wird das Problem des Realismus nicht nur im Titel durch Paradoxa
unter den Tisch gekehrt. So schreibt Reich-Ranicki über den
Erzähler: "Somit ist es seine Phantasie, die die Realität
nötigt, Farbe zu bekennen: Nicht mit Ausgedachtem begegnet der
Erzähler dem Leben, sondern mit Erfindungen, die er der
Wirklichkeit abgetrotzt hat und die geeignet sind, die Wahrheit
ahnen zu lassen. Kurzum mit erfundener Wahrheit."
Nicht zufällig sind es häufig die Reflexionen zu dem Thema
Realismus und die Polemiken gegen das, was er als nicht-
realistisch empfindet, in denen Reich-Ranickis Prosa
einigermassen haltlos wird; nicht zufällig begibt er sich in
solchen Momenten unter sein eigenes Niveau, erlaubt sich
Klischees, falsches Pathos und unangebrachte Verbosität. So
verrät sich die Prädeterminierung seiner ihm selbst nicht
hinreichend deutlichen Ansichten. Deutlich wird das Gespinst von
voneinander abhängigen Vorurteilen. Gerade hier zeigt sich nicht
nur, dass Reich-Ranicki viel systematischer ist, als er ahnt,
sondern auch, dass seine Kritiken manchmal deshalb inkonsequent
und unklar sind, weil er davon nichts ahnt.