© by Franz Josef Czernin
Vielleicht ist die Lesart Realismus, eben wegen ihres scheinbar
selbstverständlichen Zusammenhangs mit der alltäglichen Weise,
wie wir mit uns selbst, unserem Sprechen und unserer Welt
umgehen, die stärkste Verführung, die in der Literatur denkbar
ist. Kaum jemand wird bestreiten, dass diese Lesart starke
Wirkungen hervorrufen kann, und nur ein verbohrter Ideologe
einer anti-realistischen Ästhetik wird leugnen, dass diese
Wirkungen auch den höchsten Ansprüchen genügen können, die man
an Literatur stellen kann.
Und dieser Lesart entsprechend ist die Redeweise, dass jemand
einen Roman, eine Erzählung über etwas schreibt, das ausserhalb
und unabhängig von ihm oder wenigstens seinem Sprechen
existiert, nicht von vornherein völlig sinn- oder wertlos,
genausowenig, wie davon zu reden, dass in einem literarischen
Werk, dieses oder jenes Problem behandelt wird, dieser oder
jener Stoff verarbeitet wird usw. Aber diese Redeweisen - und
das wird zumeist und auch von Reich-Ranicki völlig ausser acht
gelassen - gehören selbst zu dem Roman einer Interpretation,
sind selbst nur eine Stimme oder ein Moment in einem Prozess
einer interpretierenden Aneignung. Und die das ausser acht
lassen, täuschen sich so ähnlich wie jene Deuter von Träumen,
die nicht begreifen, dass ihre Deutung nicht einfach ein Spiegel
für ein vorgegebenes Bild ist oder eine Lösung für ein
vorgegebenes Rätsel, sondern gleichsam ein zweiter Traum, ein
Deutungstraum, und damit im besten Fall ein Moment, das mit dem
ersten, dem zu interpretierenden Traum so verbunden ist, dass
Spiegel und Bild oder Rätsel und Lösung einander erst
wechselseitig hervorbringen.
Eine der Schwierigkeiten, einer Redeweise gerecht zu werden, in
der ein Text über etwas geschrieben wird, in der ein Text ein
Problem behandelt, in der ein Stoff verarbeitet wird, liegt also
auch darin, dass es Umstände oder Momente des Schreibens oder
Lesens gibt, unter denen Kunstwerke so betrachtet werden können;
sie so zu betrachten, kann auch fruchtbares Moment eines
Prozesses ihrer Aneignung sein. Wer würde einfach verneinen,
dass man zum Beispiel die Literatur Bertolt Brechts in vielerlei
Hinsicht so lesen muss, als gäbe diese Literatur Dinge bzw.
Zusammenhänge wieder, die unabhängig von ihr existieren, als
würde sich diese Literatur bestimmter Probleme oder Stoffe
annehmen? Wer würde aber andererseits leugnen, dass gerade der
Zweifel an dieser Lesart manches Licht auf Brechts Literatur
werfen könnte?
Der Glaube, man könne einfach über etwas Bestimmtes, das
unabhängig von seiner sprachlichen Bestimmung existiert, reden
oder schreiben, ist ein Teil des Romans, der Erzählung, die wir
uns ununterbrochen vorerzählen, und in deren Zusammenhang wir
dann unser Leben, unseren Alltag vorzufinden glauben: so fest
gefügt wie einen Berg, den, wie wir glauben, kein Glaube
versetzen kann. Aber selbst wenn es jene Wirklichkeit, jenen
Berg unabhängig von dem Roman über sie geben sollte: hat der
Glaube daran, dass man ihn in der Sprache wiedergeben kann, mit
deren Hilfe man normalerweise miteinander zurechtzukommen
scheint, nicht gerade die Wirkung, diesen Berg bis zur
Unkenntlichkeit zu entstellen? Vergisst man auf diese
Möglichkeit (und es gehört zu jenem alltäglichen Roman, darauf
zu vergessen), so ist man dazu verurteilt, das zu erleiden, was
jedermann erleidet: unter der Wucht der alltäglichen Umstände
spricht man (weil man, so könnte man meinen, sich in eine ganze
Gesellschaft von Stimmen verwandelt) über alles mögliche andere,
als man sich jeweils träumen oder wachen lässt. Man hat sich
angepasst, aber nicht etwa bewusst und methodisch wie ein
Wissenschaftler seine Theorie an ihren Gegenstandsbereich. Und
so wird man eher von den verschwiegenen Voraussetzungen
gesprochen, als dass man eigentlich selbst spricht. Man ist in
diesem Roman vor allem die Figur eines für einen selbst
unerforschlichen Autors oder Lesers.
Und gerade das geschieht einem zumeist auch, wenn man eilfertig
dem äusseren oder inneren Rufen gehorcht, und ein gerade
aktuelles gesellschaftliches, politisches oder auch seelisches
Ereignis zu verarbeiten sucht, oder, wenn man, allgemeiner,
versucht, eine bestimmte Absicht, eine These, eine Haltung, eine
Idee, eine vorgefasste Wirklichkeit mit Hilfe der Literatur
darzustellen, wiederzugeben oder aus ihr herauszulesen. Man
versucht es, und schon fällt man einer unbarmherzigen inneren
Arbeitsteilung zum Opfer, ganze Fabriken geistiger Kräfte werden
ausgeschlossen, streiken, rebellieren, sabotieren usw.; statt
einer möglichen polyphonen Ordnung, einer vielfältigen
Pluralität von einander einleuchtenden Elementen, kommt es zu
einem Kollidieren von unwillkürlich und konsequenzlos
angezettelten Mächten, von Gewähltem mit Ausgeschlossenem zum
Schaden von beidem. - Eine einzelne, unglückliche Figur beruft
sich auf ihre Absichten oder auf ihre Leseeindrücke und hält
sich fälschlich für einen Autor oder einen Leser, der sie
verwirklicht.
*
Ich habe es schon erwähnt: Die Folge oder aber vielleicht die
Ursache von Reich-Ranickis so einseitiger Festlegung auf jene
alltägliche Erzählung ist, dass er nicht nur dazu neigt, eine
Wirklichkeit jenseits der Sprache einfach vorauszusetzen (was
immerhin noch viele Möglichkeiten offen liesse und offenbar für
viele Schriftsteller als Arbeitshypothese brauchbar ist),
sondern ein bestimmtes Bild von Wirklichkeit, eine so und so
strukturierte Wirklichkeit. Indem er häufig nicht nur von der
Wirklichkeit, sondern auch von der Gegenwart, von unserer
tatsächlichen Umwelt spricht, suggeriert er etwas
Unumstössliches, Vorgegebenes als einen allen, vor allem allen
Lesern von Literatur, gemeinsamen Bezugspunkt, den die
Schriftsteller darzustellen hätten. Diese Wirklichkeit nennt er
auch manchmal diejenige der Bundesrepublik Deutschland oder die
eines bestimmten Dezenniums (der fünfziger, sechziger, siebziger
Jahre usw.). Die Gegenwart oder die tatsächliche Umwelt werden
dann häufig noch eingeengt zu dem Ergebnis bestimmer durch
Zeitgeschichte beschriebener oder beschreibbarer Motive und
Stoffe, also vor allem historisch, soziologisch oder politisch
begriffen. Und so schreibt Reich-Ranicki: "Ob wir mitwirken oder
nur zusehen oder wegsehen wollen, ob wir Rollen spielen,
Statisten sind oder uns für Souffleure halten - die Politik ist
unser Schicksal."
Warum nennt man das, was für jeden einzelnen jeweils Schicksal
zu spielen scheint, ausgerechnet Politik? Warum verwendet man
gerade diesen Begriff, der vielleicht im Rahmen einer
historischen oder soziologischen Beschreibung brauchbar sein
mag, nämlich dazu geeignet, bestimmte Organisationsformen des
Zusammenlebens grösserer Gruppen von Menschen zu beschreiben?
Warum macht man gerade diesen Begriff zum Generalbass auf Kosten
anderer Begriffe, die diese Rolle genauso gut oder schlecht
spielen könnten? Genauso gut oder schlecht könnte man doch auch
behaupten: unser Schicksal ist das, was die Newtonsche Physik
beschreibt oder die Wirklicheit, auf die sich die
Relativitätstheorie bezieht, oder unser Schicksal ist die
Sexualität, oder sogar: ist die Poesie!
So wird für Reich-Ranicki diese unter bestimmten Vorzeichen
verstandene Wirklichkeit, die im Zusammenhang von Literatur eben
ein allzu selbstverständlich akzeptierter Begriff von
Wirklichkeit ist, zu einer Art Urmeter, an dem er die Literatur
zu messen versucht. Die Möglichkeit aber, dass umgekehrt jede
bedeutende Literatur selbst eine Art Urmeter ist, und noch dazu
eines, welches beides, den Masstab und das zu Messende
darstellt, vernachlässigt er notorisch.
*
Reich-Ranickis Tendenz, ein geläufiges Bild der Wirklichkeit mit
der Wirklichkeit selbst zu identifizieren, sein damit
zusamenhängender Begriff von Sprache, wird dann besonders
deutlich, wenn die Literatur die gesellschaftlichen
Übereinkünfte darüber, was wirklich, was wichtig, was wirksam
ist, fundamental in Frage zu stellen scheint. Und so liegt es
nahe anzunehmen, dass diese Tendenz auch der Preis für seine
allzu grosse Vertrautheit mit der Welt ist, insbesondere aber
mit der Welt der Zeitung. Wirklichkeit ist da nicht nur etwas,
das schon dort draussen oder da drinnen so und so existiert,
sondern eben auch aktuelle Wirklichkeit, das aktuelle Wirkliche
ist aber berichterstattetes oder berichterstattbares Aktuelles,
die Gegenwart ist allzusehr das, was sie, durch die Zeitungen
gesehen, zu sein scheint.
So sehr Reich-Ranicki von der Literatur etwa Aktualität fordert,
so wenig konkret ist sein Gebrauch dieses Worts, meint er doch
keineswegs in erster Linie die Wiedergabe oder Darstellung von
tatsächlich sinnlich oder introspektiv Aktuellem, also das
Erstellen von Bewusstseinsprotokollen oder
Empfindungsstenographien (welche die Annahme eines unmittelbar
Gegebenen immerhin plausibel machen könnten), sondern die
Wiedergabe von durch bestimmte Formen von Kommunikation schon
vermitteltem Aktuellem. Nicht so etwas wie eine Analyse oder
Rekonstruktion von inneren oder äusseren Empfindungen meint
Reich-Ranicki, nicht Versuche, deren Elemente ausfindig zu
machen und wiederzugeben, sondern den angeblichen Bezug auf
Empfindungen oder Erfahrungen, die auf die übliche Weise gegeben
sind, in den schon abgekarteten Sprachspielen, die uns zur
Verfügung stehen. Der zu Robert Musils Bemerkung, ein Glaube,
der älter als eine Stunde ist, sei ein falscher Glaube,
parallele Aphorismus, dass in der Literatur ein Bild, das schon
geläufig ist, ein falsches Bild ist, liegt ihm allzu fern.
In diesem Sinn spricht häufig der Journalist Reich-Ranicki, oder
vermengt sich der Literaturkritiker und der Journalist zum
Nachteil des Literaturkritikers und der Literatur. Der
Journalist ist es, der die angebliche Prosa der Verhältnisse
unmittelbar mit den Verhältnissen seiner Zeitungs-Prosa
identifiziert. So kommt es dazu, dass Reich-Ranicki, sicher
gegen seine besseren Absichten, einer ganzen Reihe
journalistischer Sprechweisen das Bett für ihre Dummheiten
bietet. Der Journalist Reich-Ranicki spricht davon, die
Wirklichkeit in den Griff zu kriegen, spricht allzu
selbstverständlich und unreflektiert von Inhalten, die
vermittelt werden, vom Umsetzen von Stoffen, von Aktualisierung,
Thematisierung, Aufbereitung oder gar Verpackung. Und so bewegt
er sich häufig in der Nähe eines schlechten vokabulären Milieus,
nimmt allzu sehr Teil an jenem Rotwelsch, das die
Kunstberichterstattung in den Zeitungen, aber auch in den
meisten anderen Medien regiert. Und wenn Reich-Ranicki von
seiner Sache auch viel zu viel versteht, um häufig auf grobe
Weise misszuverstehen, wenn er seine realistische Ästhetik dann,
wenn die Texte es fruchtbar erlauben, durchaus differenziert
anwendet, so fordert er doch, ohne es aber wahrzuhaben, dass
alle Literatur Journalismus zu werden habe oder wenigstens
journalisierbar zu sein. Er kommt dann nicht nur zu so
unverbindlichen und geläufigen Klischeesätzen wie: "Was er
erzählt, zielt natürlich auf unsere Zeit ab und ist, wie könnte
es anders sein, kritisch gemeint", sondern auch dazu, einem
(noch dazu sehr berühmten) Schriftsteller allen Ernstes
gutzuschreiben, dass er beweist, einen untrüglichen Blick für
aktuelle Themen und Motive zu haben.- Etwas, das man doch nur
einem Autor von Trivialromanen oder vielleicht einem
Journalisten ohne weiteres gutschreiben sollte.
*
Da jenes berichterstattete Aktuelle, diese Welt aus Zeichen,
vergleichsweise verfügbar zu sein scheint, scheint es auch das
zu sein, womit es verwechselt wird: das, was man als jenseits
der Welt aus Zeichen annimmt, das, wofür man die Welt aus
Zeichen hält. Auch das angeblich Wirkliche jenseits der Zeichen
scheint sich den eigenen Absichten zu fügen.
Den Ansichten des Common sense, dieser alltäglichen und
automatischen Anpassung, entgegengesetzt, gibt es nichts, was
mit mehr Vorsicht, mit mehr Zweifel und Zurückhaltung zu
behandeln ist, als die sogenannten eigenen Absichten. Allzu
häufig vollzieht sich der Widerspruch, der darin besteht, dass
man gerade dann, wenn man glaubt, seine Absichten zu
verwirklichen, sie nicht verwirklicht, sogar im Gegenteil genau
das geschehen lässt, was man auszuschliessen meint. Ein
Schriftsteller, und ihm entsprechend auch sein Leser, hätte sich
eigentlich so wie der weise General Kutusov in Leo Tolstois
Krieg und Frieden zu verhalten; er hätte auf dem Grat zu wandern
zwischen dem, was er selbst zu beabsichtigen weiss, und dem, was
ihm zufällt. - Wenn es auch nicht einfach so ist, dass es so
schreibt oder liest, wie es regnet, so ist es doch nicht einfach
so, dass er so schreibt oder liest, wie er, der Schriftsteller
oder Leser, will. Er steht vor der unendlichen Aufgabe, das, was
geschieht, in das zu verwandeln, was er beabsichtigt, und das,
was er beabsichtigt, in das, was geschieht. Die Literatur, die
ihren Namen verdient, arbeitet meistens an beiden Enden der
brennenden Kerze: einmal daran, alles als etwas zu zeigen, das
unterläuft, das einem geschieht, und zum anderen daran, alles
als etwas zu zeigen, das man herstellt, das man beabsichtigt.
Schriftsteller, aber auch Leser, wäre einer erst dann, wenn er
sich so verhalten würde, dass sich der Unterschied zwischen dem
Handelnden und dem Erleidenden, dem Erkennenden und dem
Erkannten unendlich verkleinern und schliesslich gegen Null
konvergieren lässt. Vielleicht ist es eine ähnliche Vorstellung,
die etwa John Keats von negative capability sprechen lässt oder
Musil vom anderen Zustand. In einer Art Gegenstück zu einem
Gedanken der sogenannten negativen Theologie könnte man den
Künstler negativ als den beschreiben, der alle seine
schöpferische Kraft dafür einsetzt, eine Lücke freizuhalten, der
sich gegen den Andrang der Festlegungen damit wehrt, dass er
sich oder den Leser als den Festlegenden erfindet, aber zugleich
auch als das, was alle die Festlegungen erleidet.
Und vielleicht ist es eine Konsequenz dieser Vorstellung, Kafka
paraphrasierend, zu behaupten, dass Aufgaben, deren Lösung schon
vorschweben, bevor man sie zu lösen beginnt, oder Mittel, deren
Zwecke schon deutlich sind, bevor man sie anwendet, nur selten
die geeigneten Ausgangspunkte für eine Literatur sind, die sich
tatsächlich als eigenmächtige und eigenständige und damit auch
durch keine andere ersetzbare Tätigkeit, verstehen lässt.
Es ist sein, wie ich glaube, unbewusstes Verwechseln der
berichteten Wirklichkeit mit einer, von der sie behauptet zu
berichten, das Reich-Ranicki etwas von dem Optimismus des
Feldherrn oder des Politikers verleiht, wenn er unterstellt,
dass es in der Literatur Absichten, Strategien gibt, den Gegner,
in diesem Fall die Wirklichkeit, in den Griff zu bekommen. Wenn
Karl Kraus in einem bekannten Wort darauf besteht, dass es ein
verwerfliches Ziel für einen Dichter sei zu versuchen, die
Sprache zu beherrschen, dann ist dem hinzuzufügen, dass es für
einen Dichter ein ebenso verwerfliches Ziel ist zu versuchen,
die Wirklichkeit in den Griff bekommen. In seiner Überschätzung
des der Literatur Vorgegebenen und, damit verbunden, der
Zweckhaftigkeit der literarischen Mittel gleicht Reich-Ranicki
viel mehr Tolstois Napoleon als dessen Kutusow. Und gerade
deshalb ahnt Reich-Ranicki so wenig von jener Eigenschaft des
Schreibens oder Lesens, die Walter Benjamin in seinem Aufsatz
über Robert Walser, das keusche, kunstvolle Ungeschick in allen
Dingen der Sprache nennt. Reich-Ranicki ist ein Erwachsener und
einer, der im harten Erwerbsleben steht; er kann sich in den
meisten Dingen kein keusches Ungeschick leisten und damit auch
nicht die kritische Ansicht, dass solches Ungeschick kunstvoll
sein kann, nämlich eine Voraussetzung dafür, dass die Literatur
darauf verzichten kann, Wirklichkeit zu beherrschen, um aber
gerade aus ihrer Ohnmacht eine Wirklichkeit hervorzubringen, die
- womöglich - das, worauf sie verzichtet hat, als einen ihrer
Aspekte enthält.
*
Dass Reich-Ranicki glaubt, die Literatur und die Wirklichkeit
gleichsam durch das Papierfenster Zeitung hindurch betrachten zu
können und zugleich von einer Art Feldherrnhügel hinab zu
sprechen, das zeigt sich in vielen seiner Schriften, doch
besonders deutlich dann, wenn er versucht, eine Reihe von
Schrifstellern oder bestimmte Zeiträume summarisch abzuhandeln.
Reich-Ranicki berichtet da von literarischen Strömungen, von
literarischen Moden von Jahrfünften oder Jahrzehnten, ohne
offenbar nur auf die Idee zu kommen, dass sich eine Literatur,
die sich so leicht als Emanation kurzlebiger Zeitgeister
begreifen lässt, damit selbst ihr Urteil spricht. In einem
einleitenden Aufsatz zu Entgegnungen, einem Band seiner
Kritiken, klingt das so: "Der Alltag tritt als grosses Thema der
Lyrik an die Stelle des Politischen, man bemüht sich um eine
einfachere und verständlichere Diktion und will unbedingt den
Leser erreichen.[...] Im Herbst 1975 habe ich in der
`Frankfurter Allgemeinen Zeitung' die neue Subjektivität
zwar ausdrücklich befürwortet, doch zugleich vor einem Rückzug
aus der Öffentlichkeit gewarnt, der nur bedeuten würde, dass die
deutschen Schriftsteller es nach wie vor lieben, von einem
Extrem ins andere zu fallen."
Was wären das für Schriftsteller, deren Arbeiten sich so
beschreiben lassen und deren Wurzeln so wenig tief eingegraben
sind, dass sie alle fünf Jahre als die Auftragserfüller eines
neuen Trends erscheinen? Hätte ein Kritiker nicht viel
deutlicher auf ihren kurzen Atem hinzuweisen und die Gründe
dafür zu analysieren?
Und ist es etwas anderes als der Ausdruck künstlerischer
Schwäche, wenn sich so viele Schriftsteller durch solche
Beschreibungen beschreiben und durch solche Warnungen warnen
lassen, wenn sie solchen Darstellungen den halben Weg
entgegenkommen? Überall scheinen tatsächlich die meisten mit
Literatur Befassten allzu bereit, jenes abgekartete Spiel
vorgefasster Wirklichkeitsbegriffe mitzuspielen. Sei es in Form
der Literatur, sei es in Form ihrer Reflexionen. So scheinen
heute sowohl die Schriftsteller selbst als auch die Literatur
vermittelnden Instanzen an so etwas wie der Domestizierung der
Wirklichkeit Literatur zu arbeiten.
Reich-Ranickis Vermittlerrolle erinnert dabei an die
Zettels im Sommernachtstraum. Allerdings an einen zwischen
Schriftstellern und Publikum zerissenen Zettel: Dem Publikum
erklärt er, dass die Literatur vor allem Metapher für die
Wirklichkeit sei, die wir alle kennen, und er ruft jenem
Publikum gleichsam zu: Fürchtet euch nicht vor der Literatur,
denn sie ist nur dann gute Literatur, wenn sie die Fortsetzung
der Zeitung mit anderen Mitteln ist.
Dem Schriftsteller erklärt er dagegen, dass die Zeitung vor
allem eine Metapher für ihn selbst ist, für die Wirklichkeit,
die für ihn und sein Publikum verbindlich ist oder sein sollte.
Und er ruft seinen Schrifstellern gleichsam zu: Fürchtet euch
nicht vor Zeitung und Publikum, denn sie sind beide gut,
insofern sie die Fortsetzung der Literatur mit anderen Mitteln
sind. Und sowohl die Schriftsteller als auch das Publikum sind
keineswegs widerspenstig, sondern allzu leicht zu zähmen. Mit
Dankbarkeit erkennt sich beinahe jedermann in den Schriften
Marcel Reich-Ranickis so wieder, wie er selbst in den meisten
Lesern. Und also schreibt er in einer Lobrede mit dem Titel
Hilde Spiel oder in den Lüften Europas: "Wie alle Essayisten und
Feuilletonisten, wie alle guten Kritiker schreibt auch Hilde
Spiel nicht für ihre Zunft, sondern für das Publikium, nicht für
ihre Kollegen, sondern für die Leser".
Liegen die Dinge wirklich so einfach? Sind wirklich Essayisten
und Feuilletonisten dann gute Kritiker, wenn sie nicht für ihre
Zunft - man beachte den biederen, ständischen Ausdruck! -
schreiben, sondern für ihr Publikum? Sind die wirklich
bedeutenden Kritiker nicht jene, die so schreiben, dass man
nicht zwischen ihrer Zunft und dem Publikum unterscheiden muss,
für die das Publikum nicht nur Kirche ist, sondern eben auch
Postulat? Und sind Kritiker, die für das Publikum schreiben,
nicht zumeist diejenigen, die nicht imstande sind, jene tieferen
Zusammenhänge jeweiliger literarischer Entwicklung zu sehen, auf
deren Darstellung es doch ankäme?
Reich-Ranicki glaubt an den Leser als Laien, er will vom
literarischen Experten wenig wissen. Das hat mit seiner
Bevorzugung des gesunden Menschenverstands zu tun. Und er hat
wenigstens insofern recht, als die Vorstellung eines
masstäblichen Expertengeschmacks nicht weniger schrecklich ist
als die eines masstäblichen Geschmacks der Massen. Beide
Masstäbe wären dazu verurteilt, Symptom zu sein. Aber auch hier
lässt sich das zweifellos vorhandene Problem nicht dadurch
lösen, dass man sich einfach auf den Geschmack des Publikums
verlässt, und sei es auf den Geschmack der Leser einer
sogenannten seriösen Zeitung.
Es ist Reich-Ranickis falsche Vertrautheit mit der Zeitung und
seine Verliebtheit in die Fiktion Publikum, die diesen ansonsten
so nüchternen und abgeklärten Mann dazu verführt, die von ihm
vorausgesetzte Wirklichkeit, tatsächlich sehr vertrauensselig,
vereinfacht und zugleich aufgedonnert-rhetorisch so auf die
Fläche seiner Zeitung zu bringen: "In jenem Jahrzehnt, da Böll
ein Praeceptor Germaniae wurde und doch nicht aufhörte, ein
rheinischer Schelm zu sein, da der grimmige Poet Grass sich in
einen politischen Kämpfer verwandelte, da Koeppen schwieg und
Celan zusammenbrach, da Peter Weiss um die Synthese von Kunst
und Propaganda sich vergeblich mühte, und Siegfried Lenz eine
Deutschstunde erteilte, der die Nation begeistert applaudierte
- da blieb Max Frisch, was er schon zu sein schien, als er noch
gar nicht berühmt war: ein Klassiker inmitten unserer
Gegenwart."
Das, mit Verlaub, ist purer Kitsch, leere klassizistische
Rhetorik, ein snobistisch-synoptisches name dropping mit einem
Schuss Gelehrtenrepublik, der unglaubwürdige Tagtraum von
einem unglaubwürdigen Aussichtsturm der Kritik aus, in dem sich
eine Reihe von Dichtern und ihre Nation simultan in ihren
irgendwie doch gemeinsamen Bemühungen von oben zeigen; es ist
das abstossende Zeichen einer zeitungs- und verlagsgemässen
Verdinglichung der Welt, in die auch Reich-Ranickis Einteilung
von Schriftstellern in erste und zweite Garnitur passt, in der
es schwache oder starke Buchsaisonen gibt, und noch eine ganze
Reihe ähnlich gespenstischer Entitäten.
*
So wie für Reich-Ranicki die Zeichen (die für die Wirklichkeit
stehen) relativ verfügbar scheinen, und so wie die
Schriftsteller die Wirklichkeit in den Griff bekommen sollen, so
glaubt er selbst, dass die Wirklichkeit, jedenfalls die
Wirklichkeit der Literatur, ihres Betriebs, beherrschbar und
durchschaubar ist. Was der Staat und die Gesellschaft für die
Kehrseite des Journalisten, also für den naiven Politiker ist,
nämlich der manipulierbare Gegenstand seiner Wirksamkeit, das,
von dem er sich einbildet, es zu beeinflussen, zu dessen
sogenannter Gestaltung (!) er sich einbildet, Probleme zu lösen,
Entschlüsse zu fassen, ist für Reich-Ranicki die Welt der
Literatur, dieser Bereich von Buchbesprechungen,
Verlagspolitiken, Preis- und Stipendienvergaben, persönlicher
und gesellschaftlicher Beziehungen. Die Welt des
Literaturbetriebs ist dann zugleich die Welt der Literatur, und
eigentlich ist Reich-Ranicki sicher, dass diesem
Literaturbetrieb zwischen Stipendien, Preisen und Feuilletons
kein bedeutender Schriftsteller durch die Maschen gehen kann.
Es ist gar nicht paradox, dass dieser selbstverständlich
akzeptierte Wirklichkeitsbegriff für Reich-Ranicki andererseits
zum Verlust jener Wirklichkeit führt, deren Existenz gerade er
jenseits der Begriffe von ihr annimmt. Und so kommt er, seinen
eigenen Wirklichkeitsbegriff vorausgesetzt, zu merkwürdigen
Fehleinschätzungen. Er unterschätzt das Chaotische seiner
Wirklichkeit krass, speziell das Chaotische der Wirklichkeit des
Literaturbetriebs. Reich-Ranicki glaubt an die Effizienz der
filternden Mechanismen dieser Maschine; er glaubt tatsächlich,
dass die welchselseitige Einflussnahme der Institutionen, die
mit der Produktion, Verbreitung und Rezeption von Literatur zu
tun haben, so funktionieren, dass einigermassen sicher ist, dass
es tatsächlich die bedeutenden Schriftsteller sind, die
rezipiert werden.
Ich zitiere aus dem Gespräch mit Peter von Matt: "Ich glaube
sagen zu können, dass wir alles, was irgendwie bemerkenswert
ist, rezensieren. Sie werden fragen: Wer entscheidet darüber,
was erwähnenswert ist? Natürlich die Literaturredaktion der
F.A.Z. Wir sind vier Redakteure und entscheiden gemeinsam,
welches Buch besprochen wird und von wem. Irrtümer und
Fehlurteile können immer passieren. So konnte es
geschehen, dass wir ein Buch nicht besprechen wollten, das
eigentlich hätte besprochen werden müssen. Glücklicherweise
werden wir sehr genau kontrolliert - von der literarischen
Öffentlichkeit. Und wenn ein wichtiges Buch unbesprochen bleibt,
bekommen wir das zu spüren. Dann gibt es Proteste - vom Verleger
des Buches, von Lesern, häufig von unseren Mitarbeitern, die ein
Buch zu rezensieren wünschten, das wir gar nicht eingeplant
hatten. So etwas wird dann meist korrigiert. In der F.A.Z, die
zwar auch nur einen Bruchteil, aber doch einen beachtlichen
Bruchteil der gigantischen Buchproduktion rezensieren kann, ist
es schwer möglich, dass ein erwähnenswertes Buch ganz unbemerkt
bleibt."
Dieser Optimismus hat etwas Grossartiges. Nicht nur, dass die
sogenannte literarische Öffentlichkeit, durch die jene vier
Redakteure angeblich kontrolliert werden, gerade diejenige ist,
die vor allem auf die Informationen durch Instanzen wie das
Feuilleton gewisser Zeitungen angewiesen ist. - Reich-Ranicki
übergeht hier die entscheidenden Zweifel oder Fragen mit schon
wieder entwaffnender Grosszügigkeit: Welche Bücher erreichen die
Redaktion einer Zeitung wie die der F.A.Z? Wie entscheiden die
Redakteure? - Haben sie vorher alle Neuerscheinungen gelesen?
Oder nur die, die in den grossen Verlagen verlegt werden? Oder
informieren sie sich durch Verlagsprospekte, die natürlich jede
ihrer Neuerscheinungen als bedeutend anpreisen?
Da muss man auch Reich-Ranicki, der das bei vielen anderen
Gelegenheiten so gerne selbst tut, sagen: Es ist doch wohl immer
schon so gewesen! Schon immer ist ein guter Teil der bedeutenden
Literatur durch den Rost der Rezeption gefallen, während ein
guter Teil der Literatur, die sich bald als unbedeutend
herausgestellt hat, in den Filtern der Öffentlichkeit
hängengeblieben und verbreitet worden ist.
Er wird selbst am besten wissen, wie viele der Autoren, die in
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder in irgendeiner anderen
"seriösen" Zeitung, in den fünfziger, sechziger oder siebziger
Jahre ausführlich als bedeutend rezensiert worden sind,
inzwischen zu Recht vergessen sind. Und auch, dass einige
Autoren, die von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder
irgendeiner anderen "seriösen" Zeitung in den fünfziger,
sechziger oder siebziger Jahren nicht oder nicht ausführlich
oder auch als nicht-bedeutend rezensiert worden sind, inzwischen
zu Recht als bedeutend angesehen werden.
Das Ergebnis von Reich-Ranickis beinahe bedingungslosem Glauben
an die Wirklichkeit des Literaturbetriebs ist nichts als ein
primitiver sozialer Darwinismus: Das Glück der Rezeption (wenn
es denn eines sein soll) hat bei Reich-Ranicki vor allem der
Tüchtige, das ist: der bedeutende Schriftsteller. Was der
Literaturbetrieb ausliest, das liest er auch zu Recht aus. Wenn
jemand nicht rezipiert wird, ist er selbst schuld und geht zu
Recht unter.
Und so wird für Reich-Ranicki, ähnlich wie eben ein Politiker
oder ein Diplomat dazu neigt, den Staat für einen Organismus
oder (diese Metapher liegt heute näher) für eine Maschine zu
halten, deren einzelne Teile funktionell aufeinander abstimmbar
sind und von ihm nach seinem Willen zum Schalten und Walten
gebracht werden können, die Welt der Zeitung und der Literatur
zu einem Staat im Staat, zu einer Gesellschaft in der
Gesellschaft, auf deren anscheinend lückenloses Funktionieren
Verlass ist. Die staatstragenden, aber auch die (für ihre
eigenen Begriffe) staatskritischen Schriftsteller und Kritiker
sausen über ihr, wie man sagt, spiegelglattes Parkett und lesen,
einander verstärkend, aus ihrer stillen Post unermüdlich den
Zusammenhang zwischen Plan und Verwirklichung. - Aber zugegeben:
das ist nicht nur das Los der Diplomaten oder Politiker und der
Journalisten, sondern das jedermanns unter den meisten sozialen
Umständen. Überall scheinen sich manipulierbare Konstellationen
zu ergeben, überall scheinen die eigenen Absichten verwirklicht
zu werden und die Absichten anderer durchkreuzt. Der Begriff von
Wirklichkeit wird mit einer erlebten Wirklichkeit
kurzgeschlossen, indem man seine Erfahrungen nicht von seinen
Begriffen von Erfahrungen trennt und das Begriffliche unter den
Tisch fallen lässt - zugunsten eines Romans, von dem man
vergisst, dass man ihn schreibt oder liest.
So kommt es, dass Reich-Ranicki Politik macht (und wie er
glaubt: zum Besten der Literatur), und der Politik, die er
macht, auch traut. Aber schon damit, dass er sie macht, macht er
sie falsch. Ich fürchte: genausowenig wie man das einem
Politiker wird erklären können, wird man es dem Reich-Ranicki
erklären können, der in einem Interview mit der Behauptung
Gottfried Reinhardts konfrontiert, dass Heinrich Böll, gäbe es
noch die grossen jüdischen Kritiker, nie mit einem grossen
Schriftsteller verwechselt worden wäre, so reagiert: "Wir, die
wir zu Bölls Ruhm beigetragen haben, sahen keinen anderen
Ausweg. Es gab keinen anderen. Die konservative Kritik wollte
Gerd Gaiser zur Galionsfigur der Literatur machen. Den
antisemitischen, exnazistischen Schriftsteller. Das konnten wir
nicht zulassen. Wir haben uns auf Böll als Gegenkanditaten
geeinigt. Es gab andere, die besser waren. Aber sie waren nicht
geeignet."
Bei allem Verständnis für Reich-Ranickis biographische Prägung
durch bestimmte Formen von Katastrophen, die üblicherweise in
politischen Kategorien beschrieben werden: Eine Kritik, die
ernstlich glaubt, Galionsfiguren installieren zu sollen, die auf
Kandidaten für eine solche Galionsfigur mit Gegenkandidaten
reagiert, eine solche Kritik hat, ohne es zu bemerken, den Köder
Wirklichkeit unzerkaut verschlungen und speit ihn unverdaut in
Form ihrer Politik wieder aus. Und zu dieser Naivität passt auch
genau, dass der unsägliche Ingeborg Bachmann-Preis von Reich-
Ranicki mitinitiiert und mitgetragen wurde, und wohl auch in der
Annahme, damit der Literatur einen Dienst zu erweisen.
*
Das zur Natur totalisierte Interpretationsmodell Realismus, das
beinahe blinde Vertrauen auf den Common sense auch in der
Literatur, und die Tatsache, dass dieser Literaturkritiker vor
allem als Literaturjournalist tätig war: alle diese Momente
zusammen zeigen sich auch deutlich in Reich-Ranickis einseitig
positiver Einschätzung seiner eigenen Form des Umgangs mit
Literatur.
In seinen Bemerkungen über Literaturkritik in Deutschland
schreibt er über die Kritiker, die keine Berufs-Kritiker sind:
"Jene Literaten also, die über die Arbeiten von Literaten
schreiben, sind nur sehr selten hauptberufliche Kritiker, oft
hingegen Schrifsteller, deren Ehrgeiz nicht der Kritik, sondern
einem anderen literarischen Gebiet gilt. Kein Zweifel, dass wir
den Erzählern und Lyrikern, die gelegentlich Rezensionen
verfassen, doch darin nur eine zusätzliche Beschäftigung sehen,
auch hervorragende kritische Texte verdanken. Aber gerade sie,
die Sonntagsjäger der Kritik, erweisen sich häufig als jene, die
unentwegt von der Entdeckung neuer Meisterwerke zu berichten
wissen."
Und dann behauptet Reich-Ranicki, dass es sich die
Berufskritiker nicht leisten können, leichtfertig zu urteilen,
weil sie sonst ihr Renommee und die Basis ihrer Existenz aufs
Spiel setzen würden.
Hätte Reich-Ranicki damit doch recht! Die Berufskritiker loben
doch genauso unbedarft und unvorsichtig, und wohl häufig aus
eben so trüben Motiven wie die Sonntagsjäger der Kritik, die
ihren Kollegen nicht wehtun wollen. Und ihrem Renommee scheint
es auch nicht zu schaden, ihre materielle Existenz wird damit
offenbar auch nicht gefährdet. Ich fürchte, das Beste, was man
zu dieser Behauptung Reich-Ranickis sagen könnte, wäre, dass er
hier von sich auf andere hier schliesst.
Ich propagiere nicht den Dichter als Literaturkritiker. Diese
Konstellation hat tatsächlich alle die Nachteile, die
Reich-Ranicki so häufig betont. Gefälligkeitsrezensionen,
Allianzen um des Überlebenskampfes im Literaturbetrieb willen
usw. Aber selbst wenn der Berufskritiker gegenüber dem
Sonntagskritiker alle die Vorteile hätte, die Reich-Ranicki
behauptet: liegen nicht auch viel schwerwiegendere Nachteile als
diejenigen, die Reich-Ranicki leugnet, auf der Hand? Und findet
man ihre Auswirkungen nicht in so manchen Eigenschaften seiner
Kritiken wieder?
Ein Berufskritiker muss seine Kritiken in mehr oder weniger
regelmässigen Abständen und jedenfalls sehr häufig, dazu noch in
vorgegebenem Umfang schreiben. Er ist beinahe ausschliesslich
äusserlichen, produktionsmechanischen Rücksichten unterworfen.
Während Schrifsteller, die nicht auch Redakteure sind, die
Möglichkeit haben, ihre Kritik aus dem Zentrum ihrer Interessen
zu entwickeln, sich mit den Dingen auf die Weise
auseinandersetzen können, auf die es ihnen ankommt, und die es
ihnen ermöglicht, ihre Ansichten mit all den Umwegen, Zweifeln
nach und nach organisch zu entwickeln, also auch organisch zu
verändern. Der Schrifsteller als Kritiker kann sich also, sei es
in Zustimmung oder Ablehnung, mit den Werken auseinandersetzen,
die mit seinen eigenen produktiven literarischen Erfahrungen zu
tun haben, mit seiner eigenen Entwicklung.
Der Berufskritiker muss sich dagegen von vielen Rücksichten
leiten lassen, die mit seinen eigenen kritischen Impulsen wenig
zu tun haben. Er kann sich die Umwege, das Ruhenlassen, das
Wiederaufnehmen viel weniger leisten; er kann die Produktivität
des ästhetischen Zweifels nicht hinreichend auskosten; er muss
zumeist auf umfassende und systematische ästhetische Reflexion
verzichten; er kann eigentlich keine Grundlagenforschung
betreiben.
Und wenn es auch wahr wäre, dass der Berufskritiker, wie
Reich-Rancki behauptet, mit Gefälligkeitsrezensionen sein
Gesicht verlieren würde, dann wäre es doch ebenso wahr, dass er
es sich auf die Dauer nicht leisten kann, dann die Werke zu
rezensieren, die ihm am wichtigsten zu sein scheinen, wenn er
zugleich weiss, dass sie von beinahe niemandem gelesen werden.
Sollte dieser Berufskritiker ausgefallene Vorlieben und
Abneigungen haben, so kann er es sich wohl nicht erlauben, sie
in seinen Berufskritiken angemessen darzustellen. Mit einem
schon mehrfach zitierten Wort: das Publikum kann ihm kaum einmal
Postulat sein, es ist ihm beinahe immer Kirche.
So zeigen sich die Nachteile der Institution des Berufskritikers
auch sehr häufig darin, dass die Zeitung, ihr pragmatischer
Informationsbegriff, ihre Ausrichtung auf schnelle
Verwertbarkeit und einfache, ja vereinfachende Darstellung von
Informationen, auch den Literaturbegriff jener mitformt, für die
sie das hauptsächliche Medium ist. Tendenziell findet dann die
Literatur kritische Beachtung, die der in Zeitungen verwertbaren
Information ähnlich zu sein scheint, oder jedenfalls in der
Kritik als solche plausibel dargestellt werden kann. Denn die
Kritik selbst soll als Information über Information verkäuflich
sein. Und literarische Werke, die sich dazu nicht oder schlecht
eignen, die sich in den Zeitungen nicht paraphrasieren lassen,
werden stillschweigend als Desinformation disqualifiziert.
Gerade, dass er mit Hilfe seiner Kritiken zu überleben sucht,
macht den Berufskritiker, seine Haltung besonders anfechtbar.
Auch ein freier Schriftsteller muss zumeist von seinen Schriften
leben, aber seine Bedeutung als Schriftsteller hat sehr viel
damit zu tun, wie sehr es ihm gelingt, seine Kritiken so zu
verfassen, als ob es das Problem seines Überlebens nicht gäbe.