© by Franz Josef Czernin
Reich-Ranickis Rezension von Günter Grass' Roman Hundejahre
beginnt mit diesem Satz: "Natürlich weiss ein so exakt
arbeitender Schriftsteller, ein so sorgfältig kalkulierender
Artist wie Günter Grass, welch ausserordentliche Bedeutung
gerade dem Einstieg zukommt - den ersten Zeilen eines Romans
oder einer Erzählung."
Ein Satz, der Vertrautheit mit dem Metier des Schriftstellers zu
signalisieren versucht; ein Satz aber auch, der dieses Signal
von Vertrautheit ein wenig übertreibt, es etwas zu dick
aufträgt. - Statt der umständlichen Formel welch
ausserordentliche Bedeutung gerade dem Einstieg zukommt, hätte
es ja gereicht zu schreiben: wie wichtig die ersten Zeilen eines
Romans oder einer Erzählung sind. Einstieg - klingt das in
diesem Zusammenhang nicht etwas zu technisch, zu sehr nach
etwas, das sich handwerklich normieren liesse, nach etwas, das
durch einen wiederholbaren und verfügbaren Griff herzustellen
sei?
Aber selbst wenn Reich-Ranicki nicht vom Einstieg redet, sondern
von Anfängen und Schlüssen: Um Anfänge oder Schlüsse
herzustellen, scheint es eine Reihe von verfügbaren Techniken zu
geben, die von dem Text, zu dem sie jeweils gehören, abtrennbare
Eigenschaften besitzen, das heisst relativ unabhängig vom Rest
des Texts wirken und kritisch beurteilt werden können. Von
Herbert Eisenreichs Prosa etwa heisst es bei Reich-Ranicki, dass
ihre "Anfänge oft grossartig sind", ihre "Schlüsse fast immer
entbehrlich."
Die ausserordentliche Bedeutung des Anfangs oder Einstiegs eines
Texts, aber auch seines Endes, besteht nun nach Reich-Ranicki
darin, dass er eine besonders günstige Gelegenheit bietet,
entscheidend auf den Leser einzuwirken. Bestimmte Techniken wie
eben manche des Ein- oder Ausstiegs bewähren sich durch ihre
eprobten Wirkungen. Ein literarischer Text hat für
Reich-Ranicki, wie er es manchmal ausdrückt, aus wirkungsvollen
Szenen zu bestehen.
Der Schriftsteller, der exakt, sorgfältig und kalkuliert
arbeitet, kennt diese Wirkungen. Er weiss zum Beispiel, wie man
Einstiege oder Schlüsse herstellt, und wohl noch vieles andere;
er hat das entsprechende know how. Ein Roman oder eine Erzählung
erscheint dann als eine Vorrichtung, die aus mehr oder weniger
geschickt angewandten Techniken der Überredung besteht. Diese
Techniken müssen, wie etwa die Griffe guter Ringer, sitzen, um
den Leser zu überwältigen.
All das impliziert, dass für Reich-Ranicki das Verhältnis
zwischen bestimmten literarischen Techniken und den Reaktionen
der, auf sie offenbar abzurichtenden oder abgerichteten, Leser
positiv ist. Er behauptet selbstverständlich eine
Komplizenschaft zwischen Autor und Leser, in der aber der Autor
seine literarischen Techniken anwendet, um den Leser mehr oder
weniger geschickt zu manipulieren.
- "Alle Poesie, die auf einen Effekt geht [...] ist rhetorisch",
meint einmal verächtlich Friedrich Schlegel, dessen kritische
Maximen von Reich-Ranicki häufig in Anspruch genommen werden.
Damit ist eine Position bezeichnet, die man als Antithese zu der
Reich-Ranickis bezeichnen könnte.
Von ihr aus gesehen könnte das Wort Kunstgriff, das Reich-
Ranicki so liebt, gar nicht ohne weiteres dazu gebraucht werden,
um ein geschickt angewendetes Mittel zu bezeichnen, das
um eines bestimmten Ziels oder einer bestimmten Wirkung willen
eingesetzt wird.
*
So verrät das Wort Einstieg etwas für Reich-Ranickis Kritiken
Bezeichnendes: dass jenes angeblich technisch-Professionelle vor
allem darin besteht zu wissen, mit Hilfe welcher literarischer
Mittel man bestimmte allgemein-verlässliche Wirkungen
hervorruft. Sowohl diese Mittel als auch die durch sie
verursachten Wirkungen müssen also im grossen und ganzen als
bekannt vorausgesetzt werden. Und häufig macht Reich-Ranicki die
Geschicklichkeit eines Autors, diese Wirkungen hervorzurufen, zu
einem der Kriterien, die sein Urteil über die Qualität von
dessen Literatur bestimmen.
In diesem Sinn kommt für Reich-Ranicki Kunst von Können, und
dieses Können ist vor allem ein schon Gekonntes, viel weniger
eine Fähigkeit, die für den Schriftsteller und den Leser durch
das jeweilige Werk selbst erworben werden kann.
Kunst setzt also für Reich-Ranicki Können und Wissen voraus,
aber offenbar in einigermassen verdinglichter Form. Dass Kunst
von Lernen und Entdecken oder Erfinden kommt, dieser Gedanke
liegt ihm leider nicht nur etymologisch fern.
Ein anderes, neues Recht als literarisches Kriterium bekäme Reich-Ranickis Vorstellung von den verfügbaren literarischen Mitteln und den entsprechenden verfügbaren Wirkungen erst dann, wenn diese Verfügbarkeit selbst zu einem Sinn des Texts gemacht würde. Aber Reich-Ranicki will gerade von jenen Texten wenig wissen, deren komplexe Wirkung darauf beruht, dass sie den Sinn des Verfügbaren mit der Frage nach der Verfügbarkeit des Sinns kreuzen und damit einen doppelten Boden herstellen, in dem die Kunstgriffe als Kunstgriffe gleichsam unter Anführungszeichen gesetzt werden; Texten etwa, die mit der angeblichen Natur von Romanen spielen, als wäre diese Natur selbst eine Kunst, misstraut er zutiefst. Nichts ist Reich-Ranicki verdächtiger als ein Schreiben, das sich nicht so aus dem Werkzeugkasten Sprache bedient, dass man es als Leser nicht oder nur wenig bemerkt. Denn würde der Blick auch auf das angebliche Werkzeug fallen und nicht nur auf den angeblich zu bearbeitenden Gegenstand, dann würde der vorausgesetzte Unterschied zwischen dem Bearbeitenden und dem zu Bearbeiteten selbst zu dem Moment einer einzigen Gestalt. Und die Vorstellung, dass die Kunst an der Kunst nur das Gerüst ist, das, wenn das Haus des Sinns fertig gebaut ist, abmontiert werden kann, ohne den ganzen Bau mitzureissen, würde sich als das herausstellen, was sie ist: nicht kunst-gerecht.< br>
Allen diesen Einwänden zum Trotz: vielleicht passt die
Vorstellung, dass etwa die Anfänge und Schlüsse von
literarischen Texten gemeinsame und wiedererkennbare
Eigenschaften haben und so besonders wichtig sind, dennoch auf
manche literarische Prosa, vielleicht auch auf die Prosa Herbert
Eisenreichs oder Günther Grass'. Aber sie passt doch wohl kaum
selbstverständlich auf Literatur überhaupt, wenigstens auf die
Werke nicht, deren Anspruch darin besteht, durch die
Konstruktion des ganzen Texts zu bestimmen, was und wie da
jeweils Anfang sein soll und Schluss: "Aller Anfang ist
zufällig".- In diesem berühmten Satz steckt eine ganze Ästhetik,
eine Ästhetik, die auf die systematische, oder wie die
Romantiker gesagt hätten, organische Entwicklung der
einzelnen Momente eines Texts besteht, auf eine auf den
jeweiligen einzelnen Text bezogene Bestimmung dessen, was Anfang
sein soll oder Schluss; eine Ästhetik also, welche gerade gegen
die Verdinglichung bestimmter Momente eines Texts gerichtet ist.
Ich will nun aber keineswegs unterstellen, dass Reich-Ranicki
sich literarische Texte als aus vorgefertigten Elementen, aus
Versatzstücken zusammengesetzt wünscht. Er selbst würde darin
wohl entweder den Hinweis darauf sehen, dass der Text
Konfektion sei, und damit zur Trivialliteratur zu zählen, oder
aber vielleicht - würde diese Technik deutlich als solche
gekennzeichnet und konsequent auf die Spitze getrieben - einen
Hinweis darauf, dass der Text sich in die Hände eines ihm
unwillkommenen Avantgardismus begebe. Es wird ihm nur nicht
deutlich genug, dass das, was er für das gelungene Nachahmen von
"Natürlichem" hält oder für das geschickte Naturalisieren des
Erzählens, sehr wohl noch viel stärker als aus "Versatzstücken"
bestehend empfunden werden kann, als er wissen will. Und so
versteht er - ohne sich das selbst hinreichend klarzumachen -
unter "Artistik" vor allem die "Kunstgriffe", die angeblich
ermöglichen, jene Versatzstücke unmerklich einzusetzen, sie als
Versatzstücke zu verbergen.
*
Jedenfalls braucht man Reich-Ranickis Vorstellungen von zur
Verfügung stehenden Handgriffen und ihren Wirkungen nur ein
wenig weitertreiben, um sie als Produktionsstrategie von
Trivialromanen zu behaupten. Für solche Romane könnte man mit
einigem Recht behaupten: es kommt besonders auf den ersten und
den letzten Moment an, in dem die Ware präsentiert wird. So
sollte gerade der erste Moment vielleicht besonders fesseln und
spannen, um neugierig machen zu können, und der letzte
vielleicht lösen und entspannen oder sonst irgendein Bedürfnis
nach einer scheinbar endgültigen Befriedigung stillen. Es ist
unser aller Übereinkunft, das verborgene Spiel dieser
Mechanismen Unterhaltung zu nennen, und Unterhaltung in diesem
Sinn ist wahrscheinlich tatsächlich das, was die meisten
meistens wünschen. - Man kann vielleicht voraussetzen: Das
Publikum will unterhalten werden. Reich-Ranicki spricht häufig
von diesem Publikum, und er neigt dazu, von der Literatur zu
verlangen, dass sie ihm, seinen Bedürfnissen, entgegenzukommen
habe. Er besteht darauf, dass Literatur wenigstens unter anderem
die Aufgabe habe, den Wunsch nach Unterhaltung zu befriedigen.
Und offenbar soll das der Literatur dadurch gelingen, dass sie
es versteht, jene bedingten Rezeptions-Reflexe auszulösen, denen
nachzugeben so natürlich zu sein scheint und deshalb auch so
angenehm.
Nun wird ja auch Reich-Ranicki zugeben, dass die Literatur alles
andere als das geeignete Mittel dafür ist, die
Unterhaltungsbedürfnisse von vielen zu befriedigen. Was könnte
er also meinen? Doch eigentlich nur, dass der Versuch zu
unterhalten, nur dann legitim sein kann, wenn dieses Unterhalten
Teil eines Prozesses ist, der mit Unterhaltung nicht
gleichgesetzt werden kann. Aber nirgends in Reich-Ranickis
Schriften findet sich auch nur die Andeutung einer Reflexion
seines Unterhaltungsbegriffs, einer Reflexion, die vielleicht
auch dazu führen würde, den in diesem Zusammenhang
missverständlichen und missbrauchten Ausdruck Unterhaltung gar
nicht zu verwenden und durch geeignetere Ausdrücke zu ersetzen.
Hat es mit all dem zu tun, dass man, Reich-Ranickis Rezensionen
zeitgenössischer Prosa lesend, sich daran erinnert, wie lange
der Roman als literarische Gattung überhaupt nicht ernstgenommen
worden ist, wie lange ihm Trivialität, Formlosigkeit usw.
vorgeworfen worden ist; dass etwa in Opitz' Buch von der
deutschen Poeterey der Roman noch gar nicht erwähnt wird?
Wären manche von Reich-Ranickis Kritierien tatsächlich für den
modernen Roman massgeblich und gerechtfertigt, dann wäre diese
Position geradezu wieder einer ernsthaften Diskussion würdig.
*
In einer Rezension von Hermann Kants Roman Das Impressum
schreibt Reich-Ranicki: "Er versteht vom Handwerk des Erzählens
sehr viel. Wir haben heutzutage [...] nur sehr wenige deutsche
Autoren, die ihre Sache so leicht und unterhaltsam vorbringen
können und die so souverän mit Pointen und Effekten umzugehen
wissen. [...] so ist hier [...] jede Episode solide gearbeitet."
Die Geschicklichkeit des Autors besteht also darin, seine Sache
angemessen vorzubringen. Wenn er ungeschickt ist, dann bringt er
die selbe Sache ungeschickt vor, dann mangelt es ihm eben
an Kunstgriffen. Die Mittel des Dichters werden zu Mitteln, jene
Sache darzustellen. Dichtung wird zu einer Form von Rhetorik, zu
einer Technik des Überredens oder der Beeinflussung in Hinblick
auf eine bestimmte Sache oder ein bestimmtes Anliegen. Die
Poetik Reich-Ranickis ist in diesem Sinn pragmatisch. Die Folge
davon, dass er diese Pragmatik nicht als solche reflektiert, ja
im Gegenteil seinen pragmatischen Standpunkt vor sich oder
anderen verbirgt (gerade so wie manche der von ihm geschätzten
Autoren ihre Kunstgriffe), ist ein einseitiges und insofern
missverständliches Bild von Dichtung, das ihn auch selbst zu
Unklarheiten verführt.
So schreibt er über Max Frischs Spätwerk: "Das Alter zwingt zur
Ökonomie der Mittel und damit zum Verzicht auf formal
Anspruchsvolles oder gar Extravagantes. Die sich viele Jahre als
Meister virtuoser Technik bewährt haben, zweifeln an der
Nützlichkeit und Notwendigkeit ihrer handwerklichen oder
künstlerischen Fertigkeiten."
Warum zwingt das Alter gerade zur Ökonomie der Mittel, warum
nicht überhaupt einfach zur Ökonomie? Mit Reich-Ranickis
Behauptung ist eigentlich unterstellt: Wenn man alt wird, dann
muss man sich auf das Wesentliche konzentrieren, dann fällt der
Stuck, das Ornament in Form von komplizierteren Techniken oder
eben Kunstgriffen ab. Die Technik, die Mittel sollen also wieder
einmal von dem Zweck der Kunst trennbar sein. Der alte Dichter
ist ein alter Tischler und baut nur mehr funktionale Tische. Er
überredet durch Funktionalität. So als ob nicht nur ohne
weiteres vorauszusetzen wäre, dass die Kunst Zwecke hat,
sondern auch, dass sie so selbstverständlich bestimmbar sind wie
diejenigen von Tischen.
Und wenn jemand an der Nützlichkeit und Notwendigkeit seiner
künstlerischen Fertigkeiten zweifelt, und nicht nur an der
Notwendigkeit und Nützlichkeit seiner handwerklichen
Fertigkeiten, wie kommt es dann, dass er dann überhaupt noch
Literatur und, wie Reich-Ranicki behauptet, gute Literatur
veröffentlicht? Zudem passt das Wort Fertigkeit eigentlich nur
zu handwerklich und nicht auch zu künstlerisch. Ausser man hält
das Handwerkliche und das Künstlerische für ein und dasselbe.
Dieser sprachliche Lapsus wäre nicht der Rede wert, wäre er
nicht symptomatisch. Vielleicht auch um der akustischen
Ähnlichkeit willen hat Reich-Ranicki nicht bemerkt, dass er
einerseits von handwerklichen Fertigkeiten und andererseits von
künstlerischen Fähigkeiten sprechen wollte und spricht damit
unfreiwillig aus, worauf er eigentlich aus ist: auf die Natur,
das Leben, den Stoff, von der die Kunst, die Form, das Handwerk
trennbar sein soll. - Genauso trennbar wie der Schriftsteller
von dem zu manipulierenden Leser oder wie auch - ich werde
darauf ausführlich zurückkommen - das schreibende Subjekt vom
beschriebenen oder ausgedrückten Objekt Welt oder Wirklichkeit.
So zieht ein selbstverständlich vorausgesetzter Dualismus
zwangsläufig eine Reihe anderer nach sich.
*
Reich-Ranicki betont also häufig, dass das Schreiben von
Literatur auch ein Handwerk ist. Dementsprechend ist ihm die
Literatur vor allem auch ein Gewerbe, sind Schriftsteller
Schreiber. Und ist es da nicht nur konsequent, dass er
anlässlich einer Rezension eines Werks von Dürrenmatt, der für
ihn offenbar ein Autor ist, der die Wirkung seiner Literatur auf
seine Leser sorgfältig zu kalkulieren weiss, den Schriftstellern
das Marktstudium empfiehlt?: "Sie sollen sich bemühen, das
Ihrige unter den auferlegten Bedingungen an den Mann zu
bringen." Und er zitiert Dürrenmatt: "Dass der Mensch
unterhalten sein will, ist noch immer für den Menschen der
stärkste Antrieb, sich mit den Produkten der Schriftstellerei zu
beschäftigen. Indem sie den menschlichen Unterhaltungstrieb
einkalkulieren, schreiben gerade grosse Schriftsteller oft
amüsant, sie verstehen ihr Geschäft."
Als würden nicht ohnehin allzu viele, insbesonders allzu viele
Schriftsteller vor allem den Gesetzen des Markts folgen, ob sie
diese Gesetze nun tatsächlich studieren oder, weil sie sie
verinnerlicht haben, einfach intuitiv erfassen! Unsere ganze
Informationswelt überbietet sich in mehr oder weniger trivialen
Captatio-Benevolentiae-Strategien. Ist es wirklich die Aufgabe
eines Kritikers, gerade in dieses Horn zu blasen? Reich-Ranicki
denkt so gerne an das Publikum, er will es vor dem Unzumutbaren
schützen. Aber wenn man an das Publikum denkt und es zu seiner
Kirche macht, dann sollte man da auch nicht Friedrich Schlegels
Wort vergessen, nach dem das Publikum nicht nur Kirche ist,
sondern als Kirche auch Postulat.
Reich-Ranicki dagegen erinnert an manche progressiven
Kirchenkritiker, die glauben, die armen Gläubigen gegen den
moralischen Rigorismus etwa der kirchlichen Lehre mit dem
Argument in Schutz nehmen zu müssen, dass jener Rigorismus
unzumutbar sei und ausserdem die armen Gläubigen aus der Kirche
vertreibe. Und nichts ist einem solchen Kirchenkritiker
schwieriger deutlich zu machen, als dass vom Standpunkt etwa der
katholischen Morallehre, die ja - und hierin ist sie der
Literatur vergleichbar - beansprucht, Erkenntnis zu sein,
Gläubige, welchen sie zu rigid erscheint, kein Grund sein
können, jene Lehre zu ändern.
Der Neigung zur Verdinglichung bestimmter sprachlicher Mittel,
die wie in einem Werkzeugkasten bereitliegen müssen, und dann
mehr oder weniger geschickt angewendet werden können - das
heisst: auch so, dass man von jenem Werkzeugkasten nur ja nichts
bemerkt - entspricht auffällig und häufig auch eine
Verdinglichung gewisser Eigenschaften jener, die diese Mittel
anwenden. Reich-Ranicki liebt und bewundert sowohl das Talent
als auch das Professionelle. So spricht er einerseits von
artistischer Formulierungsbegabung, andererseits von Könnern
oder Virtuosen und von Routiniers. Diese Bezeichnungen sind
keineswegs immer abwertend gemeint, und die arbeits-teiligen,
Entfremdung signalisierenden Konnotationen entgehen ihm dabei
offensichtlich. (Bezeichnenderweise scheint die Formel
artistische Formulierungsbegabung aus einer Art von Amtsdeutsch
zu stammen, und widerspricht damit auch gerade dem, was sie zu
bezeichnen versucht.)
Man könnte einwenden: Vielleicht hat Reich-Ranicki mit seinen
beiden alternativen Bildern vom Schriftsteller in den meisten
Fällen recht, vielleicht sind die meisten Schriftsteller vor
allem Talente und Professionals, geniale Rennpferde oder
gewiefte Produzenten; vielleicht liesse sich ein solcher
empirischer Befund erheben. Doch missversteht, ja missbraucht
Reich-Ranicki sein Amt als Kritiker nicht, wenn er das
Wahrscheinliche zum Massgeblichen, das Häufige zum Notwendigen,
das Gewöhnliche zum Vorbildlichen umdeutet? Also tatsächlich
einen Kunstgriff gebraucht, der darin besteht, begriffslogische
Distinktionen zu verwischen, und somit subkutan zu manipulieren
oder zu suggerieren, also Rhetorik zum Schaden möglicher
Erkenntnis anzuwenden? Auch steht dieses Bild in merkwürdigem
und unreflektiertem Widerspruch zu einem anderen, das
Reich-Ranicki bei Gelegenheit dennoch selbstverständlich in
Anspruch nimmt: zu dem Bild des Schriftstellers als des
Universalisten, als des Experten für alles und jedes, des
Experten für das Soziale und das Seelische, ja für die
Wirklichkeit insgesamt.
* (Contra Avantgarde)
Das solide Handwerk wird aber von Reich-Ranicki nicht ohne
Hintergedanken betont. Es wird etwas anderem, Nicht-Soliden
gegenübergestellt, vielleicht gerade dem, was Friedrich Schlegel
als das Eigentliche der Poesie verteidigen würde. Jenes Nicht-
Solide wird in der Rezension eines Romans von Günther Seuren, in
der die handwerklichen Tugenden dieses Autors deren Mangel bei
anderen gegenübergestellt werden, so dargestellt:
"Er [Günther Seuren] will weder die Sprache revolutionieren,
noch ist er darauf aus, neue Kontinente der Literatur zu
entdecken. Er versucht nicht, uns mit ungewöhnlichen
Kunstgriffen zu verblüffen und mit Originalität zu imponieren.
Anders als die genialischen Wirrköpfe, denen sogar die
freundlichsten Kritiker in ihrer Verzweiflung nicht mehr als das
angeblich faszinierende Misslingen bescheinigen können, zieht es
Seuren vor, sich auf die Mittel zu verlassen, die ihm zur
Verfügung stehen, und Fragen aufzugreifen, denen er als Erzähler
gewachsen ist." Und pathetisch wird die Literatur von Marie
Luise Kaschnitz so gelobt: "In einer Zeit, in der viele Dichter
verstummt sind und sich andere auf das weite Gelände zwischen
der geheimnisvollen Dunkelheit und der baren Blödelei flüchten,
entscheidet sich die Autorin des Buches `Steht noch dahin' für
die Klarheit, die Einfachheit, für die harte Forderung des
Tages."
Die Gegenüberstellung ist polemisch: Es wird suggeriert, dass
jemand, der ungewöhnlich schreibt, versucht, mit ungewöhnlichen
Kunstgriffen zu verblüffen und mit Originalität zu imponieren.
Nicht nur, dass Reich-Ranicki an dem Wort Kunstgriff festhält,
und damit an der selbstverständlichen Trennung zwischen
literarischen Mitteln und literarischen Zwecken, scheint er auch
zu unterstellen: gewöhnliche Kunstgriffe und Mangel an
Originalität sind angemessen und der Qualität zuträglich. Die
aber, die ungewöhnliche Kunstgriffe anwenden, sind für ihn wohl
auch die, welche sich vermessen, Unmögliches zu begehren, der
harten Forderung des Tages nicht gerecht werden und sich in das
weite Gelände der geheimnisvollen Dunkelheit und der baren
Blödelei flüchten. In einer Rezension über ein Buch von Marie
Luise Kaschnitz schreibt er: "Den lieb' ich, der Unmögliches
begehrt? Für die Kunst gilt dieses Wort nicht. Es sind eher die
Anfänger, die Dilettanten und Pseudokünstler, häufig auch die
Halbtalente, die unentwegt das ihnen Unerreichbare anstreben und
den Himmel stürmen wollen."
Ach, wie hätte Reich-Ranicki auf die kühnen Begriffsmusiken der
Frühromantik, auf die Fragmente der Schlegels und des Novalis
reagiert; wie auf die grossartig ausladenden, und so dunklen
Satz-Katarakte der Hölderlinschen Hymnen? Hätte er Hölderlin
nicht, ähnlich wie Goethe das getan hat, empfohlen, sich zu
bescheiden und "kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem
einen menschlich interessanten Gegenstand zu wählen"?
Wie wäre Reich-Ranicki mit der so aus- und abschweifenden Prosa
Jean Pauls umgegangen, die - einigermassen rücksichtslos gegen
das Fassungsvermögen der meisten Leser - jedem noch so
abliegenden Einfall nachzugehen scheint? Hätte ihm an Kleists
Prosa anderes auffallen können als ihre originelle Manier und
ihre ungewöhnlichen Kunstgriffe? Was hätte er, als sie zuerst
erschienen ist, mit der Prosa Kafkas angefangen oder jener
Robert Walsers, in deren Werken alles andere getan wird, als der
herkömmlichen Dramaturgie des Romans zu folgen, um in einer Art
zweiten, reflektierten Unschuld stets aufs Neue den roten Faden
zu verlieren? Nach seiner kritischen Bewertung eines Werks wie
Finnegans Wake von James Joyce wagt man gar nicht zu fragen.
Hätte er da nicht überall Unsolides konstatiert? Und muss er
Raymond Queneaus Stilübungen nicht geradezu verabscheuen? -
Diesen Versuch ein einziges Ereignis auf x verschiedene Weisen,
in x verschiedenen Schreibweisen darzustellen bzw. die Frage
aufzuwerfen, ob es dieses angebliche Ereignis jenseits von
Schreibweisen überhaupt gibt, sodass die Kunstgriffe,
gewöhnlichere und ungewöhnlichere, und damit auch die Werkzeuge
des Werkzeugkastens, eine Hauptsache werden?
Und so kommt es nicht von ungefähr, dass in der von ihm
initierten Reihe Romane von gestern heute gelesen weder Prosa
von Carl Einstein noch von Albert Ehrenstein, noch von Walter
Serner zu finden ist. Und so kommt es auch, dass in Reich-
Ranickis Aufzählung dessen, was zwischen 1918 und 1933 an Lyrik
erschienen ist, weder Hans Arp genannt werden, noch Hugo Ball,
noch wiederum Carl Einstein, noch Kurt Schwitters, noch Otto
Nebel usw., usw. Und findet man deshalb in seinen Kritiken
nirgends die Folgen eines so epochalen Werks wie Albert Paris
Güterslohs Sonne und Mond (eines tatsächlich legitimen Erben
Jean Pauls) oder auch der Literatur Gertrude Steins?
Steckt hinter all dem nicht ein Mangel an Traditionsbewusstsein,
werden da bestimmte Traditionen nicht einfach totgeschwiegen,
wird sich mit ihnen nicht möglichst wenig auseinandergesetzt,
weil man weder diese Traditionen selbst liebt, noch auch
diejenigen, die sich auf sie berufen, die sie fortsetzen?
Und was die Zeitgenossen Reich-Ranickis angeht: nicht nur das
Reden über Bäume schliesst das Schweigen über vieles ein, was zu
sagen wäre, auch das Reden über Schriftsteller. Wie bezeichnend
ist für Reich-Ranickis Begriff von Literatur, wen er nicht
rezensiert, wen er auch seit den fünfziger Jahren in seinen
Bestandsaufnahmen jeweiliger Gegenwartsliteratur gar nicht
erwähnt. Es sind natürlich zumeist jene Dichter, die
ungewöhnlich schreiben, deren Abweichungen vom üblichen
Sprachgebrauch ein bestimmtes Mass überschreiten.
Beschäftigen Reich-Ranicki die Arbeiten der Wiener Gruppe? Weiss
er, dass Konrad Bayer Romane geschrieben hat? Kennt er die
grossartige Literatur Dieter Roths? Ahnt er etwas davon, was
Friederike Mayröcker seit den späten fünfziger Jahren für die
deutschsprachige Literatur geleistet hat? Wie kommt es, dass er
nie eine Zeile von Ingomar von Kieseritzky rezensiert hat oder
von Paul Wühr, Ernst Jandl oder Helmut Heissenbüttel?
Nun, Reich-Ranicki mag behaupten - das ist sein gutes Recht als
Kritiker -, dass keiner der Namen, die hier aufgezählt werden,
einer kritischen Auseinandersetzung wert sei, dass keiner von
ihnen die Qualität der Dichter vergangener Epochen
beanspruchen könne, auf deren Traditionen ihre Werke sich doch
beziehen lassen. Aber wenn Reich-Ranicki für diese Traditionen,
für diese Begriffe von Literatur schon keine Beispiele finden
will: wäre es nicht seine gute Pflicht als Kritiker, eine solche
Literatur zu vermissen? Und hätte er also die, seiner Ansicht
nach nicht hinreichend geglückten Versuche in ihre Richtung,
nicht in Hinblick auf eine Vision ihres Gelingens hin zu
kritisieren? Auch eine negative kritische Auseinandersetzung mit
Schriftstellern wie den zitierten wäre schon mehr als ihr
Verschweigen. Auch Novalis' berühmter Verriss von Goethes
Wilhelm Meister ist erhellend, auch wenn man nicht seiner
Ansicht ist. Und wie interessant auch eine möglicherweise
negative, aber genaue Auseinandersetzung Reich-Ranickis mit
einer solchen Literatur sein könnte, beweist gerade das einzige
Beispiel für eine solche Auseinandersetzung: sein Aufsatz Arno
Schmidts Werk oder Eine Selfmadeworld in Halbtrauer.
Meine Aufzählung soll andeuten: Reich-Ranicki misstraut allen
Formen der Literatur, die gegen den üblichen Sprachgebrauch um
mehr als ein bestimmtes Mass verstossen. Man könnte sagen: er
misstraut all dem, was in der Literaturgeschichte als
Manierismus bezeichnet wird, wenn man zugibt, das auch das, was
man häufig als Modernismus oder Avantgarde bezeichnet, als
Fortsetzung der Traditionen des Manierismus angesehen werden
kann.
Und Reich-Ranicki versagt gegenüber jenen "manieristischen"
Traditionen nicht nur insofern, als er die Werke, die man da
nennen könnte, nicht rezensiert, sondern auch insofern, als er,
wenn er überhaupt von solcher Literatur spricht, häufig ein
stereotypes Beschimpfungsvokabular anwendet, deutlich unter
seinem sonstigen Niveau. Statt sich mit einzelnen Werken oder
Autoren auseinanderzusetzen, ist da immer nur summarisch und
abwertend von der Avantgarde die Rede, von ihrem "Artifiziellen"
und "Esoterischen", niemals erfährt man, ob sich die
verabscheuungswürdigen "Avantgardisten von Beruf", in
ihren "modischen Attitüden", ihrer "literarischen Unfähigkeit"
von anderen positiveren, avantgardistischen Beispielen
unterscheiden. In einem Aufsatz über das positive, nicht-
avantgardistische Gegenbeispiel Günter Kunert gerät dieses
Beschimpfen in gefährliche Nähe zum populistischen Appell gegen
die moderne Kunst: "Der Schriftsteller, wird uns immer wieder zu
verstehen gegeben, könne entweder die sichtbare und greifbare
Welt registrieren und beschreiben oder aber nur noch vor sich
hin blödeln und die Sprache aus sich herausblubbern lassen.
Dokument oder Kalauer, Inventur oder Blödelei - das sei, sollen
wir glauben, die einzige Alternative, vor der die Literatur
steht. Während uns jedoch die einen mit stumpfsinnigen
Aufzählungen langweilen und andere impertinent und schamlos
genug sind, ihren Wortbrei als Kunst zu deklarieren, während uns
als Höhepunkte der Prosa allen Ernstes unbedruckte Seiten
geboten werden, während Autoren ihre Bücher mit Aktphotos (unter
besonderer Berücksichtigung der Genitalien) schmücken, büsst die
fundamentale Frage, wie sich in unserer Zeit von unserer Zeit
erzählen lässt, nichts von ihrer Dringlichkeit und Aktualität
ein."
Man wüsste so gerne, an welche Schriftsteller oder Werke
Reich-Ranicki denkt, wenn er solche Verwünschungen ausstösst.
Meint er Heissenbüttel, die Wiener Gruppe, Kieseritzky, Franz
Mon? Oder sind das gerade die glaubhaften Avantgardisten, die
durch die bösen Epigonen, von denen er eigentlich spricht,
diskreditiert werden? Aber warum gibt es dann nicht ähnliche
Ausfälle gegen die zahllosen Epigonen des realistischen und
psychologischen Romans des neunzehnten Jahrhunderts?
Man wüsste auch so gerne, was er etwa mit dem Schimpfwort
esoterisch meint. Dass diese Schrifsteller so ziemlich ungelesen
bleiben, oder dass sie so schreiben, dass es gewisser
Bildungsvoraussetzungen bedürfte, sie verstehen zu können? Meint
er das letztere, dann würde er Arno Schmidt zurecht esoterisch
nennen, doch Helmut Heissenbüttel oder Franz Mon, aber auch die
meisten Texte der Wiener Gruppe zumeist zu Unrecht.
Oder meint er einfach: Im Vergleich zur üblichen sprachlichen
Kommunikation beanspruchen die inkriminierten Autoren zu viel
Leseanstrengung?
Ich habe den Verdacht, Reich-Ranickis Kriterien für die
Beurteilung von Literatur sind auch Symptom für unser aller
Bequemlichkeit; für unsere Unfähigkeit oder Unwilligkeit, uns
mit Texten zu befassen, die man entziffern muss. Nicht weil sie
ein Bildungs-Wissen vorausetzen, das wir nicht teilen, sondern
weil sie uns zwingen, auf eine Weise zu lesen, an die wir nicht
gewöhnt sind, weil sie uns zwingen, unvorhergesehene
Möglichkeiten des Lesens zu entfalten. Nichts scheint uns heute
weniger verständlich als die Begeisterung Friedrich Schlegels,
wenn er schreibt: "Ja diese künstlich geordnete Verwirrung,
diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare
ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie, der selbst in den
kleinsten Gliedern des Ganzen lebt, scheinen mir schon selbst
eine indirekte Mythologie zu sein. Die Organisiation ist
dieselbe und gewiss ist die Arabeske die älteste und
ursprüngliche Form der menschlichen Fantasie." Und der Tatsache
zum Trotz, dass er sich auf Friedrich Schlegel häufig beruft,
kann Reich-Ranicki deshalb auch nichts weniger unverständlich
sein als dessen Unterscheidung zwischen der romantischen,
eigentlichen Poesie und der bloss modernen, die für Schlegel die
prosaische des Realismus war. Den von ihm verspotteten
realistischen Romanen stellt er Tristram Shandy, Jaques le
Fatalist und die Romane Jean Pauls gegenüber.
*
Vielleicht also kann das, was Reich-Ranickis Polemik gegen den
Manierismus zugrunde liegt, auch als ein alter Hut begriffen
werden, den er trägt, ohne es zu bemerken, oder wenigstens, ohne
darauf hinzuweisen.
Denn in mancherlei Beziehung erinnert seine Haltung an Goethes
Ablehnung des Romantischen, wie er sie in seinem Gespräch über
das Antike und das Romantische aus dem Jahre 1808 entwickelt.
Goethe charakterisiert da das Romantische, das er auch das
Moderne nennt, ganz ähnlich wie Reich-Ranicki die
Avantgardisten. Nur stellt er seinem Feindbild des Romantischen
nicht wie Reich-Ranicki einen unbestimmten Realismus entgegen,
sondern das Antike, das aber auch bestimmte Züge einer
realistischen Ästhetik zu haben scheint. Wenn Goethe schreibt:
"Das Romantische ist kein Natürliches, Ursprüngliches, sondern
ein Gemachtes, ein Gesuchtes, Gesteigertes, Übertriebenes,
Bizarres, bis ins Fratzenhafte und Karikaturartige. [...] das
Antike ist noch bedingt (wahrscheinlich, menschlich), das
Moderne willkürlich, unmöglich."; oder: "Das Antike ist
nüchtern, modest, gemässigt, das Moderne ganz zügellos,
betrunken. Das Antike erscheint nur ein idealisiertes Reales,
ein mit Grossheit (Stil) behandeltes Reales; das Romantische ein
Unwirkliches, Unmögliches, dem durch die Phantasie nur ein
Schein des Wirklichen gegeben wird.", - dann ist die
Übereinstimmung zum Teil wörtlich. Das Natürliche, Ursprüngliche
und Reale kann man bei Reich-Ranicki finden, auf der anderen
Seite auch das Gemachte und das Willkürliche.
Nur: Goethe hat, seinen expliziten Polemiken zum Trotz,
bekanntlich diese Züge der Romantik tatsächlich in sein Werk
integriert, er hat über die künstlerische Kraft verfügt, die
romantische Herausforderung anzunehmen: ob in den
somnabul-phantastischen Aspekten der Wahlverwandschaften oder
auch in vielfach fragmentierten Form von Wilhelm Meisters
Wanderjahren oder in beiden Teilen des Faust.
Wenn Reich-Ranickis Kampf gegen den von ihm so genannten
Pseudoavantgardismus auch vorgeschoben ist, wenn es auch ein
alter Kampf ist, der da ausgefochten werden soll, dann muss man
Reich-Ranicki vorwerfen, dass er, anders als Goethe, diesen
Kampf nicht tatsächlich austrägt; das heisst er ist nicht im
Stande, die Möglichkeit einer anderen Literatur, ernsthaft zu
verarbeiten, ihre Voraussetzungen, ihre Konsequenzen kritisch
mitzubedenken. Und es mag damit zusammenhängen, dass der
sonst so unverblümte Reich-Ranicki hier eine offene und
differenzierte Auseinandersetzung scheut. Sollte aber sein
Kritiker-Gewissen nicht von ihm verlangen, dass er sie leiste;
und auch auf die Gefahr hin, dass sie für seine eigenen
Ansichten riskant sein könnte?
*
Reich-Ranickis unspezifischer und unreflektierter Zorn zusammen
mit seinem Unwillen oder seiner Unfähigkeit, sich offen und
genau mit den entsprechenden Werken auseinanderzusetzen, führt
sogar so weit, dass er seine Lobrede auf das Werk Dürrenmatts
dazu benützt, die Avantgardisten zu schelten und dabei ein Wort
Dürrenmatts zu benützen, das, wenn das Zitat nicht täuscht,
auch nicht gerade auf eine differenzierte Auseinandersetzung mit
den inkriminierten Phänomenen schliessen lässt: "Und weil das
artistische Element - dazu gehört auch seine Freude an Pointen
und Überraschungseffekten - bei Dürrenmatt so gegenwärtig und
intensiv ist, hat er für jene Textbastler, die unverfroren genug
sind, sich Avantgardisten zu nennen, nur ein höhnisches Lächeln
übrig: `Viele schreiben nicht mehr, sondern treiben Stil.' Und:
`Wer Stil treibt, vertreibt sich nur die Zeit.'"
Es gehört zu dieser leerlaufenden und manipulativen Rhetorik,
dass Dürrenmatt gerade durch etwas gelobt werden soll, das dem
unbestimmt ähnlich zu sein scheint, durch das sonst die Werke
der Avantgardisten beschrieben werden: nämlich durch das
Artistische. Denn dieses Artistische, das leere Kunststück, die
Form ohne Inhalt, das vielleicht geschickte, aber oberflächliche
Spiel (zum Beispiel Wort- oder Sprachspiel), wird ja gerade den
Avantgardisten vorgeworfen. Also unterscheidet Reich-Ranicki,
und vielleicht auch Dürrenmatt, zwischen einer gerechtfertigten
und einer ungerechtfertigen Artistik, ohne dass die Unterschiede
zwischen diesen beiden Formen von Artistik auch nur ansatzweise
explizit würden.
Man kann nur ahnen, dass diese Artistik sich von jener der
Avantgarde dadurch vorteilhaft unterscheidet, dass sie - etwa
in Form von Pointen oder Überraschungseffekten - eher
angewandten, eben pragmatischen Charakter hat; es scheint sich
um eine Artistik im Dienst einer Sache zu handeln,
wahrscheinlich um eine Reihe von Kunstgriffen, die von einem
Autor wie Dürrenmatt offenbar am rechten Ort und zur rechten
Zeit eingesetzt werden. Für diese Deutung spricht auch, dass
Reich-Ranicki einen anderen Schweizer Schriftsteller so lobt:
"Frisch verblüfft mit neuen formalen Lösungen, die sich von
vielem, was heute in der Literatur versucht wird, dadurch
unterscheiden, dass sie brauchbar und zweckmässig und sehr
ergiebig sind."
Es ist auch wohl nur die brauchbare oder zweckmässige Artistik,
die für Reich-Ranicki in ihr eigenes Gegenteil, in das
"Natürliche" umschlagen kann. Wie unreflektiert und leichtsinnig
Reich-Ranicki an der Identität seines Begriffs von Artistik und
Natürlichkeit festhält, wie wenig er sie als ein Moment einer
Interpretation durchdenkt, zeigt sich in den zahllosen
oberflächlich paradoxen Formeln in seinen Kritiken.
So schreibt er in einem Aufsatz über Günter Grass' Lyrik: "Dabei
erweist sich, dass artistischer Kalkül und rigorose
Selbstbeherrschung die Lebendigkeit und Natürlichkeit
des Ausdrucks nicht gefährden." Und über Dürrenmatt heisst ganz
ähnlich: "Diese Naivität befindet sich jedoch, mag das auch
paradox klingen, in unmittelbarer Nachbarschaft nüchternster
Raffiniertheit. Dürrenmatt hört niemals auf, ein exakt
kalkulierender Artist zu sein." Diese so häufigen coincidentia
oppositorum bleiben bei Reich-Ranicki reine Behauptung, kritisch
ganz unentfaltete Interjection, und deshalb Ausdruck eines Lobs,
das leer bleibt. Abgesehen davon, dass es ein Lob ist, in dem
Reich-Ranickis Polemik gegen die Avantgarde durchklingt, gegen
das, was er als nichts als Artistik denunziert - als das somit,
was jene coincidentia oppositorum nicht erreichen kann.
Ich fürchte, Peter von Matt hat mit dem Verdacht, den er in
einem Gespräch mit Reich-Ranicki äussert, recht. Er vergleicht
den Kritiker Reich-Ranicki mit dem Botaniker Goethe: "Er hat mit
Begeisterung vom Blatt geredet, vom Stempel geredet, von der
Knospe, von der Blüte, vom Samen, er hat das alles studiert,
unermüdlich sein Leben lang, aber er hat gesagt, von den Wurzeln
will ich nichts wissen. Die interessieren mich nicht, das ist
finster dort unten, das ist verworren, das ist dummes Zeug,
damit will ich mich nicht befassen. Ist es nicht auch ein
bisschen so mit Marcel Reich-Ranicki, dass er von der dezidiert
schwierigen Literatur aus ähnlich spontanen, unmittelbar
emotionalen Gründen einfach weniger wissen will und das dann
auch in die Urteile direkt oder indirekt einsickern lässt?"
Natürlich widerspricht Reich-Ranicki heftig, und zählt eine
Reihe von Autoren als Gegenbeispiele auf, mit denen er sich
kritisch auseinandergesetzt hat: Die Lyrik von Sarah Kirsch, die
Prosa Thomas Bernhards und Hermann Burgers und bemerkt nicht,
dass man diese Aufzählung sehr gut als Bestätigung für Peter von
Matts Verdacht ansehen kann! Um das zu verdeutlichen, worauf
Peter von Matt hinauswill, kann man wiederum Friedrich Schlegel
zitieren: "Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und
die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns
wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das
ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen". Mag
jenes Chaos auch in der Literatur nur eine andere Ordnung oder
Unordnung sein als die gewohnte: Reich-Ranicki wünscht sich eben
eine Literatur der kleinen Schritte, als Reaktion auf den
Pseudo-Avantgardismus. Er wünscht sich "vernünftige
Sachlichkeit, vorsichtig-diskrete Psychologie", einen
"bescheidenen und offenen Realismus, zurückhaltende
Gesellschaftskritik, einsichtige Selbstbeschränkung" und fügt
hinzu: "Das sind wohl einige Merkmale dieser so notwendigen
Gegenströmung, der wir vielleicht keine kühnen Würfe verdanken
werden, doch immerhin nennenswerte Versuche."
Einmal abgesehen davon, dass man sich so wünschen würde, die
Geister des Avantgardismus von jenen des Pseudoavantgardismus
geschieden zu sehen: Die Eigenschaften, die sich Reich-Ranicki
von der Literatur wünscht, bezeichnen doch ohnehin den grössten
Teil der deutschen Literatur seit 1945! Da werden doch wirklich
offene Türen eingerannt! Und eigentlich deshalb, weil man die
eigenen Vorlieben, die ohnehin mit denjenigen der meisten
Schriftsteller, Kritiker und Leser konvergieren, als etwas
hinzustellen sucht, das man tapfer verteidigen müsste.
Aber Reich-Ranicki ist nicht so ungeschickt oder unvorsichtig,
wenn man ihn direkt danach fragt, die sogenannten Avantgardisten
einfach abzulehnen, ihnen wird auch ein Platz, oder eher ein
Plätzchen zugesprochen, sie sind auch eine kleine Welle auf dem
grossen Strom der deutschen Literatur: "Gerhard Rühm und Oswald
Wiener und die Grazer Gruppe. Ich weiss schon, das sind dringend
nötige, wichtige Erscheinungen der Gegenwartsliteratur. Aber so
viel ist daraus nicht geworden, glaube ich..."
Die angeblichen Extremisten und angeblich Experimentierenden
sind für ihn also bestenfalls ein notwendiges Ferment,
übernehmen einen Part, der dann zu den entscheidenden Werken
beiträgt. Wenn daran etwas Wahres sein soll, dann gälte das
gleiche auch für die, die innerhalb erprobter Verfahren
verbleiben, für die nicht Extremen, nicht Experimentierenden.
Wie charaktistisch ausserdem, dass Reich-Ranicki, auf das Werk
dieser "Avantgardisten" angesprochen, behauptet, dass daraus
nicht viel geworden sei. Dass etwa von den Mitgliedern der
Wiener Gruppe ernstzunehmende Werke vorliegen, die alle denkbare
literaturgeschichtliche Rechtfertigung in sich selbst tragen,
wird einfach übergangen. Der Werkbegriff, auf dem in anderen
Fällen so sehr bestanden wird, wird dann plötzlich verlassen,
wenn die Werke, die zu rezipieren wären, das Gesamtbild, die
literarische Weltanschauung Reich-Ranickis durcheinanderbringen
könnten und damit das Schreiben seiner Literaturgeschichte. Und
so fällt auch die damit zusammenhängende Frage unter den Tisch,
ob eine Literatur wie die der Wiener Gruppe nicht auch die
Literatur und den Literaturbegriff von Schriftstellern wie Böll,
Grass und Walser entschieden relativiert und in Frage stellt.
*
Reich-Ranickis Misstrauen gegen den literarischen Manierismus,
besonders in seinen zeitgenössischen modernistischen oder
avantgardistischen Formen, ist also nicht kritisch, sondern
masslos. Es ist in der Form, in der er es äussert, nicht
gerechtfertigt. Das alles wird aber dadurch verschleiert, dass
er, wenn er einmal (zumeist in polemischen Nebenbemerkungen)
zeitgenössische Autoren für ihren exzentrischen Sprachgebrauch
kritisiert, häufig noch recht hat, ja das seine so allgemeinen,
und auch undifferenzierten Angriffe tatsächlich vieles oder
viele treffen könnten.
Denn die meisten Versuche, die Konventionen des allgemein
üblichen Satzbaus, der allgemein üblichen Sinn-Gewohnheiten zu
verlassen, sind keineswegs ermutigend. Allzuhäufig drücken die
Resultate solcher Versuche, eher den dummen Stolz von Autoren
aus, etwas Ungewöhnliches zu tun, ihre bewusstlose Begeisterung
an dem, was sie sich offenbar als ihre Kühnheit, als ihren Mut
gutschreiben, und was doch nur ungezügelte Assoziationswut ist:
die Not des Assoziativen als angebliche Tugend eines befreiten
Subjekts, die Not der literarischen Montage oder Collage als
Tugend befreiter Objektivität, oder die Not der gedankenlosen
Buchstabenverliebtheit als Tugend entfesselten sinnlichen
Überschschwangs. Und wie häufig und leichtsinnig berufen sich
die Schriftsteller dabei darauf, Gewohnheiten zu brechen, ohne
zu bemerken, dass ihre Lust an der Irritation längst erwartbar
und abgekartet wirkt; sie verlassen sich auf oberflächliche
"Unverständlichkeit", stilisieren den Zufall zum schöpferischen
Prinzip und leugnen oder Unterschätzen das Moment des
Systematischen wie des Intentionalen; damit zusammenhängend wird
der Text zu einem Fetisch, auf ihn werden Eigenschaften des
Subjekts übertragen, von ihm wird behauptet, dass er angeblich
von selbst die richtigen künstlerischen Entscheidungen fällt;
dabei wird häufig eine falsche Einschätzung der Satzgrammatik
deutlich, deren formende Kräfte über die angeblichen Verstösse
hinweg, notorisch unterschätzt werden; zugleich wird, aber vor
allem wurde, seltsam-kurzschlüssig, und im Widerspruch zu vielen
eigenen Reflexionen, im Sinne einer naiven
Widerspiegelungsästhetik, Gesellschaftskritik oder sogar
gesellschaftliche Umwälzung qua revolutionärem Sprachgebrauch
bzw. angeblicher Zerstörung von hierarchischen sprachlichen
Strukturen in Anspruch genommen. (Selbst Helmut Heissenbüttels
ansonsten so überlegene Reflexionen zur Literatur aus den
sechziger Jahren sind von diesen Kurz-Schlüssen nicht frei,
wenn er soziale Utopien auf die Grammatik projiziert und
behauptet, dass die Subjekt-Objekt Grammatik irgendwie moralisch
verwerflich sei.)
Ein gutes Beispiel für das meist trübe Ineinanderfliessen von
Textdeutung und Weltverbesserung ist der ungeheure Wert, dem man
in der Geschichtsschreibung des Modernismus jenen Verfahren
zugesprochen hat und auch noch zuspricht, die geeignet sind,
Vieldeutigkeit zu erzeugen. Vieldeutigkeit wird da zur Offenheit
("Das offene Kunstwerk"), Offenheit zur Pluralität, Pluralität
zum Pluralismus, Pluralismus zum Demokratischen, Demokratisches
zum Nicht-Hierarchischen, das Nicht-Hierarchische wieder zur
Vieldeutigkeit, und so dreht sich das Rad pseudo-deskriptiver
Begriffe, unbewusster Übertragungen. Die Mehrdeutigkeit von
Textabschnitten, bestenfalls eine literarische Technik und eine,
die es immer gegeben hat, wird zu einer Grundlage der Moderne
aufgemotzt.
Vieldeutigkeit wird da mit der umfassenderen Unerschöpflichkeit
von Deutungen verwechselt. Eine nach den üblichen Begriffen
vorstellbare Wirklichkeit kann, wie zum Beispiel in einem
realistischen Roman, geschlossen entwickelt werden und sich dann
als Ganzes allen möglichen Deutungen anbieten. Oder sind
Tolstois oder Balzacs Romane, aber auch Shakespeares Dramen,
Homers Epen oder Sophokles' Tragödien denn nicht in diesem Sinn
unerschöpflich, und sind sie deshalb durchwegs vieldeutig in
jenem engeren Sinn, dass einzelne Textabschnitte oder ihr
Zusammenhang mehrere Deutungen erlauben? Und sind, umgekehrt,
vieldeutige Texte notwendig in jenem Sinn unerschöpflich?
Dazu kommt häufig auch die Leere und falsche Allgemeinheit des
räsonierenden literarischen Selbstzweifels, das theoretisierende
Sich-Beziehen auf die eigenen Schreibverfahren, der sterile,
nämlich betulich explizite Zweifel an der Möglichkeit, mit Hilfe
der Sprache zu benennen oder auszudrücken, der noch dazu häufig
konsequenzlos selbstwidersprüchlich ist, insofern er dieses
Zweifeln an der Möglichkeit zu benennen, so benennt, als ob es
dieses Zweifeln gar nicht gäbe.
Kurzum: man hat einerseits seine eigenen Revolutionen häufig
stark übertrieben, hat sie andererseits nur selten konsequent
verfolgt, sie zumeist nur unzulänglich reflektiert; man hat
Verstösse, die häufig ganz oberflächliche Wirkungen gehabt
haben, zu Heldentaten stilisiert, und geglaubt, das ganze
Gebäude der Literatur, ja der allgemein üblichen Sprache zu
erschüttern; man hat mit seiner eigenen Kritik aber häufig dort
haltgemacht, wo sie das Ende der eigenen Produktion bedeutet
hätte, und ist, um jene Selbst-Widerlegung zu verschleiern,
dafür häufig in unreflektiertes Pathos verfallen. Ob nun als
Dadaist oder Expressionist zwischen 1914 und 1925 oder als
Verfasser "experimenteller Literatur" in den fünfziger und
sechziger Jahren. Die Folge: Man hat es nicht vermocht, die
eigenen Schreibweisen hinreichend auf Traditionen
zurückzubeziehen und hat sie daher allzu ostentativ und
überdeutlich als eigenen Wert zu entwickeln versucht. In diesem
Sinn hat es so manchen Protagonisten der Avantgarde an
Taktgefühl gefehlt, an Behutsamkeit und an
literaturgeschichtlichem Zeitgefühl.
Entsprechend trostlos-stereotyp sind auch die germanistischen
und literaturkritischen Klischees zu dieser, wohl vor allem von
ihr so bezeichneten, "experimentellen Literatur". Sie besteht
hauptsächlich aus ohnmächtigen negativen Definitionen, die
Irritation von Konventionen als Ziel angeben. Oder sie behauptet
Sprachkritik, unterstellt diesbezügliche didaktische Absichten,
oder beruft sich auf die sehr anspruchslosen Vorstellungen einer
lustig-sinnlichen Sprachvöllerei, eines pausbackig-lustigen
Postdadaismus, von dem behauptet wird, er habe heilsame Wirkung,
würde entfremdenden Sprachgebrauch auflösen.
Alles das zusammen bietet häufig das Bild fruchtloser
Sektiererei, aus einseitiger Literatur, der entsprechenden
Literaturgeschichtsschreibung und auch der entsprechenden
ästhetischen Reflexion zusammengesetzt. Und es mangelt den
meisten Beispielen für diese Haltung gerade an dem, woran es
auch jener Literatur mangelt, von der sich jene Sekte abzuheben
sucht: an der Kraft, die eigene Haltung, die eigenen
Voraussetzungen anderen, widersprechenden innerhalb eines
literarischen Werks auszusetzen; an der Kraft, ernsthaft aufs
Ganze zu gehen.
Man kann also Reich-Ranickis Polemiken durchaus verstehen,
wenn er sich gegen den manchmal spürbaren Utopismus, Fanatismus,
Mystizismus, den Mangel an Distanz und Ironie mancher Vertreter
des Avantgardismus wendet. Es gibt da eine Tradition eines
berserkerhaften, fanatischen Modernismus, eine Tradition des
Abbrechens von Traditionen, so widersinnig das klingen mag.
Nein, ich hätte nichts gegen Reich-Ranickis Traditionalismus,
ich hätte nicht einmal unter allen Umständen etwas gegen seine
offenbare Bevorzugung gewissser traditioneller Formen des
Erzählens, ich hätte auch nichts gegen seinen Überdruss an all
den Epigonen des Nouveau Roman, gegen seinen Protest gegen
dessen essayistische Apologeten, die generalisierend von der
Unmöglichkeit sprechen, der Epoche, in der wir leben, mit den
Mitteln des (also einer Form des) traditionellen Romans
beizukommen: ich hätte gegen all das nichts, wenn es nicht so
blind gegen seine Antithesen wäre; wenn sich Reich-Ranicki über
die Einseitigkeit seines Traditionalismus aufklären würde und
damit seine Prämissen bzw. seine Vorlieben und Abneigungen
fruchtbarer machte.
Nicht einmal Reich-Ranickis Verteidigung des Handwerklichen, des
solid Professionellen, des Schreibens auf Kosten des Dichtens
ist unverständlich. Denn tatsächlich gibt es in der Tradition
des Modernismus eine starke Tendenz, das Handwerkliche zu
denunzieren, im Zusammenhang mit jener Tradition der
Traditionslosigkeit, einen unreflektierten Affekt etwa gegen das
Akademische, oder auch gegen das Wiederholbare und Tradierbare.
Offenbar werden da Handwerk, Konvention, das Konservative und
Epigonale in einem negativ besetzten Zusammenhang gesehen. Ein
negativer Begriffszirkel, der sich häufig einigermassen
selbstständig gemacht hat, und sich blindlings gegen jenen
dreht, der die positiv besetzten Gegenbegriffe, wie Innovation,
Revolution, Originalität usw. enthält. Mit diesen automatischen
Wertungen wird aber häufig auch die Unfähigkeit in Kauf
genommen, Dilettantisches als Nicht-Gekonntes von dem
substantiell Neuen zu unterscheiden; das beginnt mit
Äusserlichkeiten, etwa einer durch keine sachlichen Gründe
gerechtfertigten Kleinschreibung, setzt sich mit leichtsinnigen,
nämlich unbedachten und konsequenzlosen Verstössen gegen die
Regeln für den Gebrauch von Satzzeichen fort, um als unmerklich
dekoratives Design für die imaginäre Ware Avantgardismus zu
enden.
In den Künsten, und natürlich auch in der Literatur sind wenige
dazu auserwählt, die Architektur ihres Gebäudes wesentlich zu
verändern. Mit höchsten Ansprüchen gemessen darf kaum jemand
poetische Lizenz dafür beanspruchen, gegen die übliche Sprache
oder gegen tradierte literarische Konventionen wesentlich zu
verstossen, also eine - relativ - neue Sprache bzw. neue
Traditionen zu schaffen. Die meisten Verstösse erweisen sich
früher oder später als wenig tragfähig.
Aber Reich-Ranicki wird seinem kritischen Amt insofern nicht
gerecht, ist insofern ungerecht, als sein Misstrauen
gegen jene, die gegen den üblichen Sprachgebrauch, gegen
bestimmte literarische Traditionen um weniger als ein gewisses
Mass verstossen, so viel geringer ist. Denn wenn es wahr ist,
dass wenige dazu auserwählt sind, Sprache und Literatur
wesentlich zu verändern, dann ist es auch wahr, dass ebenso
wenige dazu auserwählt sind, sie in den Werken, die sie
verfassen, scheinbar so zu belassen, wie sie ist. Vielleicht ist
genauso viel Kraft dazu nötig, überlieferte ästhetische
Konventionen ohne Schaden für die Literatur zu gebrauchen, wie
dazu, gegen sie zu verstossen. Doch das sieht Reich-Ranicki viel
weniger gut ein; er sieht die Kehrseite eines vom Zaum
gebrochenen Verstossens gegen die üblichen sprachlichen Regeln
so viel schlechter; er sieht so wenig von der braven, biederen
Angepasstheit der meisten Literatur, häufig auch jener, die er
ausführlich rezensiert und lobt; er gibt sich so leicht mit der
falschen Vorspiegelung von Tradition zufrieden (etwa in seiner
für mich unveständlich positiven Kritik von Günter Grass' Das
Treffen in Telge), er hat zu viel Respekt vor dem Gebrauch des
längst Erprobten, auch dort, wo es nicht mehr Kunst, sondern nur
mehr Kunsthandwerk bezeugt, er ist zu leicht mit der x-ten
Variante eines erprobten Musters einverstanden, wenn es nur
souverän und dennoch natürlich benützt wird.
Das alles kann man als Folge davon ansehen, dass - ähnlich wie
in der Musik - der Modernismus von den meisten Schriftstellern
und Lesern, ja vielleicht von uns allen, und eben auch von
Reich-Ranicki niemals richtig verstanden und verarbeitet worden
ist. Triviale Rückbesinnungen, die eigentlich Regressionen sind,
werden mit bedeutender Literatur verwechselt, genauso wie
harmlose Verstösse oder oberflächliche Neuerungen für
tiefsinnige Revolutionen ausgegeben. Das eine Missverständnis
ist die Kehrseite des anderen und die ganze Medaille fast
niemals und nirgends in Sicht.