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MARCEL REICH-RANICKI
ODER DIE KRITIK EINER LITERATURKRITIK


© by Franz Josef Czernin


ZWEITES KAPITEL
DES HANDWERKS GOLDENER BODEN IST DOPPELT

Reich-Ranickis Rezension von Günter Grass' Roman Hundejahre beginnt mit diesem Satz: "Natürlich weiss ein so exakt arbeitender Schriftsteller, ein so sorgfältig kalkulierender Artist wie Günter Grass, welch ausserordentliche Bedeutung gerade dem Einstieg zukommt - den ersten Zeilen eines Romans oder einer Erzählung."
Ein Satz, der Vertrautheit mit dem Metier des Schriftstellers zu signalisieren versucht; ein Satz aber auch, der dieses Signal von Vertrautheit ein wenig übertreibt, es etwas zu dick aufträgt. - Statt der umständlichen Formel welch ausserordentliche Bedeutung gerade dem Einstieg zukommt, hätte es ja gereicht zu schreiben: wie wichtig die ersten Zeilen eines Romans oder einer Erzählung sind. Einstieg - klingt das in diesem Zusammenhang nicht etwas zu technisch, zu sehr nach etwas, das sich handwerklich normieren liesse, nach etwas, das durch einen wiederholbaren und verfügbaren Griff herzustellen sei?
Aber selbst wenn Reich-Ranicki nicht vom Einstieg redet, sondern von Anfängen und Schlüssen: Um Anfänge oder Schlüsse herzustellen, scheint es eine Reihe von verfügbaren Techniken zu geben, die von dem Text, zu dem sie jeweils gehören, abtrennbare Eigenschaften besitzen, das heisst relativ unabhängig vom Rest des Texts wirken und kritisch beurteilt werden können. Von Herbert Eisenreichs Prosa etwa heisst es bei Reich-Ranicki, dass ihre "Anfänge oft grossartig sind", ihre "Schlüsse fast immer entbehrlich."
Die ausserordentliche Bedeutung des Anfangs oder Einstiegs eines Texts, aber auch seines Endes, besteht nun nach Reich-Ranicki darin, dass er eine besonders günstige Gelegenheit bietet, entscheidend auf den Leser einzuwirken. Bestimmte Techniken wie eben manche des Ein- oder Ausstiegs bewähren sich durch ihre eprobten Wirkungen. Ein literarischer Text hat für Reich-Ranicki, wie er es manchmal ausdrückt, aus wirkungsvollen Szenen zu bestehen. Der Schriftsteller, der exakt, sorgfältig und kalkuliert arbeitet, kennt diese Wirkungen. Er weiss zum Beispiel, wie man Einstiege oder Schlüsse herstellt, und wohl noch vieles andere; er hat das entsprechende know how. Ein Roman oder eine Erzählung erscheint dann als eine Vorrichtung, die aus mehr oder weniger geschickt angewandten Techniken der Überredung besteht. Diese Techniken müssen, wie etwa die Griffe guter Ringer, sitzen, um den Leser zu überwältigen. All das impliziert, dass für Reich-Ranicki das Verhältnis zwischen bestimmten literarischen Techniken und den Reaktionen der, auf sie offenbar abzurichtenden oder abgerichteten, Leser positiv ist. Er behauptet selbstverständlich eine Komplizenschaft zwischen Autor und Leser, in der aber der Autor seine literarischen Techniken anwendet, um den Leser mehr oder weniger geschickt zu manipulieren. - "Alle Poesie, die auf einen Effekt geht [...] ist rhetorisch", meint einmal verächtlich Friedrich Schlegel, dessen kritische Maximen von Reich-Ranicki häufig in Anspruch genommen werden. Damit ist eine Position bezeichnet, die man als Antithese zu der Reich-Ranickis bezeichnen könnte.
Von ihr aus gesehen könnte das Wort Kunstgriff, das Reich- Ranicki so liebt, gar nicht ohne weiteres dazu gebraucht werden, um ein geschickt angewendetes Mittel zu bezeichnen, das um eines bestimmten Ziels oder einer bestimmten Wirkung willen eingesetzt wird.

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So verrät das Wort Einstieg etwas für Reich-Ranickis Kritiken Bezeichnendes: dass jenes angeblich technisch-Professionelle vor allem darin besteht zu wissen, mit Hilfe welcher literarischer Mittel man bestimmte allgemein-verlässliche Wirkungen hervorruft. Sowohl diese Mittel als auch die durch sie verursachten Wirkungen müssen also im grossen und ganzen als bekannt vorausgesetzt werden. Und häufig macht Reich-Ranicki die Geschicklichkeit eines Autors, diese Wirkungen hervorzurufen, zu einem der Kriterien, die sein Urteil über die Qualität von dessen Literatur bestimmen.
In diesem Sinn kommt für Reich-Ranicki Kunst von Können, und dieses Können ist vor allem ein schon Gekonntes, viel weniger eine Fähigkeit, die für den Schriftsteller und den Leser durch das jeweilige Werk selbst erworben werden kann.
Kunst setzt also für Reich-Ranicki Können und Wissen voraus, aber offenbar in einigermassen verdinglichter Form. Dass Kunst von Lernen und Entdecken oder Erfinden kommt, dieser Gedanke liegt ihm leider nicht nur etymologisch fern.

Ein anderes, neues Recht als literarisches Kriterium bekäme Reich-Ranickis Vorstellung von den verfügbaren literarischen Mitteln und den entsprechenden verfügbaren Wirkungen erst dann, wenn diese Verfügbarkeit selbst zu einem Sinn des Texts gemacht würde. Aber Reich-Ranicki will gerade von jenen Texten wenig wissen, deren komplexe Wirkung darauf beruht, dass sie den Sinn des Verfügbaren mit der Frage nach der Verfügbarkeit des Sinns kreuzen und damit einen doppelten Boden herstellen, in dem die Kunstgriffe als Kunstgriffe gleichsam unter Anführungszeichen gesetzt werden; Texten etwa, die mit der angeblichen Natur von Romanen spielen, als wäre diese Natur selbst eine Kunst, misstraut er zutiefst. Nichts ist Reich-Ranicki verdächtiger als ein Schreiben, das sich nicht so aus dem Werkzeugkasten Sprache bedient, dass man es als Leser nicht oder nur wenig bemerkt. Denn würde der Blick auch auf das angebliche Werkzeug fallen und nicht nur auf den angeblich zu bearbeitenden Gegenstand, dann würde der vorausgesetzte Unterschied zwischen dem Bearbeitenden und dem zu Bearbeiteten selbst zu dem Moment einer einzigen Gestalt. Und die Vorstellung, dass die Kunst an der Kunst nur das Gerüst ist, das, wenn das Haus des Sinns fertig gebaut ist, abmontiert werden kann, ohne den ganzen Bau mitzureissen, würde sich als das herausstellen, was sie ist: nicht kunst-gerecht.< br>

Allen diesen Einwänden zum Trotz: vielleicht passt die Vorstellung, dass etwa die Anfänge und Schlüsse von literarischen Texten gemeinsame und wiedererkennbare Eigenschaften haben und so besonders wichtig sind, dennoch auf manche literarische Prosa, vielleicht auch auf die Prosa Herbert Eisenreichs oder Günther Grass'. Aber sie passt doch wohl kaum selbstverständlich auf Literatur überhaupt, wenigstens auf die Werke nicht, deren Anspruch darin besteht, durch die Konstruktion des ganzen Texts zu bestimmen, was und wie da jeweils Anfang sein soll und Schluss: "Aller Anfang ist zufällig".- In diesem berühmten Satz steckt eine ganze Ästhetik, eine Ästhetik, die auf die systematische, oder wie die Romantiker gesagt hätten, organische Entwicklung der einzelnen Momente eines Texts besteht, auf eine auf den jeweiligen einzelnen Text bezogene Bestimmung dessen, was Anfang sein soll oder Schluss; eine Ästhetik also, welche gerade gegen die Verdinglichung bestimmter Momente eines Texts gerichtet ist.

Ich will nun aber keineswegs unterstellen, dass Reich-Ranicki sich literarische Texte als aus vorgefertigten Elementen, aus Versatzstücken zusammengesetzt wünscht. Er selbst würde darin wohl entweder den Hinweis darauf sehen, dass der Text Konfektion sei, und damit zur Trivialliteratur zu zählen, oder aber vielleicht - würde diese Technik deutlich als solche gekennzeichnet und konsequent auf die Spitze getrieben - einen Hinweis darauf, dass der Text sich in die Hände eines ihm unwillkommenen Avantgardismus begebe. Es wird ihm nur nicht deutlich genug, dass das, was er für das gelungene Nachahmen von "Natürlichem" hält oder für das geschickte Naturalisieren des Erzählens, sehr wohl noch viel stärker als aus "Versatzstücken" bestehend empfunden werden kann, als er wissen will. Und so versteht er - ohne sich das selbst hinreichend klarzumachen - unter "Artistik" vor allem die "Kunstgriffe", die angeblich ermöglichen, jene Versatzstücke unmerklich einzusetzen, sie als Versatzstücke zu verbergen.

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Jedenfalls braucht man Reich-Ranickis Vorstellungen von zur Verfügung stehenden Handgriffen und ihren Wirkungen nur ein wenig weitertreiben, um sie als Produktionsstrategie von Trivialromanen zu behaupten. Für solche Romane könnte man mit einigem Recht behaupten: es kommt besonders auf den ersten und den letzten Moment an, in dem die Ware präsentiert wird. So sollte gerade der erste Moment vielleicht besonders fesseln und spannen, um neugierig machen zu können, und der letzte vielleicht lösen und entspannen oder sonst irgendein Bedürfnis nach einer scheinbar endgültigen Befriedigung stillen. Es ist unser aller Übereinkunft, das verborgene Spiel dieser Mechanismen Unterhaltung zu nennen, und Unterhaltung in diesem Sinn ist wahrscheinlich tatsächlich das, was die meisten meistens wünschen. - Man kann vielleicht voraussetzen: Das Publikum will unterhalten werden. Reich-Ranicki spricht häufig von diesem Publikum, und er neigt dazu, von der Literatur zu verlangen, dass sie ihm, seinen Bedürfnissen, entgegenzukommen habe. Er besteht darauf, dass Literatur wenigstens unter anderem die Aufgabe habe, den Wunsch nach Unterhaltung zu befriedigen. Und offenbar soll das der Literatur dadurch gelingen, dass sie es versteht, jene bedingten Rezeptions-Reflexe auszulösen, denen nachzugeben so natürlich zu sein scheint und deshalb auch so angenehm.
Nun wird ja auch Reich-Ranicki zugeben, dass die Literatur alles andere als das geeignete Mittel dafür ist, die Unterhaltungsbedürfnisse von vielen zu befriedigen. Was könnte er also meinen? Doch eigentlich nur, dass der Versuch zu unterhalten, nur dann legitim sein kann, wenn dieses Unterhalten Teil eines Prozesses ist, der mit Unterhaltung nicht gleichgesetzt werden kann. Aber nirgends in Reich-Ranickis Schriften findet sich auch nur die Andeutung einer Reflexion seines Unterhaltungsbegriffs, einer Reflexion, die vielleicht auch dazu führen würde, den in diesem Zusammenhang missverständlichen und missbrauchten Ausdruck Unterhaltung gar nicht zu verwenden und durch geeignetere Ausdrücke zu ersetzen. Hat es mit all dem zu tun, dass man, Reich-Ranickis Rezensionen zeitgenössischer Prosa lesend, sich daran erinnert, wie lange der Roman als literarische Gattung überhaupt nicht ernstgenommen worden ist, wie lange ihm Trivialität, Formlosigkeit usw. vorgeworfen worden ist; dass etwa in Opitz' Buch von der deutschen Poeterey der Roman noch gar nicht erwähnt wird? Wären manche von Reich-Ranickis Kritierien tatsächlich für den modernen Roman massgeblich und gerechtfertigt, dann wäre diese Position geradezu wieder einer ernsthaften Diskussion würdig.

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In einer Rezension von Hermann Kants Roman Das Impressum schreibt Reich-Ranicki: "Er versteht vom Handwerk des Erzählens sehr viel. Wir haben heutzutage [...] nur sehr wenige deutsche Autoren, die ihre Sache so leicht und unterhaltsam vorbringen können und die so souverän mit Pointen und Effekten umzugehen wissen. [...] so ist hier [...] jede Episode solide gearbeitet." Die Geschicklichkeit des Autors besteht also darin, seine Sache angemessen vorzubringen. Wenn er ungeschickt ist, dann bringt er die selbe Sache ungeschickt vor, dann mangelt es ihm eben an Kunstgriffen. Die Mittel des Dichters werden zu Mitteln, jene Sache darzustellen. Dichtung wird zu einer Form von Rhetorik, zu einer Technik des Überredens oder der Beeinflussung in Hinblick auf eine bestimmte Sache oder ein bestimmtes Anliegen. Die Poetik Reich-Ranickis ist in diesem Sinn pragmatisch. Die Folge davon, dass er diese Pragmatik nicht als solche reflektiert, ja im Gegenteil seinen pragmatischen Standpunkt vor sich oder anderen verbirgt (gerade so wie manche der von ihm geschätzten Autoren ihre Kunstgriffe), ist ein einseitiges und insofern missverständliches Bild von Dichtung, das ihn auch selbst zu Unklarheiten verführt.
So schreibt er über Max Frischs Spätwerk: "Das Alter zwingt zur Ökonomie der Mittel und damit zum Verzicht auf formal Anspruchsvolles oder gar Extravagantes. Die sich viele Jahre als Meister virtuoser Technik bewährt haben, zweifeln an der Nützlichkeit und Notwendigkeit ihrer handwerklichen oder künstlerischen Fertigkeiten."
Warum zwingt das Alter gerade zur Ökonomie der Mittel, warum nicht überhaupt einfach zur Ökonomie? Mit Reich-Ranickis Behauptung ist eigentlich unterstellt: Wenn man alt wird, dann muss man sich auf das Wesentliche konzentrieren, dann fällt der Stuck, das Ornament in Form von komplizierteren Techniken oder eben Kunstgriffen ab. Die Technik, die Mittel sollen also wieder einmal von dem Zweck der Kunst trennbar sein. Der alte Dichter ist ein alter Tischler und baut nur mehr funktionale Tische. Er überredet durch Funktionalität. So als ob nicht nur ohne weiteres vorauszusetzen wäre, dass die Kunst Zwecke hat, sondern auch, dass sie so selbstverständlich bestimmbar sind wie diejenigen von Tischen.
Und wenn jemand an der Nützlichkeit und Notwendigkeit seiner künstlerischen Fertigkeiten zweifelt, und nicht nur an der Notwendigkeit und Nützlichkeit seiner handwerklichen Fertigkeiten, wie kommt es dann, dass er dann überhaupt noch Literatur und, wie Reich-Ranicki behauptet, gute Literatur veröffentlicht? Zudem passt das Wort Fertigkeit eigentlich nur zu handwerklich und nicht auch zu künstlerisch. Ausser man hält das Handwerkliche und das Künstlerische für ein und dasselbe. Dieser sprachliche Lapsus wäre nicht der Rede wert, wäre er nicht symptomatisch. Vielleicht auch um der akustischen Ähnlichkeit willen hat Reich-Ranicki nicht bemerkt, dass er einerseits von handwerklichen Fertigkeiten und andererseits von künstlerischen Fähigkeiten sprechen wollte und spricht damit unfreiwillig aus, worauf er eigentlich aus ist: auf die Natur, das Leben, den Stoff, von der die Kunst, die Form, das Handwerk trennbar sein soll. - Genauso trennbar wie der Schriftsteller von dem zu manipulierenden Leser oder wie auch - ich werde darauf ausführlich zurückkommen - das schreibende Subjekt vom beschriebenen oder ausgedrückten Objekt Welt oder Wirklichkeit. So zieht ein selbstverständlich vorausgesetzter Dualismus zwangsläufig eine Reihe anderer nach sich.

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Reich-Ranicki betont also häufig, dass das Schreiben von Literatur auch ein Handwerk ist. Dementsprechend ist ihm die Literatur vor allem auch ein Gewerbe, sind Schriftsteller Schreiber. Und ist es da nicht nur konsequent, dass er anlässlich einer Rezension eines Werks von Dürrenmatt, der für ihn offenbar ein Autor ist, der die Wirkung seiner Literatur auf seine Leser sorgfältig zu kalkulieren weiss, den Schriftstellern das Marktstudium empfiehlt?: "Sie sollen sich bemühen, das Ihrige unter den auferlegten Bedingungen an den Mann zu bringen." Und er zitiert Dürrenmatt: "Dass der Mensch unterhalten sein will, ist noch immer für den Menschen der stärkste Antrieb, sich mit den Produkten der Schriftstellerei zu beschäftigen. Indem sie den menschlichen Unterhaltungstrieb einkalkulieren, schreiben gerade grosse Schriftsteller oft amüsant, sie verstehen ihr Geschäft."

Als würden nicht ohnehin allzu viele, insbesonders allzu viele Schriftsteller vor allem den Gesetzen des Markts folgen, ob sie diese Gesetze nun tatsächlich studieren oder, weil sie sie verinnerlicht haben, einfach intuitiv erfassen! Unsere ganze Informationswelt überbietet sich in mehr oder weniger trivialen Captatio-Benevolentiae-Strategien. Ist es wirklich die Aufgabe eines Kritikers, gerade in dieses Horn zu blasen? Reich-Ranicki denkt so gerne an das Publikum, er will es vor dem Unzumutbaren schützen. Aber wenn man an das Publikum denkt und es zu seiner Kirche macht, dann sollte man da auch nicht Friedrich Schlegels Wort vergessen, nach dem das Publikum nicht nur Kirche ist, sondern als Kirche auch Postulat.
Reich-Ranicki dagegen erinnert an manche progressiven Kirchenkritiker, die glauben, die armen Gläubigen gegen den moralischen Rigorismus etwa der kirchlichen Lehre mit dem Argument in Schutz nehmen zu müssen, dass jener Rigorismus unzumutbar sei und ausserdem die armen Gläubigen aus der Kirche vertreibe. Und nichts ist einem solchen Kirchenkritiker schwieriger deutlich zu machen, als dass vom Standpunkt etwa der katholischen Morallehre, die ja - und hierin ist sie der Literatur vergleichbar - beansprucht, Erkenntnis zu sein, Gläubige, welchen sie zu rigid erscheint, kein Grund sein können, jene Lehre zu ändern.

Der Neigung zur Verdinglichung bestimmter sprachlicher Mittel, die wie in einem Werkzeugkasten bereitliegen müssen, und dann mehr oder weniger geschickt angewendet werden können - das heisst: auch so, dass man von jenem Werkzeugkasten nur ja nichts bemerkt - entspricht auffällig und häufig auch eine Verdinglichung gewisser Eigenschaften jener, die diese Mittel anwenden. Reich-Ranicki liebt und bewundert sowohl das Talent als auch das Professionelle. So spricht er einerseits von artistischer Formulierungsbegabung, andererseits von Könnern oder Virtuosen und von Routiniers. Diese Bezeichnungen sind keineswegs immer abwertend gemeint, und die arbeits-teiligen, Entfremdung signalisierenden Konnotationen entgehen ihm dabei offensichtlich. (Bezeichnenderweise scheint die Formel artistische Formulierungsbegabung aus einer Art von Amtsdeutsch zu stammen, und widerspricht damit auch gerade dem, was sie zu bezeichnen versucht.)
Man könnte einwenden: Vielleicht hat Reich-Ranicki mit seinen beiden alternativen Bildern vom Schriftsteller in den meisten Fällen recht, vielleicht sind die meisten Schriftsteller vor allem Talente und Professionals, geniale Rennpferde oder gewiefte Produzenten; vielleicht liesse sich ein solcher empirischer Befund erheben. Doch missversteht, ja missbraucht Reich-Ranicki sein Amt als Kritiker nicht, wenn er das Wahrscheinliche zum Massgeblichen, das Häufige zum Notwendigen, das Gewöhnliche zum Vorbildlichen umdeutet? Also tatsächlich einen Kunstgriff gebraucht, der darin besteht, begriffslogische Distinktionen zu verwischen, und somit subkutan zu manipulieren oder zu suggerieren, also Rhetorik zum Schaden möglicher Erkenntnis anzuwenden? Auch steht dieses Bild in merkwürdigem und unreflektiertem Widerspruch zu einem anderen, das Reich-Ranicki bei Gelegenheit dennoch selbstverständlich in Anspruch nimmt: zu dem Bild des Schriftstellers als des Universalisten, als des Experten für alles und jedes, des Experten für das Soziale und das Seelische, ja für die Wirklichkeit insgesamt.

* (Contra Avantgarde)

Das solide Handwerk wird aber von Reich-Ranicki nicht ohne Hintergedanken betont. Es wird etwas anderem, Nicht-Soliden gegenübergestellt, vielleicht gerade dem, was Friedrich Schlegel als das Eigentliche der Poesie verteidigen würde. Jenes Nicht- Solide wird in der Rezension eines Romans von Günther Seuren, in der die handwerklichen Tugenden dieses Autors deren Mangel bei anderen gegenübergestellt werden, so dargestellt:
"Er [Günther Seuren] will weder die Sprache revolutionieren, noch ist er darauf aus, neue Kontinente der Literatur zu entdecken. Er versucht nicht, uns mit ungewöhnlichen Kunstgriffen zu verblüffen und mit Originalität zu imponieren. Anders als die genialischen Wirrköpfe, denen sogar die freundlichsten Kritiker in ihrer Verzweiflung nicht mehr als das angeblich faszinierende Misslingen bescheinigen können, zieht es Seuren vor, sich auf die Mittel zu verlassen, die ihm zur Verfügung stehen, und Fragen aufzugreifen, denen er als Erzähler gewachsen ist." Und pathetisch wird die Literatur von Marie Luise Kaschnitz so gelobt: "In einer Zeit, in der viele Dichter verstummt sind und sich andere auf das weite Gelände zwischen der geheimnisvollen Dunkelheit und der baren Blödelei flüchten, entscheidet sich die Autorin des Buches `Steht noch dahin' für die Klarheit, die Einfachheit, für die harte Forderung des Tages."

Die Gegenüberstellung ist polemisch: Es wird suggeriert, dass jemand, der ungewöhnlich schreibt, versucht, mit ungewöhnlichen Kunstgriffen zu verblüffen und mit Originalität zu imponieren. Nicht nur, dass Reich-Ranicki an dem Wort Kunstgriff festhält, und damit an der selbstverständlichen Trennung zwischen literarischen Mitteln und literarischen Zwecken, scheint er auch zu unterstellen: gewöhnliche Kunstgriffe und Mangel an Originalität sind angemessen und der Qualität zuträglich. Die aber, die ungewöhnliche Kunstgriffe anwenden, sind für ihn wohl auch die, welche sich vermessen, Unmögliches zu begehren, der harten Forderung des Tages nicht gerecht werden und sich in das weite Gelände der geheimnisvollen Dunkelheit und der baren Blödelei flüchten. In einer Rezension über ein Buch von Marie Luise Kaschnitz schreibt er: "Den lieb' ich, der Unmögliches begehrt? Für die Kunst gilt dieses Wort nicht. Es sind eher die Anfänger, die Dilettanten und Pseudokünstler, häufig auch die Halbtalente, die unentwegt das ihnen Unerreichbare anstreben und den Himmel stürmen wollen."

Ach, wie hätte Reich-Ranicki auf die kühnen Begriffsmusiken der Frühromantik, auf die Fragmente der Schlegels und des Novalis reagiert; wie auf die grossartig ausladenden, und so dunklen Satz-Katarakte der Hölderlinschen Hymnen? Hätte er Hölderlin nicht, ähnlich wie Goethe das getan hat, empfohlen, sich zu bescheiden und "kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem einen menschlich interessanten Gegenstand zu wählen"? Wie wäre Reich-Ranicki mit der so aus- und abschweifenden Prosa Jean Pauls umgegangen, die - einigermassen rücksichtslos gegen das Fassungsvermögen der meisten Leser - jedem noch so abliegenden Einfall nachzugehen scheint? Hätte ihm an Kleists Prosa anderes auffallen können als ihre originelle Manier und ihre ungewöhnlichen Kunstgriffe? Was hätte er, als sie zuerst erschienen ist, mit der Prosa Kafkas angefangen oder jener Robert Walsers, in deren Werken alles andere getan wird, als der herkömmlichen Dramaturgie des Romans zu folgen, um in einer Art zweiten, reflektierten Unschuld stets aufs Neue den roten Faden zu verlieren? Nach seiner kritischen Bewertung eines Werks wie Finnegans Wake von James Joyce wagt man gar nicht zu fragen. Hätte er da nicht überall Unsolides konstatiert? Und muss er Raymond Queneaus Stilübungen nicht geradezu verabscheuen? - Diesen Versuch ein einziges Ereignis auf x verschiedene Weisen, in x verschiedenen Schreibweisen darzustellen bzw. die Frage aufzuwerfen, ob es dieses angebliche Ereignis jenseits von Schreibweisen überhaupt gibt, sodass die Kunstgriffe, gewöhnlichere und ungewöhnlichere, und damit auch die Werkzeuge des Werkzeugkastens, eine Hauptsache werden? Und so kommt es nicht von ungefähr, dass in der von ihm initierten Reihe Romane von gestern heute gelesen weder Prosa von Carl Einstein noch von Albert Ehrenstein, noch von Walter Serner zu finden ist. Und so kommt es auch, dass in Reich- Ranickis Aufzählung dessen, was zwischen 1918 und 1933 an Lyrik erschienen ist, weder Hans Arp genannt werden, noch Hugo Ball, noch wiederum Carl Einstein, noch Kurt Schwitters, noch Otto Nebel usw., usw. Und findet man deshalb in seinen Kritiken nirgends die Folgen eines so epochalen Werks wie Albert Paris Güterslohs Sonne und Mond (eines tatsächlich legitimen Erben Jean Pauls) oder auch der Literatur Gertrude Steins? Steckt hinter all dem nicht ein Mangel an Traditionsbewusstsein, werden da bestimmte Traditionen nicht einfach totgeschwiegen, wird sich mit ihnen nicht möglichst wenig auseinandergesetzt, weil man weder diese Traditionen selbst liebt, noch auch diejenigen, die sich auf sie berufen, die sie fortsetzen?

Und was die Zeitgenossen Reich-Ranickis angeht: nicht nur das Reden über Bäume schliesst das Schweigen über vieles ein, was zu sagen wäre, auch das Reden über Schriftsteller. Wie bezeichnend ist für Reich-Ranickis Begriff von Literatur, wen er nicht rezensiert, wen er auch seit den fünfziger Jahren in seinen Bestandsaufnahmen jeweiliger Gegenwartsliteratur gar nicht erwähnt. Es sind natürlich zumeist jene Dichter, die ungewöhnlich schreiben, deren Abweichungen vom üblichen Sprachgebrauch ein bestimmtes Mass überschreiten. Beschäftigen Reich-Ranicki die Arbeiten der Wiener Gruppe? Weiss er, dass Konrad Bayer Romane geschrieben hat? Kennt er die grossartige Literatur Dieter Roths? Ahnt er etwas davon, was Friederike Mayröcker seit den späten fünfziger Jahren für die deutschsprachige Literatur geleistet hat? Wie kommt es, dass er nie eine Zeile von Ingomar von Kieseritzky rezensiert hat oder von Paul Wühr, Ernst Jandl oder Helmut Heissenbüttel?

Nun, Reich-Ranicki mag behaupten - das ist sein gutes Recht als Kritiker -, dass keiner der Namen, die hier aufgezählt werden, einer kritischen Auseinandersetzung wert sei, dass keiner von ihnen die Qualität der Dichter vergangener Epochen beanspruchen könne, auf deren Traditionen ihre Werke sich doch beziehen lassen. Aber wenn Reich-Ranicki für diese Traditionen, für diese Begriffe von Literatur schon keine Beispiele finden will: wäre es nicht seine gute Pflicht als Kritiker, eine solche Literatur zu vermissen? Und hätte er also die, seiner Ansicht nach nicht hinreichend geglückten Versuche in ihre Richtung, nicht in Hinblick auf eine Vision ihres Gelingens hin zu kritisieren? Auch eine negative kritische Auseinandersetzung mit Schriftstellern wie den zitierten wäre schon mehr als ihr Verschweigen. Auch Novalis' berühmter Verriss von Goethes Wilhelm Meister ist erhellend, auch wenn man nicht seiner Ansicht ist. Und wie interessant auch eine möglicherweise negative, aber genaue Auseinandersetzung Reich-Ranickis mit einer solchen Literatur sein könnte, beweist gerade das einzige Beispiel für eine solche Auseinandersetzung: sein Aufsatz Arno Schmidts Werk oder Eine Selfmadeworld in Halbtrauer.

Meine Aufzählung soll andeuten: Reich-Ranicki misstraut allen Formen der Literatur, die gegen den üblichen Sprachgebrauch um mehr als ein bestimmtes Mass verstossen. Man könnte sagen: er misstraut all dem, was in der Literaturgeschichte als Manierismus bezeichnet wird, wenn man zugibt, das auch das, was man häufig als Modernismus oder Avantgarde bezeichnet, als Fortsetzung der Traditionen des Manierismus angesehen werden kann.
Und Reich-Ranicki versagt gegenüber jenen "manieristischen" Traditionen nicht nur insofern, als er die Werke, die man da nennen könnte, nicht rezensiert, sondern auch insofern, als er, wenn er überhaupt von solcher Literatur spricht, häufig ein stereotypes Beschimpfungsvokabular anwendet, deutlich unter seinem sonstigen Niveau. Statt sich mit einzelnen Werken oder Autoren auseinanderzusetzen, ist da immer nur summarisch und abwertend von der Avantgarde die Rede, von ihrem "Artifiziellen" und "Esoterischen", niemals erfährt man, ob sich die verabscheuungswürdigen "Avantgardisten von Beruf", in ihren "modischen Attitüden", ihrer "literarischen Unfähigkeit" von anderen positiveren, avantgardistischen Beispielen unterscheiden. In einem Aufsatz über das positive, nicht- avantgardistische Gegenbeispiel Günter Kunert gerät dieses Beschimpfen in gefährliche Nähe zum populistischen Appell gegen die moderne Kunst: "Der Schriftsteller, wird uns immer wieder zu verstehen gegeben, könne entweder die sichtbare und greifbare Welt registrieren und beschreiben oder aber nur noch vor sich hin blödeln und die Sprache aus sich herausblubbern lassen. Dokument oder Kalauer, Inventur oder Blödelei - das sei, sollen wir glauben, die einzige Alternative, vor der die Literatur steht. Während uns jedoch die einen mit stumpfsinnigen Aufzählungen langweilen und andere impertinent und schamlos genug sind, ihren Wortbrei als Kunst zu deklarieren, während uns als Höhepunkte der Prosa allen Ernstes unbedruckte Seiten geboten werden, während Autoren ihre Bücher mit Aktphotos (unter besonderer Berücksichtigung der Genitalien) schmücken, büsst die fundamentale Frage, wie sich in unserer Zeit von unserer Zeit erzählen lässt, nichts von ihrer Dringlichkeit und Aktualität ein."

Man wüsste so gerne, an welche Schriftsteller oder Werke Reich-Ranicki denkt, wenn er solche Verwünschungen ausstösst. Meint er Heissenbüttel, die Wiener Gruppe, Kieseritzky, Franz Mon? Oder sind das gerade die glaubhaften Avantgardisten, die durch die bösen Epigonen, von denen er eigentlich spricht, diskreditiert werden? Aber warum gibt es dann nicht ähnliche Ausfälle gegen die zahllosen Epigonen des realistischen und psychologischen Romans des neunzehnten Jahrhunderts? Man wüsste auch so gerne, was er etwa mit dem Schimpfwort esoterisch meint. Dass diese Schrifsteller so ziemlich ungelesen bleiben, oder dass sie so schreiben, dass es gewisser Bildungsvoraussetzungen bedürfte, sie verstehen zu können? Meint er das letztere, dann würde er Arno Schmidt zurecht esoterisch nennen, doch Helmut Heissenbüttel oder Franz Mon, aber auch die meisten Texte der Wiener Gruppe zumeist zu Unrecht. Oder meint er einfach: Im Vergleich zur üblichen sprachlichen Kommunikation beanspruchen die inkriminierten Autoren zu viel Leseanstrengung?

Ich habe den Verdacht, Reich-Ranickis Kriterien für die Beurteilung von Literatur sind auch Symptom für unser aller Bequemlichkeit; für unsere Unfähigkeit oder Unwilligkeit, uns mit Texten zu befassen, die man entziffern muss. Nicht weil sie ein Bildungs-Wissen vorausetzen, das wir nicht teilen, sondern weil sie uns zwingen, auf eine Weise zu lesen, an die wir nicht gewöhnt sind, weil sie uns zwingen, unvorhergesehene Möglichkeiten des Lesens zu entfalten. Nichts scheint uns heute weniger verständlich als die Begeisterung Friedrich Schlegels, wenn er schreibt: "Ja diese künstlich geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie, der selbst in den kleinsten Gliedern des Ganzen lebt, scheinen mir schon selbst eine indirekte Mythologie zu sein. Die Organisiation ist dieselbe und gewiss ist die Arabeske die älteste und ursprüngliche Form der menschlichen Fantasie." Und der Tatsache zum Trotz, dass er sich auf Friedrich Schlegel häufig beruft, kann Reich-Ranicki deshalb auch nichts weniger unverständlich sein als dessen Unterscheidung zwischen der romantischen, eigentlichen Poesie und der bloss modernen, die für Schlegel die prosaische des Realismus war. Den von ihm verspotteten realistischen Romanen stellt er Tristram Shandy, Jaques le Fatalist und die Romane Jean Pauls gegenüber.

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Vielleicht also kann das, was Reich-Ranickis Polemik gegen den Manierismus zugrunde liegt, auch als ein alter Hut begriffen werden, den er trägt, ohne es zu bemerken, oder wenigstens, ohne darauf hinzuweisen.
Denn in mancherlei Beziehung erinnert seine Haltung an Goethes Ablehnung des Romantischen, wie er sie in seinem Gespräch über das Antike und das Romantische aus dem Jahre 1808 entwickelt. Goethe charakterisiert da das Romantische, das er auch das Moderne nennt, ganz ähnlich wie Reich-Ranicki die Avantgardisten. Nur stellt er seinem Feindbild des Romantischen nicht wie Reich-Ranicki einen unbestimmten Realismus entgegen, sondern das Antike, das aber auch bestimmte Züge einer realistischen Ästhetik zu haben scheint. Wenn Goethe schreibt: "Das Romantische ist kein Natürliches, Ursprüngliches, sondern ein Gemachtes, ein Gesuchtes, Gesteigertes, Übertriebenes, Bizarres, bis ins Fratzenhafte und Karikaturartige. [...] das Antike ist noch bedingt (wahrscheinlich, menschlich), das Moderne willkürlich, unmöglich."; oder: "Das Antike ist nüchtern, modest, gemässigt, das Moderne ganz zügellos, betrunken. Das Antike erscheint nur ein idealisiertes Reales, ein mit Grossheit (Stil) behandeltes Reales; das Romantische ein Unwirkliches, Unmögliches, dem durch die Phantasie nur ein Schein des Wirklichen gegeben wird.", - dann ist die Übereinstimmung zum Teil wörtlich. Das Natürliche, Ursprüngliche und Reale kann man bei Reich-Ranicki finden, auf der anderen Seite auch das Gemachte und das Willkürliche. Nur: Goethe hat, seinen expliziten Polemiken zum Trotz, bekanntlich diese Züge der Romantik tatsächlich in sein Werk integriert, er hat über die künstlerische Kraft verfügt, die romantische Herausforderung anzunehmen: ob in den somnabul-phantastischen Aspekten der Wahlverwandschaften oder auch in vielfach fragmentierten Form von Wilhelm Meisters Wanderjahren oder in beiden Teilen des Faust. Wenn Reich-Ranickis Kampf gegen den von ihm so genannten Pseudoavantgardismus auch vorgeschoben ist, wenn es auch ein alter Kampf ist, der da ausgefochten werden soll, dann muss man Reich-Ranicki vorwerfen, dass er, anders als Goethe, diesen Kampf nicht tatsächlich austrägt; das heisst er ist nicht im Stande, die Möglichkeit einer anderen Literatur, ernsthaft zu verarbeiten, ihre Voraussetzungen, ihre Konsequenzen kritisch mitzubedenken. Und es mag damit zusammenhängen, dass der sonst so unverblümte Reich-Ranicki hier eine offene und differenzierte Auseinandersetzung scheut. Sollte aber sein Kritiker-Gewissen nicht von ihm verlangen, dass er sie leiste; und auch auf die Gefahr hin, dass sie für seine eigenen Ansichten riskant sein könnte?

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Reich-Ranickis unspezifischer und unreflektierter Zorn zusammen mit seinem Unwillen oder seiner Unfähigkeit, sich offen und genau mit den entsprechenden Werken auseinanderzusetzen, führt sogar so weit, dass er seine Lobrede auf das Werk Dürrenmatts dazu benützt, die Avantgardisten zu schelten und dabei ein Wort Dürrenmatts zu benützen, das, wenn das Zitat nicht täuscht, auch nicht gerade auf eine differenzierte Auseinandersetzung mit den inkriminierten Phänomenen schliessen lässt: "Und weil das artistische Element - dazu gehört auch seine Freude an Pointen und Überraschungseffekten - bei Dürrenmatt so gegenwärtig und intensiv ist, hat er für jene Textbastler, die unverfroren genug sind, sich Avantgardisten zu nennen, nur ein höhnisches Lächeln übrig: `Viele schreiben nicht mehr, sondern treiben Stil.' Und: `Wer Stil treibt, vertreibt sich nur die Zeit.'"
Es gehört zu dieser leerlaufenden und manipulativen Rhetorik, dass Dürrenmatt gerade durch etwas gelobt werden soll, das dem unbestimmt ähnlich zu sein scheint, durch das sonst die Werke der Avantgardisten beschrieben werden: nämlich durch das Artistische. Denn dieses Artistische, das leere Kunststück, die Form ohne Inhalt, das vielleicht geschickte, aber oberflächliche Spiel (zum Beispiel Wort- oder Sprachspiel), wird ja gerade den Avantgardisten vorgeworfen. Also unterscheidet Reich-Ranicki, und vielleicht auch Dürrenmatt, zwischen einer gerechtfertigten und einer ungerechtfertigen Artistik, ohne dass die Unterschiede zwischen diesen beiden Formen von Artistik auch nur ansatzweise explizit würden.
Man kann nur ahnen, dass diese Artistik sich von jener der Avantgarde dadurch vorteilhaft unterscheidet, dass sie - etwa in Form von Pointen oder Überraschungseffekten - eher angewandten, eben pragmatischen Charakter hat; es scheint sich um eine Artistik im Dienst einer Sache zu handeln, wahrscheinlich um eine Reihe von Kunstgriffen, die von einem Autor wie Dürrenmatt offenbar am rechten Ort und zur rechten Zeit eingesetzt werden. Für diese Deutung spricht auch, dass Reich-Ranicki einen anderen Schweizer Schriftsteller so lobt: "Frisch verblüfft mit neuen formalen Lösungen, die sich von vielem, was heute in der Literatur versucht wird, dadurch unterscheiden, dass sie brauchbar und zweckmässig und sehr ergiebig sind."

Es ist auch wohl nur die brauchbare oder zweckmässige Artistik, die für Reich-Ranicki in ihr eigenes Gegenteil, in das "Natürliche" umschlagen kann. Wie unreflektiert und leichtsinnig Reich-Ranicki an der Identität seines Begriffs von Artistik und Natürlichkeit festhält, wie wenig er sie als ein Moment einer Interpretation durchdenkt, zeigt sich in den zahllosen oberflächlich paradoxen Formeln in seinen Kritiken. So schreibt er in einem Aufsatz über Günter Grass' Lyrik: "Dabei erweist sich, dass artistischer Kalkül und rigorose Selbstbeherrschung die Lebendigkeit und Natürlichkeit des Ausdrucks nicht gefährden." Und über Dürrenmatt heisst ganz ähnlich: "Diese Naivität befindet sich jedoch, mag das auch paradox klingen, in unmittelbarer Nachbarschaft nüchternster Raffiniertheit. Dürrenmatt hört niemals auf, ein exakt kalkulierender Artist zu sein." Diese so häufigen coincidentia oppositorum bleiben bei Reich-Ranicki reine Behauptung, kritisch ganz unentfaltete Interjection, und deshalb Ausdruck eines Lobs, das leer bleibt. Abgesehen davon, dass es ein Lob ist, in dem Reich-Ranickis Polemik gegen die Avantgarde durchklingt, gegen das, was er als nichts als Artistik denunziert - als das somit, was jene coincidentia oppositorum nicht erreichen kann.

Ich fürchte, Peter von Matt hat mit dem Verdacht, den er in einem Gespräch mit Reich-Ranicki äussert, recht. Er vergleicht den Kritiker Reich-Ranicki mit dem Botaniker Goethe: "Er hat mit Begeisterung vom Blatt geredet, vom Stempel geredet, von der Knospe, von der Blüte, vom Samen, er hat das alles studiert, unermüdlich sein Leben lang, aber er hat gesagt, von den Wurzeln will ich nichts wissen. Die interessieren mich nicht, das ist finster dort unten, das ist verworren, das ist dummes Zeug, damit will ich mich nicht befassen. Ist es nicht auch ein bisschen so mit Marcel Reich-Ranicki, dass er von der dezidiert schwierigen Literatur aus ähnlich spontanen, unmittelbar emotionalen Gründen einfach weniger wissen will und das dann auch in die Urteile direkt oder indirekt einsickern lässt?" Natürlich widerspricht Reich-Ranicki heftig, und zählt eine Reihe von Autoren als Gegenbeispiele auf, mit denen er sich kritisch auseinandergesetzt hat: Die Lyrik von Sarah Kirsch, die Prosa Thomas Bernhards und Hermann Burgers und bemerkt nicht, dass man diese Aufzählung sehr gut als Bestätigung für Peter von Matts Verdacht ansehen kann! Um das zu verdeutlichen, worauf Peter von Matt hinauswill, kann man wiederum Friedrich Schlegel zitieren: "Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen". Mag jenes Chaos auch in der Literatur nur eine andere Ordnung oder Unordnung sein als die gewohnte: Reich-Ranicki wünscht sich eben eine Literatur der kleinen Schritte, als Reaktion auf den Pseudo-Avantgardismus. Er wünscht sich "vernünftige Sachlichkeit, vorsichtig-diskrete Psychologie", einen "bescheidenen und offenen Realismus, zurückhaltende Gesellschaftskritik, einsichtige Selbstbeschränkung" und fügt hinzu: "Das sind wohl einige Merkmale dieser so notwendigen Gegenströmung, der wir vielleicht keine kühnen Würfe verdanken werden, doch immerhin nennenswerte Versuche." Einmal abgesehen davon, dass man sich so wünschen würde, die Geister des Avantgardismus von jenen des Pseudoavantgardismus geschieden zu sehen: Die Eigenschaften, die sich Reich-Ranicki von der Literatur wünscht, bezeichnen doch ohnehin den grössten Teil der deutschen Literatur seit 1945! Da werden doch wirklich offene Türen eingerannt! Und eigentlich deshalb, weil man die eigenen Vorlieben, die ohnehin mit denjenigen der meisten Schriftsteller, Kritiker und Leser konvergieren, als etwas hinzustellen sucht, das man tapfer verteidigen müsste.

Aber Reich-Ranicki ist nicht so ungeschickt oder unvorsichtig, wenn man ihn direkt danach fragt, die sogenannten Avantgardisten einfach abzulehnen, ihnen wird auch ein Platz, oder eher ein Plätzchen zugesprochen, sie sind auch eine kleine Welle auf dem grossen Strom der deutschen Literatur: "Gerhard Rühm und Oswald Wiener und die Grazer Gruppe. Ich weiss schon, das sind dringend nötige, wichtige Erscheinungen der Gegenwartsliteratur. Aber so viel ist daraus nicht geworden, glaube ich..."
Die angeblichen Extremisten und angeblich Experimentierenden sind für ihn also bestenfalls ein notwendiges Ferment, übernehmen einen Part, der dann zu den entscheidenden Werken beiträgt. Wenn daran etwas Wahres sein soll, dann gälte das gleiche auch für die, die innerhalb erprobter Verfahren verbleiben, für die nicht Extremen, nicht Experimentierenden.

Wie charaktistisch ausserdem, dass Reich-Ranicki, auf das Werk dieser "Avantgardisten" angesprochen, behauptet, dass daraus nicht viel geworden sei. Dass etwa von den Mitgliedern der Wiener Gruppe ernstzunehmende Werke vorliegen, die alle denkbare literaturgeschichtliche Rechtfertigung in sich selbst tragen, wird einfach übergangen. Der Werkbegriff, auf dem in anderen Fällen so sehr bestanden wird, wird dann plötzlich verlassen, wenn die Werke, die zu rezipieren wären, das Gesamtbild, die literarische Weltanschauung Reich-Ranickis durcheinanderbringen könnten und damit das Schreiben seiner Literaturgeschichte. Und so fällt auch die damit zusammenhängende Frage unter den Tisch, ob eine Literatur wie die der Wiener Gruppe nicht auch die Literatur und den Literaturbegriff von Schriftstellern wie Böll, Grass und Walser entschieden relativiert und in Frage stellt.

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Reich-Ranickis Misstrauen gegen den literarischen Manierismus, besonders in seinen zeitgenössischen modernistischen oder avantgardistischen Formen, ist also nicht kritisch, sondern masslos. Es ist in der Form, in der er es äussert, nicht gerechtfertigt. Das alles wird aber dadurch verschleiert, dass er, wenn er einmal (zumeist in polemischen Nebenbemerkungen) zeitgenössische Autoren für ihren exzentrischen Sprachgebrauch kritisiert, häufig noch recht hat, ja das seine so allgemeinen, und auch undifferenzierten Angriffe tatsächlich vieles oder viele treffen könnten.
Denn die meisten Versuche, die Konventionen des allgemein üblichen Satzbaus, der allgemein üblichen Sinn-Gewohnheiten zu verlassen, sind keineswegs ermutigend. Allzuhäufig drücken die Resultate solcher Versuche, eher den dummen Stolz von Autoren aus, etwas Ungewöhnliches zu tun, ihre bewusstlose Begeisterung an dem, was sie sich offenbar als ihre Kühnheit, als ihren Mut gutschreiben, und was doch nur ungezügelte Assoziationswut ist: die Not des Assoziativen als angebliche Tugend eines befreiten Subjekts, die Not der literarischen Montage oder Collage als Tugend befreiter Objektivität, oder die Not der gedankenlosen Buchstabenverliebtheit als Tugend entfesselten sinnlichen Überschschwangs. Und wie häufig und leichtsinnig berufen sich die Schriftsteller dabei darauf, Gewohnheiten zu brechen, ohne zu bemerken, dass ihre Lust an der Irritation längst erwartbar und abgekartet wirkt; sie verlassen sich auf oberflächliche "Unverständlichkeit", stilisieren den Zufall zum schöpferischen Prinzip und leugnen oder Unterschätzen das Moment des Systematischen wie des Intentionalen; damit zusammenhängend wird der Text zu einem Fetisch, auf ihn werden Eigenschaften des Subjekts übertragen, von ihm wird behauptet, dass er angeblich von selbst die richtigen künstlerischen Entscheidungen fällt; dabei wird häufig eine falsche Einschätzung der Satzgrammatik deutlich, deren formende Kräfte über die angeblichen Verstösse hinweg, notorisch unterschätzt werden; zugleich wird, aber vor allem wurde, seltsam-kurzschlüssig, und im Widerspruch zu vielen eigenen Reflexionen, im Sinne einer naiven Widerspiegelungsästhetik, Gesellschaftskritik oder sogar gesellschaftliche Umwälzung qua revolutionärem Sprachgebrauch bzw. angeblicher Zerstörung von hierarchischen sprachlichen Strukturen in Anspruch genommen. (Selbst Helmut Heissenbüttels ansonsten so überlegene Reflexionen zur Literatur aus den sechziger Jahren sind von diesen Kurz-Schlüssen nicht frei, wenn er soziale Utopien auf die Grammatik projiziert und behauptet, dass die Subjekt-Objekt Grammatik irgendwie moralisch verwerflich sei.)
Ein gutes Beispiel für das meist trübe Ineinanderfliessen von Textdeutung und Weltverbesserung ist der ungeheure Wert, dem man in der Geschichtsschreibung des Modernismus jenen Verfahren zugesprochen hat und auch noch zuspricht, die geeignet sind, Vieldeutigkeit zu erzeugen. Vieldeutigkeit wird da zur Offenheit ("Das offene Kunstwerk"), Offenheit zur Pluralität, Pluralität zum Pluralismus, Pluralismus zum Demokratischen, Demokratisches zum Nicht-Hierarchischen, das Nicht-Hierarchische wieder zur Vieldeutigkeit, und so dreht sich das Rad pseudo-deskriptiver Begriffe, unbewusster Übertragungen. Die Mehrdeutigkeit von Textabschnitten, bestenfalls eine literarische Technik und eine, die es immer gegeben hat, wird zu einer Grundlage der Moderne aufgemotzt.
Vieldeutigkeit wird da mit der umfassenderen Unerschöpflichkeit von Deutungen verwechselt. Eine nach den üblichen Begriffen vorstellbare Wirklichkeit kann, wie zum Beispiel in einem realistischen Roman, geschlossen entwickelt werden und sich dann als Ganzes allen möglichen Deutungen anbieten. Oder sind Tolstois oder Balzacs Romane, aber auch Shakespeares Dramen, Homers Epen oder Sophokles' Tragödien denn nicht in diesem Sinn unerschöpflich, und sind sie deshalb durchwegs vieldeutig in jenem engeren Sinn, dass einzelne Textabschnitte oder ihr Zusammenhang mehrere Deutungen erlauben? Und sind, umgekehrt, vieldeutige Texte notwendig in jenem Sinn unerschöpflich?

Dazu kommt häufig auch die Leere und falsche Allgemeinheit des räsonierenden literarischen Selbstzweifels, das theoretisierende Sich-Beziehen auf die eigenen Schreibverfahren, der sterile, nämlich betulich explizite Zweifel an der Möglichkeit, mit Hilfe der Sprache zu benennen oder auszudrücken, der noch dazu häufig konsequenzlos selbstwidersprüchlich ist, insofern er dieses Zweifeln an der Möglichkeit zu benennen, so benennt, als ob es dieses Zweifeln gar nicht gäbe.

Kurzum: man hat einerseits seine eigenen Revolutionen häufig stark übertrieben, hat sie andererseits nur selten konsequent verfolgt, sie zumeist nur unzulänglich reflektiert; man hat Verstösse, die häufig ganz oberflächliche Wirkungen gehabt haben, zu Heldentaten stilisiert, und geglaubt, das ganze Gebäude der Literatur, ja der allgemein üblichen Sprache zu erschüttern; man hat mit seiner eigenen Kritik aber häufig dort haltgemacht, wo sie das Ende der eigenen Produktion bedeutet hätte, und ist, um jene Selbst-Widerlegung zu verschleiern, dafür häufig in unreflektiertes Pathos verfallen. Ob nun als Dadaist oder Expressionist zwischen 1914 und 1925 oder als Verfasser "experimenteller Literatur" in den fünfziger und sechziger Jahren. Die Folge: Man hat es nicht vermocht, die eigenen Schreibweisen hinreichend auf Traditionen zurückzubeziehen und hat sie daher allzu ostentativ und überdeutlich als eigenen Wert zu entwickeln versucht. In diesem Sinn hat es so manchen Protagonisten der Avantgarde an Taktgefühl gefehlt, an Behutsamkeit und an literaturgeschichtlichem Zeitgefühl.

Entsprechend trostlos-stereotyp sind auch die germanistischen und literaturkritischen Klischees zu dieser, wohl vor allem von ihr so bezeichneten, "experimentellen Literatur". Sie besteht hauptsächlich aus ohnmächtigen negativen Definitionen, die Irritation von Konventionen als Ziel angeben. Oder sie behauptet Sprachkritik, unterstellt diesbezügliche didaktische Absichten, oder beruft sich auf die sehr anspruchslosen Vorstellungen einer lustig-sinnlichen Sprachvöllerei, eines pausbackig-lustigen Postdadaismus, von dem behauptet wird, er habe heilsame Wirkung, würde entfremdenden Sprachgebrauch auflösen. Alles das zusammen bietet häufig das Bild fruchtloser Sektiererei, aus einseitiger Literatur, der entsprechenden Literaturgeschichtsschreibung und auch der entsprechenden ästhetischen Reflexion zusammengesetzt. Und es mangelt den meisten Beispielen für diese Haltung gerade an dem, woran es auch jener Literatur mangelt, von der sich jene Sekte abzuheben sucht: an der Kraft, die eigene Haltung, die eigenen Voraussetzungen anderen, widersprechenden innerhalb eines literarischen Werks auszusetzen; an der Kraft, ernsthaft aufs Ganze zu gehen.
Man kann also Reich-Ranickis Polemiken durchaus verstehen, wenn er sich gegen den manchmal spürbaren Utopismus, Fanatismus, Mystizismus, den Mangel an Distanz und Ironie mancher Vertreter des Avantgardismus wendet. Es gibt da eine Tradition eines berserkerhaften, fanatischen Modernismus, eine Tradition des Abbrechens von Traditionen, so widersinnig das klingen mag.

Nein, ich hätte nichts gegen Reich-Ranickis Traditionalismus, ich hätte nicht einmal unter allen Umständen etwas gegen seine offenbare Bevorzugung gewissser traditioneller Formen des Erzählens, ich hätte auch nichts gegen seinen Überdruss an all den Epigonen des Nouveau Roman, gegen seinen Protest gegen dessen essayistische Apologeten, die generalisierend von der Unmöglichkeit sprechen, der Epoche, in der wir leben, mit den Mitteln des (also einer Form des) traditionellen Romans beizukommen: ich hätte gegen all das nichts, wenn es nicht so blind gegen seine Antithesen wäre; wenn sich Reich-Ranicki über die Einseitigkeit seines Traditionalismus aufklären würde und damit seine Prämissen bzw. seine Vorlieben und Abneigungen fruchtbarer machte.

Nicht einmal Reich-Ranickis Verteidigung des Handwerklichen, des solid Professionellen, des Schreibens auf Kosten des Dichtens ist unverständlich. Denn tatsächlich gibt es in der Tradition des Modernismus eine starke Tendenz, das Handwerkliche zu denunzieren, im Zusammenhang mit jener Tradition der Traditionslosigkeit, einen unreflektierten Affekt etwa gegen das Akademische, oder auch gegen das Wiederholbare und Tradierbare. Offenbar werden da Handwerk, Konvention, das Konservative und Epigonale in einem negativ besetzten Zusammenhang gesehen. Ein negativer Begriffszirkel, der sich häufig einigermassen selbstständig gemacht hat, und sich blindlings gegen jenen dreht, der die positiv besetzten Gegenbegriffe, wie Innovation, Revolution, Originalität usw. enthält. Mit diesen automatischen Wertungen wird aber häufig auch die Unfähigkeit in Kauf genommen, Dilettantisches als Nicht-Gekonntes von dem substantiell Neuen zu unterscheiden; das beginnt mit Äusserlichkeiten, etwa einer durch keine sachlichen Gründe gerechtfertigten Kleinschreibung, setzt sich mit leichtsinnigen, nämlich unbedachten und konsequenzlosen Verstössen gegen die Regeln für den Gebrauch von Satzzeichen fort, um als unmerklich dekoratives Design für die imaginäre Ware Avantgardismus zu enden.
In den Künsten, und natürlich auch in der Literatur sind wenige dazu auserwählt, die Architektur ihres Gebäudes wesentlich zu verändern. Mit höchsten Ansprüchen gemessen darf kaum jemand poetische Lizenz dafür beanspruchen, gegen die übliche Sprache oder gegen tradierte literarische Konventionen wesentlich zu verstossen, also eine - relativ - neue Sprache bzw. neue Traditionen zu schaffen. Die meisten Verstösse erweisen sich früher oder später als wenig tragfähig.
Aber Reich-Ranicki wird seinem kritischen Amt insofern nicht gerecht, ist insofern ungerecht, als sein Misstrauen gegen jene, die gegen den üblichen Sprachgebrauch, gegen bestimmte literarische Traditionen um weniger als ein gewisses Mass verstossen, so viel geringer ist. Denn wenn es wahr ist, dass wenige dazu auserwählt sind, Sprache und Literatur wesentlich zu verändern, dann ist es auch wahr, dass ebenso wenige dazu auserwählt sind, sie in den Werken, die sie verfassen, scheinbar so zu belassen, wie sie ist. Vielleicht ist genauso viel Kraft dazu nötig, überlieferte ästhetische Konventionen ohne Schaden für die Literatur zu gebrauchen, wie dazu, gegen sie zu verstossen. Doch das sieht Reich-Ranicki viel weniger gut ein; er sieht die Kehrseite eines vom Zaum gebrochenen Verstossens gegen die üblichen sprachlichen Regeln so viel schlechter; er sieht so wenig von der braven, biederen Angepasstheit der meisten Literatur, häufig auch jener, die er ausführlich rezensiert und lobt; er gibt sich so leicht mit der falschen Vorspiegelung von Tradition zufrieden (etwa in seiner für mich unveständlich positiven Kritik von Günter Grass' Das Treffen in Telge), er hat zu viel Respekt vor dem Gebrauch des längst Erprobten, auch dort, wo es nicht mehr Kunst, sondern nur mehr Kunsthandwerk bezeugt, er ist zu leicht mit der x-ten Variante eines erprobten Musters einverstanden, wenn es nur souverän und dennoch natürlich benützt wird.

Das alles kann man als Folge davon ansehen, dass - ähnlich wie in der Musik - der Modernismus von den meisten Schriftstellern und Lesern, ja vielleicht von uns allen, und eben auch von Reich-Ranicki niemals richtig verstanden und verarbeitet worden ist. Triviale Rückbesinnungen, die eigentlich Regressionen sind, werden mit bedeutender Literatur verwechselt, genauso wie harmlose Verstösse oder oberflächliche Neuerungen für tiefsinnige Revolutionen ausgegeben. Das eine Missverständnis ist die Kehrseite des anderen und die ganze Medaille fast niemals und nirgends in Sicht.


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