© by Franz Josef Czernin
In seinem Aufsatz Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit
reagiert Peter Handke auf Reich-Ranickis Polemiken gegen die
Avantgarde oder (um die historischen und militärischen
Konnotationen dieses Ausdrucks zu neutralisieren) gegen Texte,
die vom üblichen Sprachgebrauch um mehr als ein bestimmtes Mass
abweichen, mit einer Gegenpolemik, die gegen die Klischees
Reich-Ranickis vor allem eine Reihe von Antithesen zu bieten
hat, die insofern selbst klischeehaft sind, als sie als
unvermittelte Behauptungen jenen Reich-Ranickis einfach
entgegengesetzt werden. So sehr Reich-Ranickis eigene polemische
Vereinfachungen zu einer solchen Reaktion herausfordern: sollte
man nicht dennoch eher versuchen, seine Position zu verstehen
und zu präzisieren, sie womöglich genauer zu nehmen als er
selbst, gerade indem man sie mit anderen, vielleicht
entgegengesetzten Positionen in Zusammenhang bringt?
Reich-Ranicki singt ein Loblied des Konventionellen in der
Literatur, oder genauer: er singt ein Loblied einiger bestimmter
Konventionen in der Literatur. Und mag die Versuchung auch gross
sein, als Gegengesang einfach ein Lob anderer Konventionen oder
auch des Unkonventionellen, des literarisch Revolutionären oder
Originellen anzustimmen, so wäre diese Reaktion doch fruchtlos.
Gerade in einer kritischen Analyse von Literatur ist nichts
damit getan, gegen Konventionen zu polemisieren, sondern es käme
darauf an, sie - das heisst: ihren Ort und ihre Funktion - zu
verstehen.
Literatur ist selbstverständlich, und gegen die so häufigen
gegensätzlichen Beteuerungen, in vielerlei und fundamentaler
Hinsicht geradezu ein Zentrum des Konventionellen, man kann
sagen: In der Literatur werden Konventionen dar- oder
ausgestellt, ja manchmal auch hergestellt. Diese Konventionen
sind äusserst vielfältig und wohl auch vielschichtig und können
dementsprechend auf viele verschiedene Arten verstanden werden.
Ich schlage hier diese einfache Klassifikation vor: Zum einen
seien diese Konventionen diejenigen, die mit der allgemein
üblichen Sprache selbst gegeben sind, betreffen sie nun die
grammatikalische Verknüpfung der sprachlichen Ausdrücke
oder die Zuordnung von Bedeutung zu ihnen. Natürlich ist diese
allgemein übliche Sprache der Name für eine höchst ungewisse
Sache, für eine Sache mit unscharfen Rändern oder für die
komplexe Intuition einer unabsehbaren Reihe von voneinander
abhängigen Statistiken des Sprachgebrauchs. Zum zweiten seien
diese Konventionen spezifisch literarische Traditionen,
bestimmte überlieferte literarische Schreibweisen bzw.
literarischen Formen, und zum dritten verschiedene ästhetische
Haltungen oder Ästhetiken, in deren Licht die jeweiligen Texte
gelesen werden.
Man kann nun literarische Texte so lesen, als ob die allgemein
übliche Sprache die Konvention wäre, welche, weil wir sie
alle zumeist teilen, auch das ist, was als Fundament oder
grundlegende Lesart immer mehr oder weniger deutlich bleibt, was
also durch keine Literatur vollständig aufgelöst werden kann. -
Das heisst: der allgemein übliche Sprachgebrauch wirkt als
Ausgangspunkt oder Grundtonart in dem Verstehen jedes
literarischen Texts, scheint sich der Text auch noch so weit
davon zu entfernen. Insofern wird etwa ein assoziativer Text,
ein Text, der extreme semantische Kollisionen mitsichbringt,
auch, und häufig wohl sogar vor allem, als verdichtete
Übersetzung eines oder einer Reihe von anderen, den üblichen
Normen entsprechenden Texten gelesen, jedenfalls aber eben als
Text, der im Vergleich zu den üblichen sprachlichen Gewohnheiten
extreme semantische Kollisionen mitsichbringt; und insofern wird
ein Text, der aus agrammatischen Wortfolgen besteht, auch als
Übersetzung oder Verdichtung eines oder einer Reihe von Texten
gelesen, die den grammatikalischen Normen entsprechen,
jedenfalls aber als vergleichsweise a-grammatisch; und insofern
werden Neologismen in einem Text, sogleich auch als Wörter
begriffen, die aus mehreren bestehen, die sehr wohl im Lexikon
vorkommen.
So gesehen hat also die allgemein übliche Sprache als das
System von Regeln, dem wir selbstverständlich folgen, die
Tendenz sich über spezifisch literarischen Sprachgebrauch
hinweg, und sei dieser noch so revolutionär oder originell,
wiederherzustellen: Schlägt man dieser, unserer Sprache eines
ihrer Gliedmassen ab, so wächst es zumeist sogleich in Form von
anderen Texten nach, die wiederum (in vielerlei Hinsicht) die
Form dieser, unserer Sprache haben. Sofern Interpretationen von
Literatur versuchen, die Bedeutung des Texts dadurch zu
entschlüsseln, dass sie in eine Sprache übersetzen, die der
allgemein üblichen ähnlicher ist als die zu übersetzende, sind
sie das beste Beispiel dafür. Solche Interpretationen sind etwas
wie jene vervielfacht nachwachsenden Gliedmassen, die durch den
Text paradoxerweise gerade dadurch um so mehr hervorgerufen
werden, um so mehr er versucht, sie abzuschlagen.
Jede Rhetorik, von der des Aristoteles bis zu den
zeitgenössischen strukturalistischen Rhetoriken, bezeugt diesen
Hang, die allgemein übliche Sprache zur Norm zu machen, von der
aus die Abweichungen als uneigentliche Rede klassifiziert
werden.
Bietet aber die Reflexion jeglicher Rhetorik im Zusammenhang mit
literarischen Werken nicht auch die Möglichkeit, die Relativität
der Relation Norm/Abweichung zu bedenken, etwa anhand der
Relativität des Unterschieds zwischen wörtlicher und
übertragener Bedeutung? Können die spezifisch literarischen
Konventionen bzw. die Ordnungen des jeweiligen Texts nicht so
machtvoll werden, dass sie jene fundamentale Norm ausser Kraft
setzen können?
Wenn man das zugibt, dann kann die Lesart, die der allgemein
üblichen Sprache entspricht, oder der Versuch, der allgemein
üblichen Sprache folgend, einen literarischen Text zu
paraphrasieren, auch als Metapher oder Pars Pro Toto oder
Ellipse usw., also als Abweichung von der Norm des jeweiligen
literarischen Texts gelesen werden, also gegen den Anschein als
uneigentliche Form des literarischen Texts, einer Sprache, die,
wenn sie auch nicht die allgemein übliche zu sein scheint, doch
jetzt selbst das Fundament ausmacht.
- Ist der Mensch, insofern ihn seine Tapferkeit dem Löwen
vergleichbar macht, in diesem oder jenem literarischen Text
nicht eine Art Löwe, hat er in diesem oder jenem Prozess des
Verstehens nicht Teil an etwas, das aus Eigenschaften besteht,
die normalerweise entweder dem Löwen oder dem Menschen zukommen?
Von diesem Verstehen des Texts aus, in der es etwas gibt, das
die Eigenschaften hat, die normalerweise entweder dem Löwen oder
dem Menschen zugesprochen werden, kann die Welt, in
der es Dinge gibt, die Eigenschaften haben, die entweder dem
Löwen oder dem Menschen zugesprochen werden, als die übertragene
Form des Verstehens des Texts erscheinen: Wird etwa behauptet,
dass ein Mensch keine Mähne hat, dann wäre das in diesem
Verstehen des Texts nicht wörtlich zu nehmen, sondern als
Metapher dafür, dass ein Zentaur aus menschlichen und
löwenhaften Eigenschaften sich so verhält, als hätte er nicht
sowohl alle menschlichen als auch alle löwenhaften
Eigenschaften.
Nur eine Möglichkeit, einen literarischen Text zu lesen, besteht
also darin, die allgemein übliche Sprache als Fundament
anzuerkennen und das, was diesem Fundament widerspricht, als
Abweichung zu klassifizieren: Wird in einem so gelesenen
literarischen Text etwa behauptet, dass, kraft seiner
Eigenschaft, tapfer zu sein, ein Mensch ein Löwe ist, dann nimmt
man das nicht wörtlich, sondern versteht, dass damit einfach
eine bestimmte Eigenschaft, die angeblich Menschen und Löwen
gemeinsam haben, nämlich tapfer zu sein, dazu gebraucht wird,
den Menschen im übertragenen Sinn einen Löwen zu nennen.
Einen literarischen Text schreibend oder lesend, die allgemein
übliche Sprache als Fundament zu akzeptieren, das ist aber doch
etwas anderes als die allgemein übliche Weise, Sprache einfach
zu gebrauchen. Während normalerweise diese, unsere Sprache
einfach gebraucht wird, wird sie in der Literatur nicht nur
gebraucht, sondern auch als allgemein übliche Sprache sichtbar;
dass sie, wie es scheint, auf die gewohnte Weise gebraucht wird,
gewinnt selbst Bedeutung. Sie wird also selbst als literarische
Konvention deutbar.
Manche literarischen Traditionen bzw. Schreibweisen bestehen nun
paradoxerweise gerade darin, den Eindruck zu erwecken, dass
sie die Sprache in der allgemein üblichen Weise gebrauchen, oder
wenigstens darin, diesen Eindruck nur wenig und behutsam zu
irritieren. Dieser Eindruck ist nicht einfach falsch, und ihn zu
erwecken, nicht eine ästhetisch oder moralisch unverantwortliche
Lüge (wie etwa Handke in seiner Polemik behauptet), sondern er
entspricht einer gerechtfertigten Lesart und beruht einfach
darauf, dass bestimmte grammatikalische und semantische
Vertrautheiten nicht angetastet werden.
Die ungeheure Kunst von Dichtern wie Tolstoi oder Balzac besteht
wohl auch darin, wie geschickt von ihnen die Konvention der
allgemein üblichen Sprache als literarische Konvention
einerseits verborgen und andererseits aber auch deutlich gemacht
wird; wie sehr es ihnen gelingt, ihren literarischen
Sprachgebrauch als Leben oder Natur hinzustellen, dennoch Leben
oder Natur unter Anführungszeichen erscheinen zu lassen, aber
wiederum so, als würden diese Anführungszeichen, jenes Leben,
jene Natur aufheben, und das womöglich in dem bekannten
dreifachen Hegelschen Sinn dieses Wortes.
Man liest etwa Krieg und Frieden, und jedes einzelne Wort, jedes
einzelne Ereignis und die sogenannte Logik der Ereignisse
bestätigt uns als Teil der Welt, als Teil der allgemein üblichen
Weise, miteinander, und eben auch sprachlich, umzugehen. Und das
Unerwartete oder Ungewohnte, das innerhalb dieser im grossen und
ganzen vertrauten Welt eintritt, scheint eine ähnliche Wirkung
zu haben wie das Ungewohnte oder Unerwartete im Leben, in der
Natur ausserhalb des Romans. Und doch ist das, was man lesend
erfährt, und man weiss das auch in jedem Augenblick der Lektüre,
ein Bild, etwas, das einen Rahmen hat, etwas, das, wenn auch in
ganz ungewisser Weise, zur Verfügung steht, zur freieren
Verfügung.
Und zu dieser freieren Verfügung gehört auch das seltsame
Vergnügen, das darin besteht, es als ganz selbstverständlich zu
empfinden, dass unsere sprachlichen Gewohnheiten ausserhalb von
Literatur und damit auch die ganze Welt, die damit zu tun hat,
selbst eine Art Erzählung, ein Roman, ein Märchen, eine Fiktion
sein könnten; dass somit das, was uns normalerweise, wie wir
geneigt sind zu glauben, unmittelbar zu betreffen scheint,
selbst die Darstellung von etwas anderem sein könnte, und dass
wir das, wenn wir gerade nicht einen Roman wie Krieg und Frieden
lesen, nur vergessen haben. Diese Übertragung der Fiktion in der
Literatur auf das, was wir normalerweise als nicht-fiktiv, also
als Wirklichkeit empfinden, wird paradoxerweise dadurch um so
leichter möglich, je mehr die Fiktion selbst suggeriert, sie sei
keine, sondern die Wirklichkeit selbst.
In der Literatur kann also der allgemein übliche Sprachgebrauch
selbst zu einer literarischen Konvention werden und zugleich
aber etwas, das Wirklichkeit oder die üblichen Formen von
Wirksamkeit suggeriert. Dazu kommt, dass gerade die Literatur,
welche viele Züge unseres alltäglichen Sprachgebrauchs zu einer
literarischen Konvention macht, andere literarische Konventionen
in ihrem Gefolge hat, die mit der allgemein üblichen Sprache
identifiziert werden, obwohl sie diese widerspruchsvoll und
komplex überlagern.
So hat der Roman im Lauf seiner Geschichte so etwas wie
seine eigene allgemein vertraute Sprache in Form bestimmter
Gattungsmerkmale entwickelt, von denen ausgegangen werden, gegen
die aber auch verstossen werden kann. Diese Merkmale, so sehr
sie sich Erfindungen einzelner Schriftsteller verdanken, und so
sehr sie sich den vertrauten Gewohnheiten sprachlichen Umgangs
entgegensetzen, wirken dann nach einiger Zeit geradezu
natürlich, das heisst üblichem Sprach- und Selbstverständnis
entsprechend. (So wie in der Malerei die Gesetze der Perspektive
natürlich wirken, wenn sie auch nicht wiedergeben, wie wir
normalerweise optisch wahrnehmen.)
Nicht nur gehört zu Reich-Ranickis kritischer Strategie, jene
Gattungsmerkmale des Romans, die so vertraut geworden sind, dass
sie nicht mehr auffallen, einfach der Natur des Romans
zuzuschreiben, sondern zu ihr gehört auch, den Unterschied
zwischen der allgemein üblichen Sprache ausserhalb der Literatur
und innerhalb der Literatur, wenn nicht ausser acht zu lassen,
so doch jedenfalls nicht zu betonen. Er will von diesem
fundamentalen Unterschied, von dieser fundmentalen Beziehung
sehr wenig wissen; dieser Unterschied, diese Beziehung wird kaum
einmal Voraussetzung oder Gegenstand seiner Kritiken. Wo immer
eine Sprache gebraucht wird, die der allgemein üblichen ähnlich
scheint, wird sie als die natürliche Sprache identifiziert und
zumeist auch positiv bewertet. Natürlich ist, wie Handke zu
Recht hervorhebt, eines der Attribute in seinen Kritiken, die am
häufigsten Lob und Zustimmung zu einem Text ausdrücken sollen.
*
Wer kennt sie nicht, die Lust an jenen Texten, die im grossen
und ganzen so zu sprechen scheinen, wie wir es meistens tun, an
jenen Texten, welche auf dem Fundament unserer sprachlichen
Vertrautheiten aufbauen? Diese Lust, die komplex ist und
dementsprechend viele Motive und Momente hat, enthält auch, dass
die allgemein übliche Sprache, diese Form der Kommunikation,
diese Weise, Sinn herzustellen, positiv bewertet wird. Die
gewohnten Formen sprachlicher Kommunikation scheinen Wert zu
erlangen oder ihren positiven Wert zu bestätigen. Umgekehrt
gerät damit die Abweichung von all dem in den Verdacht, einen
negativen Wert auszudrücken. In einem Roman von Tolstoi wäre
eine Figur, die ungefähr so spricht, wie ein Dadaist oder
Expressionist in seinen Gedichten, wahrscheinlich nur ein
pathologischer Fall. In Musils Mann ohne Eigenschaften,
diesbezüglich sehr wohl ein Roman wie einer von Tolstoi, ist
etwa die mit expressionistischen Zügen ausgestattete Sprache der
Clarisse ein Symptom für ihre Geisteskrankheit.
Mit anderen Worten: Das Werkzeug Sprache, so wie wir es meistens
benützen, wird in der Literatur zur Ikone seiner Funktion und
damit zu einem positiven oder negativen Wert; zu etwas, das man
feiert oder verdammt, oder mit dem man, widerspruchsvoll, beides
zugleich tut. Sofern wir Literatur so schreiben oder lesen, sind
wir eine Gesellschaft, die ihr gewöhnlichstes Werkzeug, ihre
Sprache, sich selbst als Denkmal preisgibt.
Wird also im Zusammenhang einer Interpretation von Literatur von
Norm und von Abweichung gesprochen, so ist der Gebrauch dieser
Wörter zwangsläufig zweideutig. Er ist sowohl deskriptiv als
auch wertend. Die Norm der allgemein üblichen Sprache und die
Abweichung von ihr sind nicht nur, etwa durch statistische
Untersuchungen, erhebbare Daten, sondern auch Werte. Zwischen
dem einen Extrem, Werte zu zerstören, und dem anderen, sie
feierlich zu bestätigen, oszillieren die literarischen Werke und
lösen dementsprechend auch emphatische Zustimmung oder
emphatische Ablehnung aus. Ob nun das Gewöhnliche verklärt wird
oder denunziert oder das Ungewöhnliche, so wird beides doch
innerhalb des Schreibens oder Lesens von Literatur ortbar.
Es ist aber, gerade weil die Wörter Norm und Abweichung in der
Literatur auch Werte bezeichnen, nicht so einfach, dass eine
literarische Sprache, die der allgemein üblichen ähnlich zu sein
scheint, einfach die vertraute Welt bestätigt, und eine, die der
allgemein üblichen unähnlich zu sein scheint, diese vertraute
Welt zu widerlegen sucht. Gerade ein literarischer
Sprachgebrauch, der den alltäglichen sprachlichen Gewohnheiten
zum Verwechseln ähnlich sieht, der die mit diesen Gewohnheiten
mitgegebenen Werte auf Schritt und Tritt zu bestätigen scheint,
kann in sich das trojanische Pferd einer radikalen Kritik an
diesem Sprachgebrauch verbergen. Gerade dadurch, dass man einen
bestimmten Boden des Verstehens auf bestimmte Weise voraussetzt
und in Anspruch nimmt, kann sich herausstellen, dass man sich
ihn unter den Füssen wegzieht. Und es ist keineswegs leicht, den
Finger auf jenen Punkt zu legen, der aus der Feier des
Alltäglichen dessen Denunziation macht. Manchmal wird also der
Wert allgemein übliche Sprache gerade dadurch geschwächt, ja
ausser Kraft gesetzt, dass seine Konstruktion in der Literatur
den Formen, in denen er sonst erscheint, zum Verwechseln ähnlich
ist. Umgekehrt wird der Wert allgemein übliche Sprache gerade
durch Texte gestärkt, die von diesem Wert abzuweichen scheinen.
In einem literarischen Text kann nicht nur nichts einer Norm
mehr spotten als ihre scheinbar getreue Erfüllung, sondern
nichts kann auch der Abweichung von der Norm mehr spotten als
die Abweichung selbst. Für diesen letzten Fall ist Reich-
Ranickis kritischer Sinn stets wach, für den ersten Fall zumeist
ganz und gar nicht.
*
Um der Wertgefühle willen, die durch jegliche Literatur erregt
werden, ist es also beinahe (und gerade gemäss seines Gebrauchs
dieses Worts) natürlich, wenn Reich-Ranicki auf sprachlich
Ungewöhnliches in der Literatur mit Polemik reagiert. Es wäre
leichtsinnig, ihm ohne weiteres vorzuwerfen, dass seine Reaktion
emotional oder heftig sei. Wird eine Konventionen verletzt, die
man ernstnimmt, die man vielleicht liebt, dann muss die Reaktion
darauf auch das Moment einer Verletzung enthalten. Diese
Verletzung löst leidenschaftliche Zustimmung oder Ablehnung aus.
Denn für das Lesen oder Schreiben von Literatur gilt, dass das,
was mit unseren sprachlichen Gewohnheiten nicht übereinstimmt,
häufig als etwas begriffen wird, das dadurch zustande kommt,
dass eine Reihe von Verboten übertreten wird. Würde das
Übertreten dieser Verbote nicht Widerstand auslösen, und liesse
sich dieser Widerstand nicht totalisieren, also als
existentielles Problem begreifen, dann wäre entweder der Text
kein Text, welcher der Mühe des Lesers wert ist, oder der Leser
keiner, der der Mühe des Autors wert ist. Die Möglichkeit von
Erkenntnis im Zusammenhang mit der Produktion oder Rezeption von
Kunstwerken besteht auch darin, dass das Wechselspiel zwischen
dem Beharren auf bestimmten Konventionen und dem Verstoss gegen
sie nicht als Spiel betrachtet wird, auf dem so gut wie nichts
steht, sondern im Gegenteil als ein Spiel, auf dem so gut wie
alles steht, auf dem jedenfalls möglichst viel stehen soll. Der
Verstoss gegen Konventionen ist in der Literatur nicht einfach
der Verstoss gegen Spielregeln. Wer diese Möglichkeit beim
Umgang mit Kunstwerken nicht empfindet, klärt sich nicht
hinreichend über seine Aufklärung auf.
Wird also die allgemein übliche Sprache, die pars pro toto für
uns selbst und unsere gewohnte Welt steht, wie es scheint, in
diesem oder jenem Aspekt zerstört, dann erregt das, und zu
Recht, Widerstand. Und natürlich kann die angemessene
literarische Strategie auch darin bestehen, diesen Widerstand zu
vermeiden. Behauptet Jorge Luis Borges, dass ein Autor
gescheitert sei, wenn wir etwas mit Mühe lesen, und dass
insbesonders Joyce gescheitert sei, weil die Lektüre seines
Werks eine Kraftanstrengung verlange, dann tut man gut daran,
diese Bemerkung nicht auf ein Anbiedern an den Geschmack und die
Gewohnheiten der meisten zu verkürzen, sondern gerade anhand von
Borges eigenem Werk zu begreifen, dass in dieser Behauptung,
ihrer Zuspitzung und Einseitigkeit zum Trotz, auch eine tiefe
ästhetische Wahrheit gesehen werden kann.
Genauso fruchtlos allerdings wie ein Text, der sich darin
erschöpft, Konventionen zu verletzen, ist auch eine Reaktion,
die auf nichts als der Verletzung beharrt bzw. auf der negativen
Reaktion, die sie auslöst. Ein Kritiker, der den Widerstand, den
er gegen einen Text empfindet, nicht zum Anlass einer Analyse
machen kann, versagt genauso wie einer, der erst gar keine
Widerstände empfindet. Das erste ist Reich-Ranicki häufig
vorzuwerfen, das zweite ihm sicherlich nicht, aber vielen
anderen, die heute Literaturkritiken schreiben. In der Literatur
und ihrer Kritik ist es wohl so, dass sowohl die nichts als
Eifernden ausgespieen werden als auch die Lauen. Ein
Schriftsteller oder ein Kritiker, der diesen so
selbstverständlichen, natürlichen Widerstand nicht als eigenen
und notwendigen bemerkt, ernstnimmt und sich seiner Konsequenzen
nicht bewusst zu werden versucht, begibt sich gerade der Form
von Erkenntnis, die durch Literatur ermöglicht wird.
Ich habe schon in anderem Zusammenhang darauf hingewiesen:
Will man Reich-Ranickis Widerstand gegen alle Formen des
ungewöhnlichen Sprachgebrauchs gerecht werden, dann muss man ihn
als Versuch verstehen, darauf hinzuweisen, dass manche
ungewöhnliche Texte gleichsam Phyrrus-Siege feiern, indem sie,
in seltsam unreflektiertem Überschwang, meinen, etwas von Grund
auf neu und anders zu machen, während sie für ein nüchternes
oder skeptisches Lesen tatsächlich nur geringfügige Abweichungen
zustandebringen, die in dem Kontext, in dem diese Werke
tatsächlich stehen, etwa als Ellipsen, Anakoluthe oder als kühne
Metapher, also doch nur als vorübergehende, oberflächliche
Abweichung wirken können oder - sozial - als der Sonderritus
einer sektiererischen Gruppe, die ihre Sekte als Welt-Religion
einer Schreibweise missversteht. Man sollte also begreifen, dass
Reich-Ranicki so manchem Schriftsteller und manchmal wohl uns
allen mit Recht vorwirft, dass wir Revolutionäre oder
Reformatoren zu sein beanspruchen, ohne die Orthodoxie
hinreichend zu kennen, das heisst: ohne sie uns leidenschaftlich
genug zu eigen gemacht zu haben. Und dass sein Zorn dabei dann
und wann ähnlich dumpf klingt wie der berüchtigte Volkszorn
gegen die moderne Kunst, das sollte uns an dieser Einsicht schon
deshalb nicht hindern, weil doch selbst in solchem Volkszorn
nach dem Korn Wahrheit zu suchen wäre, ohne dessen Existenz der
Totalitätsanspruch künstlerischer Tätigkeit hinfällig würde.
Dass eine einseitig von der allgemein üblichen Sprache diktierte
Leidenschaft bzw. die mit ihr verbundenen Lesarten eine
Reduktion bedeuten, dass das Verhältnis zwischen Orthodoxie
und Revolution oder Reform jeweils neu zu bestimmen sein könnte,
dass es tatsächlich Texte gibt oder geben könnte, die eine
fundamentale Umwälzung, wenn nicht der ganzen kommunikativen
Praxis, so doch wenigstens jener der Literatur und ihrer
Geschichte vollziehen lassen, all das sollte andererseits ebenso
selbstverständlich sein. Mit anderen Worten: der
leidenschaftliche Widerstand sollte sich unter Umständen auch
gegen bestimmte Konventionen richten, ja auch gegen die
Konvention allgemein übliche Sprache selbst. Auch unsere so
alltäglichen sprachlichen Gewohnheiten sollten eben nicht
selbstverständlich zur natürlichen Grundtonart eines natürlichen
harmonischen Systems gemacht werden, auf das sich alle
spezifisch literarischen Verfahren bzw. die Texte, in denen sie
vorkommen, reduzieren lassen.
*
Dass man die allgemein übliche Sprache selbst zu einer
literarischen Konvention macht, dass man also eigentlich zwei
der drei Gesichtspunkte, die ich in meiner Klassifikation
unterschieden habe, miteinander identifiziert, das bringt nun
bestimmte Folgen für den dritten Gesichtspunkt mit sich, für
das, was ich ästhetische Haltungen oder Ästhetiken genannt habe,
in deren Licht einzelne Texte gelesen werden.
Geradezu automatisch werden mit dem allgemein üblichen
Sprachgebrauch in der Literatur auch eine ganze Reihe von
Annahmen, Hintergründen, Abläufen und Bildern mitgedacht. Und es
sind gerade diese Annahmen, Hintergründe, Abläufe und Bilder,
die auch dann mitgedacht werden, wenn Sprache auf die gewohnte
Weise ausserhalb der Literatur gebraucht wird. Die Sprache
klingt vertraut, also ist man sich, wenn man sie spricht, auch
selbst vertraut. Ist man sich, wenn man sie spricht, auch selbst
vertraut, so sind es einem auch die anderen, die diese Sprache
ja auch sprechen. Sind es einem auch die anderen, so ist es auch
die Welt, über die wir gemeinsam zu sprechen glauben. Der
allgemein üblichen Sprache entspricht auch die allgemein übliche
Auffassung der Welt. All das trägt dazu bei, dass man dazu neigt
zu vergessen, dass auch vertraute sprachliche Gewohnheiten in
der Literatur nichts anderes sein können als selbst eine
literarische Konvention.
So scheint auch die Literatur, welche vom üblichen
Sprachgebrauch relativ wenig abweicht, zunächst (und häufig nur
bei oberflächlicher Lektüre) die allgemein übliche Auffassung
der Welt zu bestätigen. Wird über Literatur nachgedacht, so wird
aus jener allgemein üblichen Auffassung der Welt eine Ästhetik.
Es ist eine Ästhetik, die auf dem Common sense beruht. Eine
Schreibweise wird, einfach weil sie unserem sonstigen
sprachlichen und nicht-sprachlichen Umgang so sehr zu gleichen
scheint, mit einer Weltanschauung verbunden, die auch dem, was
wir ausserhalb der Literatur zumeist über die Welt denken oder
sagen, in vielerlei Hinsicht gleicht, während jene Anschauung
der Welt ausserhalb der Literatur wiederum zum leitenden Masstab
für die Anschauung der Welt der Literatur wird.
Reich-Ranicki nun macht sich in seinen Kritiken zum Anwalt des
Common sense. Er ist in die Konvention der allgemein üblichen
Sprache verliebt, und damit und deshalb auch in die
Weltanschauung, auch die ästhetische Weltanschauung, die damit
zusammenhängt. Er ist, mit anderen Worten, in seine üblichen
Reaktionen auf sprachliche Stimuli vernarrt, in das, was er als
Welt oder Wirklichkeit zu begreifen meint. Und er hält auch dann
an seiner Leidenschaft fest, wenn er es mit Literatur zu tun
hat, und nicht mit anderer sprachlicher Kommunikation.
*
Der Common sense, das ist also so etwas wie die natürliche
Philosophie der allgemein üblichen Sprache, und damit die
Philosophie, die wir unseren meisten Versuchen, uns mit anderen,
aber auch mit uns selbst zu verständigen, unwillkürlich zugrunde
legen. Und somit ist der Common sense gerade insofern das
Fundament unserer Gewissheiten, der scheinbar unmittelbare
Ausdruck unserer Lebensform, von der Wahrnehmung bis zu unserem
sozialen Handeln, auch unserem sprachlichen Handeln.
Aber: in der Literatur verhält es sich einigermassen anders. Wie
da die allgemein übliche Sprache auch zu einer literarischen
Konvention wird, so geht es auch mit der ihr vielleicht am
meisten entsprechenden Philosophie des Common sense: sie wird zu
einer möglichen ästhetischen Haltung. Denn per se geht der
Literatur als Fiktion, als Tätigkeit fern von unmittelbarer
Lebens-, aber auch Kommunkationspraxis, Common sense ab. Es ist
eines, Common sense alltäglich und selbstverständlich zu
praktizieren, aber ein anderes zu versuchen, aus dieser Not eine
literarische bzw. ästhetische Tugend zu machen, die erst
ermöglicht, dass der Common sense als solcher erkennbar wird.
Man darf nicht vergessen: für den, der keinen Gedanken an die
Voraussetzungen verschwendet, die seinen alltäglichen Handlungen
und Gedanken zugrunde liegen, ist auch jegliche Literatur des
Common sense nichts als eine ungerechfertigte oder überflüssige
Ablenkung von der "Wirklichkeit". So jemand findet es schon
phantastisch, irreal und weltfremd, dass man, und sei es in den
üblichen dafür vorgesehenen Wörtern, beschreibt, wie man isst,
anstatt selbst zu essen.
Es soll hier also nicht geleugnet werden, dass der allgemein
übliche Sprachgebrauch bzw. sein philosophischer Schatten, der
Common sense, als Ausdruck einer analytisch auch nicht
annäherend durchdringbaren Lebensform, aber auch in seiner
sekundären literarischen Form als natürlich wirkende ästhetische
Weltanschauung, eine wesentliche Grundlage literarischen
Schreibens ist. Er ist eine Gestalt des Verstehens, mit der
jeder Schriftsteller, aber auch jeder Leser zu rechnen hat. Die
Kontemplation des Common sense ist die Kontemplation eines
wesentlichen Aspekts unserer selbst, einer mächtigen Stimme, die
in ihren wunderbaren Automatismen, so geeignet dazu ist,
identifikatorischen Sog herzustellen, und damit eine bestimmte
Form der Kraft, welche fruchtbare Verstösse gegen sie erst
möglich macht. Als Philosophie, als ästhetische Haltung und
damit auch im Bereich der Kontemplation eines literarischen
Texts ist der Common sense aber eben nur eine Möglichkeit unter
anderen.
Dass Reich-Ranickis Beziehung zum Common sense allzu
leidenschaftlich ist, wird vor allem dadurch verschleiert, dass
wir sie alle zumeist teilen, und spezieller auch dadurch, dass
sich diese Leidenschaft so überzeugend als Nüchternheit ausgeben
lässt, als Lebenserfahrung, Vernunft und uns allen zuträgliche
Bescheidenheit. Weltklugheit, Weltläufigkeit, die Fähigkeit,
sich nichts vormachen zu lassen, - all dem scheint keine
Leidenschaft zugrunde zu liegen, sondern im Gegenteil die
sogenannten Tatsachen. Und es ist wahr: Reich-Ranickis Kritiken
sind weltklug, weltläufig, sie scheinen von jemandem geschrieben
zu sein, der sich nichts vormachen lässt und sehr häufig dabei
recht hat. Mag auch Beschränkung, vielleicht auch
Beschränktheit, der Preis für jede Leidenschaft sein, und auch
für die für den Common sense, so bewirkt doch die Leidenschaft
für den Common sense, so wie jede, eine bestimmte Intensität der
Bemächtigung dessen, worauf sie ihr Interesse richtet. Manche
der kritischen Einsichten Reich-Ranickis verdanken sich
zweifellos gerade seiner starrsinnigen und hartnäckigen
Identifikation des Common sense mit Vernunft und Rationalität,
mit Abgeklärtheit und einer an Heine erinnernden Ironie des
Erwachsenen und Desillusionierten, dem das Leben die
romantischen Flausen ausgetrieben hat.
An seinem Spürsinn dabei, falsche Prätentionen, hohles Pathos,
leere Feierlichkeit, vom Zaum gebrochene Verstiegenheiten oder
auch falsche Naivität zu entdecken und kritisch zu beschreiben,
kann nicht gezweifelt werden. Und immer dann, wenn diese
Entdeckungen kritischen Wert haben, hat sich seine Leidenschaft
in kritischen Witz verwandelt, in die Fähigkeit, nüchtern und
klug, den Finger auf den wunden Punkt zu legen. Man lese etwa
seine Rezensionen zu Peter Handkes Werk, zum Beispiel jene mit
dem Titel Wer ist infantil? zu der Erzählung Die linkshändige
Frau oder, unter dem Titel Sein Weg zu Gott, jene zu dem Roman
Langsame Heimkehr. Aber auch seine gesunde Skepsis gegen die oft
an einem so simplen Fortschrittsmodell ausgerichteten
Behauptungen von Innovation, von künstlerisch Neuem oder
Revolutionärem, und der entsprechenden Isolation bzw.
Verdinglichung literarischer Verfahren, wie sie sich manchmal in
sogenannten avantgardistischen Texten zeigen, ist auf seine
Leidenschaft für den Common sense zurückzuführen.
Nein, Reich-Ranickis Misstrauen gegen das Exzentrische, gegen
das, was in der Literatur dem Common sense zu spotten versucht,
ist nicht gänzlich unfruchtbar. Doch wäre er nur genauso
misstrauisch gegen die Macht des Common sense in den Werken
Heinrich Bölls oder Martin Walsers, wie er es gegen das
Exzentrische, zum Beispiel in den Werken Arno Schmidts, ist!
Wenn er den Common sense nur nicht so verherrlichen würde, wenn
er ihn nicht so schwärmerisch lieben würde! Es ist diese Liebe,
die ihn dazu verführt, in einer Rezension von Thomas Bernhards
Büchern Prosa und Ungemach so zu urteilen: "Er ist ein Erzähler
von aussergewöhnlicher und sehr eng begrenzter Kraft, ein
Künstler mit grossem Talent und grossen Scheuklappen,
wahrscheinlich ebenso unbeirrbar wie unbelehrbar, ein Amokläufer
der Literatur, erschreckend und gefährlich. Wieso gefährlich?
Weil alles, was Bernhard bisher publiziert hat, darauf
schliessen lässt, dass er, der von rationaler Erkenntnis
offenbar nichts hält und dem das methodische Denken, wenn nicht
überhaupt der normale relativierende Denkablauf gänzlich fremd
zu sein scheinen, sich vor allem von düsteren Emotionen und
Affekten leiten lässt."
- Als ob Bernhards Erzählungen nicht als Ergebnis methodischen
Denkens aufgefasst werden können! Und ist das wirklich wahr,
dass Thomas Bernhards Prosa sich vor allem von düsteren
Emotionen und Affekten leiten lässt? Und wenn es wahr sein
sollte, ist es deshalb wahr, weil man in seiner Prosa nicht den
normalen, relativierenden Denkablauf findet? Haben rationale
Erkenntnis und der normale relativierende Denkablauf besonders
viel miteinander zu tun? Ein Wissenschaftler oder
Wissenschaftsphilosoph könnte das aus verschiedenen Gründen sehr
gut bezweifeln, ja im Gegenteil behaupten: nichts hat weniger
mit rationaler Erkenntnis zu tun als der normale Denkablauf, sei
er nun relativierend oder nicht.
Der offenbare Kurzschluss in Reich-Ranickis Rezension besteht
darin, dass er annimmt, dass der Common sense nicht irrational
sein kann, während genau diese Annahme einen Aspekt der
Irrationalität des Common sense ausmacht!
Mit anderen Worten: Reich-Ranicki reflektiert seinen Common
sense zu wenig, er begreift ihn nicht als Philosophie, als
Ergebnis eines Systems von Voraussetzungen oder Hintergründen;
er missversteht ihn als evidente Realität und bringt ihn gerade
insofern um seine literarische Wirkung. Ähnlich wie George Moore
in Wittgensteins Über Gewissheit will er uns sagen: Aber ich
weiss doch deshalb, dass die Erde rund ist, dass es Tische gibt,
dass es mich selbst gibt, weil ich wahrnehme oder fühle, dass es
diese Dinge doch tatsächlich alle gibt. Reich-Ranicki steht also
seine eigene Philosophie nicht hinreichend als solche zur
Verfügung. Ein Schreiben aber, das den Common sense nicht zu
durchdringen sucht, das ihn nicht aus einer unbefragten
Wirklichkeit zu einem Moment eines Möglichkeitssinns macht, kann
keine fundamentale Literatur hervorbringen, und auch nicht in
jener Form, die Kritik heisst. Ein solches Schreiben verurteilt
sich zu einer gewissen Oberflächlichkeit.