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MARCEL REICH-RANICKI
ODER DIE KRITIK EINER LITERATURKRITIK


© by Franz Josef Czernin


5. KAPITEL
DIE WELT, DER TEXT A JOUR
(LITERATURKRITIK UND JOURNALISMUS)


Vielleicht ist die Lesart Realismus, eben wegen ihres scheinbar selbstverständlichen Zusammenhangs mit der alltäglichen Weise, wie wir mit uns selbst, unserem Sprechen und unserer Welt umgehen, die stärkste Verführung, die in der Literatur denkbar ist. Kaum jemand wird bestreiten, dass diese Lesart starke Wirkungen hervorrufen kann, und nur ein verbohrter Ideologe einer anti-realistischen Ästhetik wird leugnen, dass diese Wirkungen auch den höchsten Ansprüchen genügen können, die man an Literatur stellen kann.
Und dieser Lesart entsprechend ist die Redeweise, dass jemand einen Roman, eine Erzählung über etwas schreibt, das ausserhalb und unabhängig von ihm oder wenigstens seinem Sprechen existiert, nicht von vornherein völlig sinn- oder wertlos, genausowenig, wie davon zu reden, dass in einem literarischen Werk, dieses oder jenes Problem behandelt wird, dieser oder jener Stoff verarbeitet wird usw. Aber diese Redeweisen - und das wird zumeist und auch von Reich-Ranicki völlig ausser acht gelassen - gehören selbst zu dem Roman einer Interpretation, sind selbst nur eine Stimme oder ein Moment in einem Prozess einer interpretierenden Aneignung. Und die das ausser acht lassen, täuschen sich so ähnlich wie jene Deuter von Träumen, die nicht begreifen, dass ihre Deutung nicht einfach ein Spiegel für ein vorgegebenes Bild ist oder eine Lösung für ein vorgegebenes Rätsel, sondern gleichsam ein zweiter Traum, ein Deutungstraum, und damit im besten Fall ein Moment, das mit dem ersten, dem zu interpretierenden Traum so verbunden ist, dass Spiegel und Bild oder Rätsel und Lösung einander erst wechselseitig hervorbringen.

Eine der Schwierigkeiten, einer Redeweise gerecht zu werden, in der ein Text über etwas geschrieben wird, in der ein Text ein Problem behandelt, in der ein Stoff verarbeitet wird, liegt also auch darin, dass es Umstände oder Momente des Schreibens oder Lesens gibt, unter denen Kunstwerke so betrachtet werden können; sie so zu betrachten, kann auch fruchtbares Moment eines Prozesses ihrer Aneignung sein. Wer würde einfach verneinen, dass man zum Beispiel die Literatur Bertolt Brechts in vielerlei Hinsicht so lesen muss, als gäbe diese Literatur Dinge bzw. Zusammenhänge wieder, die unabhängig von ihr existieren, als würde sich diese Literatur bestimmter Probleme oder Stoffe annehmen? Wer würde aber andererseits leugnen, dass gerade der Zweifel an dieser Lesart manches Licht auf Brechts Literatur werfen könnte?

Der Glaube, man könne einfach über etwas Bestimmtes, das unabhängig von seiner sprachlichen Bestimmung existiert, reden oder schreiben, ist ein Teil des Romans, der Erzählung, die wir uns ununterbrochen vorerzählen, und in deren Zusammenhang wir dann unser Leben, unseren Alltag vorzufinden glauben: so fest gefügt wie einen Berg, den, wie wir glauben, kein Glaube versetzen kann. Aber selbst wenn es jene Wirklichkeit, jenen Berg unabhängig von dem Roman über sie geben sollte: hat der Glaube daran, dass man ihn in der Sprache wiedergeben kann, mit deren Hilfe man normalerweise miteinander zurechtzukommen scheint, nicht gerade die Wirkung, diesen Berg bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen? Vergisst man auf diese Möglichkeit (und es gehört zu jenem alltäglichen Roman, darauf zu vergessen), so ist man dazu verurteilt, das zu erleiden, was jedermann erleidet: unter der Wucht der alltäglichen Umstände spricht man (weil man, so könnte man meinen, sich in eine ganze Gesellschaft von Stimmen verwandelt) über alles mögliche andere, als man sich jeweils träumen oder wachen lässt. Man hat sich angepasst, aber nicht etwa bewusst und methodisch wie ein Wissenschaftler seine Theorie an ihren Gegenstandsbereich. Und so wird man eher von den verschwiegenen Voraussetzungen gesprochen, als dass man eigentlich selbst spricht. Man ist in diesem Roman vor allem die Figur eines für einen selbst unerforschlichen Autors oder Lesers.

Und gerade das geschieht einem zumeist auch, wenn man eilfertig dem äusseren oder inneren Rufen gehorcht, und ein gerade aktuelles gesellschaftliches, politisches oder auch seelisches Ereignis zu verarbeiten sucht, oder, wenn man, allgemeiner, versucht, eine bestimmte Absicht, eine These, eine Haltung, eine Idee, eine vorgefasste Wirklichkeit mit Hilfe der Literatur darzustellen, wiederzugeben oder aus ihr herauszulesen. Man versucht es, und schon fällt man einer unbarmherzigen inneren Arbeitsteilung zum Opfer, ganze Fabriken geistiger Kräfte werden ausgeschlossen, streiken, rebellieren, sabotieren usw.; statt einer möglichen polyphonen Ordnung, einer vielfältigen Pluralität von einander einleuchtenden Elementen, kommt es zu einem Kollidieren von unwillkürlich und konsequenzlos angezettelten Mächten, von Gewähltem mit Ausgeschlossenem zum Schaden von beidem. - Eine einzelne, unglückliche Figur beruft sich auf ihre Absichten oder auf ihre Leseeindrücke und hält sich fälschlich für einen Autor oder einen Leser, der sie verwirklicht.

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Ich habe es schon erwähnt: Die Folge oder aber vielleicht die Ursache von Reich-Ranickis so einseitiger Festlegung auf jene alltägliche Erzählung ist, dass er nicht nur dazu neigt, eine Wirklichkeit jenseits der Sprache einfach vorauszusetzen (was immerhin noch viele Möglichkeiten offen liesse und offenbar für viele Schriftsteller als Arbeitshypothese brauchbar ist), sondern ein bestimmtes Bild von Wirklichkeit, eine so und so strukturierte Wirklichkeit. Indem er häufig nicht nur von der Wirklichkeit, sondern auch von der Gegenwart, von unserer tatsächlichen Umwelt spricht, suggeriert er etwas Unumstössliches, Vorgegebenes als einen allen, vor allem allen Lesern von Literatur, gemeinsamen Bezugspunkt, den die Schriftsteller darzustellen hätten. Diese Wirklichkeit nennt er auch manchmal diejenige der Bundesrepublik Deutschland oder die eines bestimmten Dezenniums (der fünfziger, sechziger, siebziger Jahre usw.). Die Gegenwart oder die tatsächliche Umwelt werden dann häufig noch eingeengt zu dem Ergebnis bestimmer durch Zeitgeschichte beschriebener oder beschreibbarer Motive und Stoffe, also vor allem historisch, soziologisch oder politisch begriffen. Und so schreibt Reich-Ranicki: "Ob wir mitwirken oder nur zusehen oder wegsehen wollen, ob wir Rollen spielen, Statisten sind oder uns für Souffleure halten - die Politik ist unser Schicksal."
Warum nennt man das, was für jeden einzelnen jeweils Schicksal zu spielen scheint, ausgerechnet Politik? Warum verwendet man gerade diesen Begriff, der vielleicht im Rahmen einer historischen oder soziologischen Beschreibung brauchbar sein mag, nämlich dazu geeignet, bestimmte Organisationsformen des Zusammenlebens grösserer Gruppen von Menschen zu beschreiben? Warum macht man gerade diesen Begriff zum Generalbass auf Kosten anderer Begriffe, die diese Rolle genauso gut oder schlecht spielen könnten? Genauso gut oder schlecht könnte man doch auch behaupten: unser Schicksal ist das, was die Newtonsche Physik beschreibt oder die Wirklicheit, auf die sich die Relativitätstheorie bezieht, oder unser Schicksal ist die Sexualität, oder sogar: ist die Poesie! So wird für Reich-Ranicki diese unter bestimmten Vorzeichen verstandene Wirklichkeit, die im Zusammenhang von Literatur eben ein allzu selbstverständlich akzeptierter Begriff von Wirklichkeit ist, zu einer Art Urmeter, an dem er die Literatur zu messen versucht. Die Möglichkeit aber, dass umgekehrt jede bedeutende Literatur selbst eine Art Urmeter ist, und noch dazu eines, welches beides, den Masstab und das zu Messende darstellt, vernachlässigt er notorisch.

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Reich-Ranickis Tendenz, ein geläufiges Bild der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit selbst zu identifizieren, sein damit zusamenhängender Begriff von Sprache, wird dann besonders deutlich, wenn die Literatur die gesellschaftlichen Übereinkünfte darüber, was wirklich, was wichtig, was wirksam ist, fundamental in Frage zu stellen scheint. Und so liegt es nahe anzunehmen, dass diese Tendenz auch der Preis für seine allzu grosse Vertrautheit mit der Welt ist, insbesondere aber mit der Welt der Zeitung. Wirklichkeit ist da nicht nur etwas, das schon dort draussen oder da drinnen so und so existiert, sondern eben auch aktuelle Wirklichkeit, das aktuelle Wirkliche ist aber berichterstattetes oder berichterstattbares Aktuelles, die Gegenwart ist allzusehr das, was sie, durch die Zeitungen gesehen, zu sein scheint.
So sehr Reich-Ranicki von der Literatur etwa Aktualität fordert, so wenig konkret ist sein Gebrauch dieses Worts, meint er doch keineswegs in erster Linie die Wiedergabe oder Darstellung von tatsächlich sinnlich oder introspektiv Aktuellem, also das Erstellen von Bewusstseinsprotokollen oder Empfindungsstenographien (welche die Annahme eines unmittelbar Gegebenen immerhin plausibel machen könnten), sondern die Wiedergabe von durch bestimmte Formen von Kommunikation schon vermitteltem Aktuellem. Nicht so etwas wie eine Analyse oder Rekonstruktion von inneren oder äusseren Empfindungen meint Reich-Ranicki, nicht Versuche, deren Elemente ausfindig zu machen und wiederzugeben, sondern den angeblichen Bezug auf Empfindungen oder Erfahrungen, die auf die übliche Weise gegeben sind, in den schon abgekarteten Sprachspielen, die uns zur Verfügung stehen. Der zu Robert Musils Bemerkung, ein Glaube, der älter als eine Stunde ist, sei ein falscher Glaube, parallele Aphorismus, dass in der Literatur ein Bild, das schon geläufig ist, ein falsches Bild ist, liegt ihm allzu fern. In diesem Sinn spricht häufig der Journalist Reich-Ranicki, oder vermengt sich der Literaturkritiker und der Journalist zum Nachteil des Literaturkritikers und der Literatur. Der Journalist ist es, der die angebliche Prosa der Verhältnisse unmittelbar mit den Verhältnissen seiner Zeitungs-Prosa identifiziert. So kommt es dazu, dass Reich-Ranicki, sicher gegen seine besseren Absichten, einer ganzen Reihe journalistischer Sprechweisen das Bett für ihre Dummheiten bietet. Der Journalist Reich-Ranicki spricht davon, die Wirklichkeit in den Griff zu kriegen, spricht allzu selbstverständlich und unreflektiert von Inhalten, die vermittelt werden, vom Umsetzen von Stoffen, von Aktualisierung, Thematisierung, Aufbereitung oder gar Verpackung. Und so bewegt er sich häufig in der Nähe eines schlechten vokabulären Milieus, nimmt allzu sehr Teil an jenem Rotwelsch, das die Kunstberichterstattung in den Zeitungen, aber auch in den meisten anderen Medien regiert. Und wenn Reich-Ranicki von seiner Sache auch viel zu viel versteht, um häufig auf grobe Weise misszuverstehen, wenn er seine realistische Ästhetik dann, wenn die Texte es fruchtbar erlauben, durchaus differenziert anwendet, so fordert er doch, ohne es aber wahrzuhaben, dass alle Literatur Journalismus zu werden habe oder wenigstens journalisierbar zu sein. Er kommt dann nicht nur zu so unverbindlichen und geläufigen Klischeesätzen wie: "Was er erzählt, zielt natürlich auf unsere Zeit ab und ist, wie könnte es anders sein, kritisch gemeint", sondern auch dazu, einem (noch dazu sehr berühmten) Schriftsteller allen Ernstes gutzuschreiben, dass er beweist, einen untrüglichen Blick für aktuelle Themen und Motive zu haben.- Etwas, das man doch nur einem Autor von Trivialromanen oder vielleicht einem Journalisten ohne weiteres gutschreiben sollte.

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Da jenes berichterstattete Aktuelle, diese Welt aus Zeichen, vergleichsweise verfügbar zu sein scheint, scheint es auch das zu sein, womit es verwechselt wird: das, was man als jenseits der Welt aus Zeichen annimmt, das, wofür man die Welt aus Zeichen hält. Auch das angeblich Wirkliche jenseits der Zeichen scheint sich den eigenen Absichten zu fügen.
Den Ansichten des Common sense, dieser alltäglichen und automatischen Anpassung, entgegengesetzt, gibt es nichts, was mit mehr Vorsicht, mit mehr Zweifel und Zurückhaltung zu behandeln ist, als die sogenannten eigenen Absichten. Allzu häufig vollzieht sich der Widerspruch, der darin besteht, dass man gerade dann, wenn man glaubt, seine Absichten zu verwirklichen, sie nicht verwirklicht, sogar im Gegenteil genau das geschehen lässt, was man auszuschliessen meint. Ein Schriftsteller, und ihm entsprechend auch sein Leser, hätte sich eigentlich so wie der weise General Kutusov in Leo Tolstois Krieg und Frieden zu verhalten; er hätte auf dem Grat zu wandern zwischen dem, was er selbst zu beabsichtigen weiss, und dem, was ihm zufällt. - Wenn es auch nicht einfach so ist, dass es so schreibt oder liest, wie es regnet, so ist es doch nicht einfach so, dass er so schreibt oder liest, wie er, der Schriftsteller oder Leser, will. Er steht vor der unendlichen Aufgabe, das, was geschieht, in das zu verwandeln, was er beabsichtigt, und das, was er beabsichtigt, in das, was geschieht. Die Literatur, die ihren Namen verdient, arbeitet meistens an beiden Enden der brennenden Kerze: einmal daran, alles als etwas zu zeigen, das unterläuft, das einem geschieht, und zum anderen daran, alles als etwas zu zeigen, das man herstellt, das man beabsichtigt.

Schriftsteller, aber auch Leser, wäre einer erst dann, wenn er sich so verhalten würde, dass sich der Unterschied zwischen dem Handelnden und dem Erleidenden, dem Erkennenden und dem Erkannten unendlich verkleinern und schliesslich gegen Null konvergieren lässt. Vielleicht ist es eine ähnliche Vorstellung, die etwa John Keats von negative capability sprechen lässt oder Musil vom anderen Zustand. In einer Art Gegenstück zu einem Gedanken der sogenannten negativen Theologie könnte man den Künstler negativ als den beschreiben, der alle seine schöpferische Kraft dafür einsetzt, eine Lücke freizuhalten, der sich gegen den Andrang der Festlegungen damit wehrt, dass er sich oder den Leser als den Festlegenden erfindet, aber zugleich auch als das, was alle die Festlegungen erleidet.
Und vielleicht ist es eine Konsequenz dieser Vorstellung, Kafka paraphrasierend, zu behaupten, dass Aufgaben, deren Lösung schon vorschweben, bevor man sie zu lösen beginnt, oder Mittel, deren Zwecke schon deutlich sind, bevor man sie anwendet, nur selten die geeigneten Ausgangspunkte für eine Literatur sind, die sich tatsächlich als eigenmächtige und eigenständige und damit auch durch keine andere ersetzbare Tätigkeit, verstehen lässt.

Es ist sein, wie ich glaube, unbewusstes Verwechseln der berichteten Wirklichkeit mit einer, von der sie behauptet zu berichten, das Reich-Ranicki etwas von dem Optimismus des Feldherrn oder des Politikers verleiht, wenn er unterstellt, dass es in der Literatur Absichten, Strategien gibt, den Gegner, in diesem Fall die Wirklichkeit, in den Griff zu bekommen. Wenn Karl Kraus in einem bekannten Wort darauf besteht, dass es ein verwerfliches Ziel für einen Dichter sei zu versuchen, die Sprache zu beherrschen, dann ist dem hinzuzufügen, dass es für einen Dichter ein ebenso verwerfliches Ziel ist zu versuchen, die Wirklichkeit in den Griff bekommen. In seiner Überschätzung des der Literatur Vorgegebenen und, damit verbunden, der Zweckhaftigkeit der literarischen Mittel gleicht Reich-Ranicki viel mehr Tolstois Napoleon als dessen Kutusow. Und gerade deshalb ahnt Reich-Ranicki so wenig von jener Eigenschaft des Schreibens oder Lesens, die Walter Benjamin in seinem Aufsatz über Robert Walser, das keusche, kunstvolle Ungeschick in allen Dingen der Sprache nennt. Reich-Ranicki ist ein Erwachsener und einer, der im harten Erwerbsleben steht; er kann sich in den meisten Dingen kein keusches Ungeschick leisten und damit auch nicht die kritische Ansicht, dass solches Ungeschick kunstvoll sein kann, nämlich eine Voraussetzung dafür, dass die Literatur darauf verzichten kann, Wirklichkeit zu beherrschen, um aber gerade aus ihrer Ohnmacht eine Wirklichkeit hervorzubringen, die - womöglich - das, worauf sie verzichtet hat, als einen ihrer Aspekte enthält.

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Dass Reich-Ranicki glaubt, die Literatur und die Wirklichkeit gleichsam durch das Papierfenster Zeitung hindurch betrachten zu können und zugleich von einer Art Feldherrnhügel hinab zu sprechen, das zeigt sich in vielen seiner Schriften, doch besonders deutlich dann, wenn er versucht, eine Reihe von Schrifstellern oder bestimmte Zeiträume summarisch abzuhandeln. Reich-Ranicki berichtet da von literarischen Strömungen, von literarischen Moden von Jahrfünften oder Jahrzehnten, ohne offenbar nur auf die Idee zu kommen, dass sich eine Literatur, die sich so leicht als Emanation kurzlebiger Zeitgeister begreifen lässt, damit selbst ihr Urteil spricht. In einem einleitenden Aufsatz zu Entgegnungen, einem Band seiner Kritiken, klingt das so: "Der Alltag tritt als grosses Thema der Lyrik an die Stelle des Politischen, man bemüht sich um eine einfachere und verständlichere Diktion und will unbedingt den Leser erreichen.[...] Im Herbst 1975 habe ich in der `Frankfurter Allgemeinen Zeitung' die neue Subjektivität zwar ausdrücklich befürwortet, doch zugleich vor einem Rückzug aus der Öffentlichkeit gewarnt, der nur bedeuten würde, dass die deutschen Schriftsteller es nach wie vor lieben, von einem Extrem ins andere zu fallen."
Was wären das für Schriftsteller, deren Arbeiten sich so beschreiben lassen und deren Wurzeln so wenig tief eingegraben sind, dass sie alle fünf Jahre als die Auftragserfüller eines neuen Trends erscheinen? Hätte ein Kritiker nicht viel deutlicher auf ihren kurzen Atem hinzuweisen und die Gründe dafür zu analysieren?
Und ist es etwas anderes als der Ausdruck künstlerischer Schwäche, wenn sich so viele Schriftsteller durch solche Beschreibungen beschreiben und durch solche Warnungen warnen lassen, wenn sie solchen Darstellungen den halben Weg entgegenkommen? Überall scheinen tatsächlich die meisten mit Literatur Befassten allzu bereit, jenes abgekartete Spiel vorgefasster Wirklichkeitsbegriffe mitzuspielen. Sei es in Form der Literatur, sei es in Form ihrer Reflexionen. So scheinen heute sowohl die Schriftsteller selbst als auch die Literatur vermittelnden Instanzen an so etwas wie der Domestizierung der Wirklichkeit Literatur zu arbeiten.
Reich-Ranickis Vermittlerrolle erinnert dabei an die Zettels im Sommernachtstraum. Allerdings an einen zwischen Schriftstellern und Publikum zerissenen Zettel: Dem Publikum erklärt er, dass die Literatur vor allem Metapher für die Wirklichkeit sei, die wir alle kennen, und er ruft jenem Publikum gleichsam zu: Fürchtet euch nicht vor der Literatur, denn sie ist nur dann gute Literatur, wenn sie die Fortsetzung der Zeitung mit anderen Mitteln ist.
Dem Schriftsteller erklärt er dagegen, dass die Zeitung vor allem eine Metapher für ihn selbst ist, für die Wirklichkeit, die für ihn und sein Publikum verbindlich ist oder sein sollte. Und er ruft seinen Schrifstellern gleichsam zu: Fürchtet euch nicht vor Zeitung und Publikum, denn sie sind beide gut, insofern sie die Fortsetzung der Literatur mit anderen Mitteln sind. Und sowohl die Schriftsteller als auch das Publikum sind keineswegs widerspenstig, sondern allzu leicht zu zähmen. Mit Dankbarkeit erkennt sich beinahe jedermann in den Schriften Marcel Reich-Ranickis so wieder, wie er selbst in den meisten Lesern. Und also schreibt er in einer Lobrede mit dem Titel Hilde Spiel oder in den Lüften Europas: "Wie alle Essayisten und Feuilletonisten, wie alle guten Kritiker schreibt auch Hilde Spiel nicht für ihre Zunft, sondern für das Publikium, nicht für ihre Kollegen, sondern für die Leser".
Liegen die Dinge wirklich so einfach? Sind wirklich Essayisten und Feuilletonisten dann gute Kritiker, wenn sie nicht für ihre Zunft - man beachte den biederen, ständischen Ausdruck! - schreiben, sondern für ihr Publikum? Sind die wirklich bedeutenden Kritiker nicht jene, die so schreiben, dass man nicht zwischen ihrer Zunft und dem Publikum unterscheiden muss, für die das Publikum nicht nur Kirche ist, sondern eben auch Postulat? Und sind Kritiker, die für das Publikum schreiben, nicht zumeist diejenigen, die nicht imstande sind, jene tieferen Zusammenhänge jeweiliger literarischer Entwicklung zu sehen, auf deren Darstellung es doch ankäme?
Reich-Ranicki glaubt an den Leser als Laien, er will vom literarischen Experten wenig wissen. Das hat mit seiner Bevorzugung des gesunden Menschenverstands zu tun. Und er hat wenigstens insofern recht, als die Vorstellung eines masstäblichen Expertengeschmacks nicht weniger schrecklich ist als die eines masstäblichen Geschmacks der Massen. Beide Masstäbe wären dazu verurteilt, Symptom zu sein. Aber auch hier lässt sich das zweifellos vorhandene Problem nicht dadurch lösen, dass man sich einfach auf den Geschmack des Publikums verlässt, und sei es auf den Geschmack der Leser einer sogenannten seriösen Zeitung.

Es ist Reich-Ranickis falsche Vertrautheit mit der Zeitung und seine Verliebtheit in die Fiktion Publikum, die diesen ansonsten so nüchternen und abgeklärten Mann dazu verführt, die von ihm vorausgesetzte Wirklichkeit, tatsächlich sehr vertrauensselig, vereinfacht und zugleich aufgedonnert-rhetorisch so auf die Fläche seiner Zeitung zu bringen: "In jenem Jahrzehnt, da Böll ein Praeceptor Germaniae wurde und doch nicht aufhörte, ein rheinischer Schelm zu sein, da der grimmige Poet Grass sich in einen politischen Kämpfer verwandelte, da Koeppen schwieg und Celan zusammenbrach, da Peter Weiss um die Synthese von Kunst und Propaganda sich vergeblich mühte, und Siegfried Lenz eine Deutschstunde erteilte, der die Nation begeistert applaudierte - da blieb Max Frisch, was er schon zu sein schien, als er noch gar nicht berühmt war: ein Klassiker inmitten unserer Gegenwart."
Das, mit Verlaub, ist purer Kitsch, leere klassizistische Rhetorik, ein snobistisch-synoptisches name dropping mit einem Schuss Gelehrtenrepublik, der unglaubwürdige Tagtraum von einem unglaubwürdigen Aussichtsturm der Kritik aus, in dem sich eine Reihe von Dichtern und ihre Nation simultan in ihren irgendwie doch gemeinsamen Bemühungen von oben zeigen; es ist das abstossende Zeichen einer zeitungs- und verlagsgemässen Verdinglichung der Welt, in die auch Reich-Ranickis Einteilung von Schriftstellern in erste und zweite Garnitur passt, in der es schwache oder starke Buchsaisonen gibt, und noch eine ganze Reihe ähnlich gespenstischer Entitäten.

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So wie für Reich-Ranicki die Zeichen (die für die Wirklichkeit stehen) relativ verfügbar scheinen, und so wie die Schriftsteller die Wirklichkeit in den Griff bekommen sollen, so glaubt er selbst, dass die Wirklichkeit, jedenfalls die Wirklichkeit der Literatur, ihres Betriebs, beherrschbar und durchschaubar ist. Was der Staat und die Gesellschaft für die Kehrseite des Journalisten, also für den naiven Politiker ist, nämlich der manipulierbare Gegenstand seiner Wirksamkeit, das, von dem er sich einbildet, es zu beeinflussen, zu dessen sogenannter Gestaltung (!) er sich einbildet, Probleme zu lösen, Entschlüsse zu fassen, ist für Reich-Ranicki die Welt der Literatur, dieser Bereich von Buchbesprechungen, Verlagspolitiken, Preis- und Stipendienvergaben, persönlicher und gesellschaftlicher Beziehungen. Die Welt des Literaturbetriebs ist dann zugleich die Welt der Literatur, und eigentlich ist Reich-Ranicki sicher, dass diesem Literaturbetrieb zwischen Stipendien, Preisen und Feuilletons kein bedeutender Schriftsteller durch die Maschen gehen kann.

Es ist gar nicht paradox, dass dieser selbstverständlich akzeptierte Wirklichkeitsbegriff für Reich-Ranicki andererseits zum Verlust jener Wirklichkeit führt, deren Existenz gerade er jenseits der Begriffe von ihr annimmt. Und so kommt er, seinen eigenen Wirklichkeitsbegriff vorausgesetzt, zu merkwürdigen Fehleinschätzungen. Er unterschätzt das Chaotische seiner Wirklichkeit krass, speziell das Chaotische der Wirklichkeit des Literaturbetriebs. Reich-Ranicki glaubt an die Effizienz der filternden Mechanismen dieser Maschine; er glaubt tatsächlich, dass die welchselseitige Einflussnahme der Institutionen, die mit der Produktion, Verbreitung und Rezeption von Literatur zu tun haben, so funktionieren, dass einigermassen sicher ist, dass es tatsächlich die bedeutenden Schriftsteller sind, die rezipiert werden.
Ich zitiere aus dem Gespräch mit Peter von Matt: "Ich glaube sagen zu können, dass wir alles, was irgendwie bemerkenswert ist, rezensieren. Sie werden fragen: Wer entscheidet darüber, was erwähnenswert ist? Natürlich die Literaturredaktion der F.A.Z. Wir sind vier Redakteure und entscheiden gemeinsam, welches Buch besprochen wird und von wem. Irrtümer und Fehlurteile können immer passieren. So konnte es geschehen, dass wir ein Buch nicht besprechen wollten, das eigentlich hätte besprochen werden müssen. Glücklicherweise werden wir sehr genau kontrolliert - von der literarischen Öffentlichkeit. Und wenn ein wichtiges Buch unbesprochen bleibt, bekommen wir das zu spüren. Dann gibt es Proteste - vom Verleger des Buches, von Lesern, häufig von unseren Mitarbeitern, die ein Buch zu rezensieren wünschten, das wir gar nicht eingeplant hatten. So etwas wird dann meist korrigiert. In der F.A.Z, die zwar auch nur einen Bruchteil, aber doch einen beachtlichen Bruchteil der gigantischen Buchproduktion rezensieren kann, ist es schwer möglich, dass ein erwähnenswertes Buch ganz unbemerkt bleibt."
Dieser Optimismus hat etwas Grossartiges. Nicht nur, dass die sogenannte literarische Öffentlichkeit, durch die jene vier Redakteure angeblich kontrolliert werden, gerade diejenige ist, die vor allem auf die Informationen durch Instanzen wie das Feuilleton gewisser Zeitungen angewiesen ist. - Reich-Ranicki übergeht hier die entscheidenden Zweifel oder Fragen mit schon wieder entwaffnender Grosszügigkeit: Welche Bücher erreichen die Redaktion einer Zeitung wie die der F.A.Z? Wie entscheiden die Redakteure? - Haben sie vorher alle Neuerscheinungen gelesen? Oder nur die, die in den grossen Verlagen verlegt werden? Oder informieren sie sich durch Verlagsprospekte, die natürlich jede ihrer Neuerscheinungen als bedeutend anpreisen?
Da muss man auch Reich-Ranicki, der das bei vielen anderen Gelegenheiten so gerne selbst tut, sagen: Es ist doch wohl immer schon so gewesen! Schon immer ist ein guter Teil der bedeutenden Literatur durch den Rost der Rezeption gefallen, während ein guter Teil der Literatur, die sich bald als unbedeutend herausgestellt hat, in den Filtern der Öffentlichkeit hängengeblieben und verbreitet worden ist.
Er wird selbst am besten wissen, wie viele der Autoren, die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder in irgendeiner anderen "seriösen" Zeitung, in den fünfziger, sechziger oder siebziger Jahre ausführlich als bedeutend rezensiert worden sind, inzwischen zu Recht vergessen sind. Und auch, dass einige Autoren, die von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder irgendeiner anderen "seriösen" Zeitung in den fünfziger, sechziger oder siebziger Jahren nicht oder nicht ausführlich oder auch als nicht-bedeutend rezensiert worden sind, inzwischen zu Recht als bedeutend angesehen werden.
Das Ergebnis von Reich-Ranickis beinahe bedingungslosem Glauben an die Wirklichkeit des Literaturbetriebs ist nichts als ein primitiver sozialer Darwinismus: Das Glück der Rezeption (wenn es denn eines sein soll) hat bei Reich-Ranicki vor allem der Tüchtige, das ist: der bedeutende Schriftsteller. Was der Literaturbetrieb ausliest, das liest er auch zu Recht aus. Wenn jemand nicht rezipiert wird, ist er selbst schuld und geht zu Recht unter.

Und so wird für Reich-Ranicki, ähnlich wie eben ein Politiker oder ein Diplomat dazu neigt, den Staat für einen Organismus oder (diese Metapher liegt heute näher) für eine Maschine zu halten, deren einzelne Teile funktionell aufeinander abstimmbar sind und von ihm nach seinem Willen zum Schalten und Walten gebracht werden können, die Welt der Zeitung und der Literatur zu einem Staat im Staat, zu einer Gesellschaft in der Gesellschaft, auf deren anscheinend lückenloses Funktionieren Verlass ist. Die staatstragenden, aber auch die (für ihre eigenen Begriffe) staatskritischen Schriftsteller und Kritiker sausen über ihr, wie man sagt, spiegelglattes Parkett und lesen, einander verstärkend, aus ihrer stillen Post unermüdlich den Zusammenhang zwischen Plan und Verwirklichung. - Aber zugegeben: das ist nicht nur das Los der Diplomaten oder Politiker und der Journalisten, sondern das jedermanns unter den meisten sozialen Umständen. Überall scheinen sich manipulierbare Konstellationen zu ergeben, überall scheinen die eigenen Absichten verwirklicht zu werden und die Absichten anderer durchkreuzt. Der Begriff von Wirklichkeit wird mit einer erlebten Wirklichkeit kurzgeschlossen, indem man seine Erfahrungen nicht von seinen Begriffen von Erfahrungen trennt und das Begriffliche unter den Tisch fallen lässt - zugunsten eines Romans, von dem man vergisst, dass man ihn schreibt oder liest.

So kommt es, dass Reich-Ranicki Politik macht (und wie er glaubt: zum Besten der Literatur), und der Politik, die er macht, auch traut. Aber schon damit, dass er sie macht, macht er sie falsch. Ich fürchte: genausowenig wie man das einem Politiker wird erklären können, wird man es dem Reich-Ranicki erklären können, der in einem Interview mit der Behauptung Gottfried Reinhardts konfrontiert, dass Heinrich Böll, gäbe es noch die grossen jüdischen Kritiker, nie mit einem grossen Schriftsteller verwechselt worden wäre, so reagiert: "Wir, die wir zu Bölls Ruhm beigetragen haben, sahen keinen anderen Ausweg. Es gab keinen anderen. Die konservative Kritik wollte Gerd Gaiser zur Galionsfigur der Literatur machen. Den antisemitischen, exnazistischen Schriftsteller. Das konnten wir nicht zulassen. Wir haben uns auf Böll als Gegenkanditaten geeinigt. Es gab andere, die besser waren. Aber sie waren nicht geeignet."
Bei allem Verständnis für Reich-Ranickis biographische Prägung durch bestimmte Formen von Katastrophen, die üblicherweise in politischen Kategorien beschrieben werden: Eine Kritik, die ernstlich glaubt, Galionsfiguren installieren zu sollen, die auf Kandidaten für eine solche Galionsfigur mit Gegenkandidaten reagiert, eine solche Kritik hat, ohne es zu bemerken, den Köder Wirklichkeit unzerkaut verschlungen und speit ihn unverdaut in Form ihrer Politik wieder aus. Und zu dieser Naivität passt auch genau, dass der unsägliche Ingeborg Bachmann-Preis von Reich- Ranicki mitinitiiert und mitgetragen wurde, und wohl auch in der Annahme, damit der Literatur einen Dienst zu erweisen.

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Das zur Natur totalisierte Interpretationsmodell Realismus, das beinahe blinde Vertrauen auf den Common sense auch in der Literatur, und die Tatsache, dass dieser Literaturkritiker vor allem als Literaturjournalist tätig war: alle diese Momente zusammen zeigen sich auch deutlich in Reich-Ranickis einseitig positiver Einschätzung seiner eigenen Form des Umgangs mit Literatur.
In seinen Bemerkungen über Literaturkritik in Deutschland schreibt er über die Kritiker, die keine Berufs-Kritiker sind: "Jene Literaten also, die über die Arbeiten von Literaten schreiben, sind nur sehr selten hauptberufliche Kritiker, oft hingegen Schrifsteller, deren Ehrgeiz nicht der Kritik, sondern einem anderen literarischen Gebiet gilt. Kein Zweifel, dass wir den Erzählern und Lyrikern, die gelegentlich Rezensionen verfassen, doch darin nur eine zusätzliche Beschäftigung sehen, auch hervorragende kritische Texte verdanken. Aber gerade sie, die Sonntagsjäger der Kritik, erweisen sich häufig als jene, die unentwegt von der Entdeckung neuer Meisterwerke zu berichten wissen."
Und dann behauptet Reich-Ranicki, dass es sich die Berufskritiker nicht leisten können, leichtfertig zu urteilen, weil sie sonst ihr Renommee und die Basis ihrer Existenz aufs Spiel setzen würden.
Hätte Reich-Ranicki damit doch recht! Die Berufskritiker loben doch genauso unbedarft und unvorsichtig, und wohl häufig aus eben so trüben Motiven wie die Sonntagsjäger der Kritik, die ihren Kollegen nicht wehtun wollen. Und ihrem Renommee scheint es auch nicht zu schaden, ihre materielle Existenz wird damit offenbar auch nicht gefährdet. Ich fürchte, das Beste, was man zu dieser Behauptung Reich-Ranickis sagen könnte, wäre, dass er hier von sich auf andere hier schliesst.

Ich propagiere nicht den Dichter als Literaturkritiker. Diese Konstellation hat tatsächlich alle die Nachteile, die Reich-Ranicki so häufig betont. Gefälligkeitsrezensionen, Allianzen um des Überlebenskampfes im Literaturbetrieb willen usw. Aber selbst wenn der Berufskritiker gegenüber dem Sonntagskritiker alle die Vorteile hätte, die Reich-Ranicki behauptet: liegen nicht auch viel schwerwiegendere Nachteile als diejenigen, die Reich-Ranicki leugnet, auf der Hand? Und findet man ihre Auswirkungen nicht in so manchen Eigenschaften seiner Kritiken wieder?
Ein Berufskritiker muss seine Kritiken in mehr oder weniger regelmässigen Abständen und jedenfalls sehr häufig, dazu noch in vorgegebenem Umfang schreiben. Er ist beinahe ausschliesslich äusserlichen, produktionsmechanischen Rücksichten unterworfen. Während Schrifsteller, die nicht auch Redakteure sind, die Möglichkeit haben, ihre Kritik aus dem Zentrum ihrer Interessen zu entwickeln, sich mit den Dingen auf die Weise auseinandersetzen können, auf die es ihnen ankommt, und die es ihnen ermöglicht, ihre Ansichten mit all den Umwegen, Zweifeln nach und nach organisch zu entwickeln, also auch organisch zu verändern. Der Schrifsteller als Kritiker kann sich also, sei es in Zustimmung oder Ablehnung, mit den Werken auseinandersetzen, die mit seinen eigenen produktiven literarischen Erfahrungen zu tun haben, mit seiner eigenen Entwicklung.
Der Berufskritiker muss sich dagegen von vielen Rücksichten leiten lassen, die mit seinen eigenen kritischen Impulsen wenig zu tun haben. Er kann sich die Umwege, das Ruhenlassen, das Wiederaufnehmen viel weniger leisten; er kann die Produktivität des ästhetischen Zweifels nicht hinreichend auskosten; er muss zumeist auf umfassende und systematische ästhetische Reflexion verzichten; er kann eigentlich keine Grundlagenforschung betreiben.
Und wenn es auch wahr wäre, dass der Berufskritiker, wie Reich-Rancki behauptet, mit Gefälligkeitsrezensionen sein Gesicht verlieren würde, dann wäre es doch ebenso wahr, dass er es sich auf die Dauer nicht leisten kann, dann die Werke zu rezensieren, die ihm am wichtigsten zu sein scheinen, wenn er zugleich weiss, dass sie von beinahe niemandem gelesen werden. Sollte dieser Berufskritiker ausgefallene Vorlieben und Abneigungen haben, so kann er es sich wohl nicht erlauben, sie in seinen Berufskritiken angemessen darzustellen. Mit einem schon mehrfach zitierten Wort: das Publikum kann ihm kaum einmal Postulat sein, es ist ihm beinahe immer Kirche. So zeigen sich die Nachteile der Institution des Berufskritikers auch sehr häufig darin, dass die Zeitung, ihr pragmatischer Informationsbegriff, ihre Ausrichtung auf schnelle Verwertbarkeit und einfache, ja vereinfachende Darstellung von Informationen, auch den Literaturbegriff jener mitformt, für die sie das hauptsächliche Medium ist. Tendenziell findet dann die Literatur kritische Beachtung, die der in Zeitungen verwertbaren Information ähnlich zu sein scheint, oder jedenfalls in der Kritik als solche plausibel dargestellt werden kann. Denn die Kritik selbst soll als Information über Information verkäuflich sein. Und literarische Werke, die sich dazu nicht oder schlecht eignen, die sich in den Zeitungen nicht paraphrasieren lassen, werden stillschweigend als Desinformation disqualifiziert. Gerade, dass er mit Hilfe seiner Kritiken zu überleben sucht, macht den Berufskritiker, seine Haltung besonders anfechtbar. Auch ein freier Schriftsteller muss zumeist von seinen Schriften leben, aber seine Bedeutung als Schriftsteller hat sehr viel damit zu tun, wie sehr es ihm gelingt, seine Kritiken so zu verfassen, als ob es das Problem seines Überlebens nicht gäbe.


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