© Franz Josef Czernin
Das Wort gediegen hat eine verwickelte Bedeutungsgeschichte, die uns wohl kaum einmal bewusst wird. Wir wissen heute, wenn wir das Wort gebrauchen, zumeist nicht mehr, dass es ein Partizip Perfekt von gedeihen ist: "Dasz gediegen zu gedeihen gehört, ist bis ins 18. jahrh. auch nicht blosz sprachgelehrten bewuszt geblieben 2)- also offenbar später nur mehr diesen.
In einer untergegangenen Hauptbedeutung (inzwischen eher die Bedeutung eines Fachterminus) hat das Wort metallurgischen Sinn: Es bezeichnet die Reinheit und auch die Festigkeit und Massivität von Metallen, etwa von Gold, Silber und Kupfer. - Gediegenes Gold ist auch zur Reinheit gediehenes und insofern gereiftes Gold.
Die Vorstellung, dass der Prozess des Dichtens dem Suchen und Finden oder auch dem Herstellen von reinem und also gediegenem Gold gleiche, ist vielfach bekundet und belegt. So zitiert auch das Goethe-Wörterbuch einige Stellen, in denen Goethe das Wort in diesem poetologischen und aus der Alchemie übertragenen Sinn gebraucht. Verzeichnet ist da auch, dass Goethe das Substantiv Gediegenheit im Sinne von Treffsicherheit, Reinheit und Vollkommenheit als Lobeswort auf Sprachliches anwendet. Auch ein Mensch und sein Charakter, seine Bildung und auch ein literarisches Werk und seine Form konnten in der Goethe-Zeit als gediegen im Sinne von rein, unvermischt und lauter bezeichnet werden. Zweifellos geschah dies im Bewusstsein jener damals geläufigen metallurgischen Bedeutung. So ist sie auch im Adelung (1811) als wichtigste hervorgehoben.3)
Im digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts dagegen ist die metallurgische Bedeutung von gediegen nicht mehr als allgemeinsprachlich, sondern als bergmannssprachlich und somit als fachsprachlich klassifiziert.4) Tatsächlich trägt heute das Wort in nicht-fachsprachlichen Kontexten kaum mehr eine Spur seines metallurgischen Sinns, und damit haben sich auch seine Anschaulichkeit und sein mythischer und poetologischer Hintergrund fast ganz verflüchtigt. Ein Anzeichen dafür ist, dass gediegen häufig auf Dinge angewendet wird, die verraten, dass metallische Reinheit und Festigkeit nicht mehr mitgedacht werden: So ist etwa die Rede von Möbeln als gediegener Handwerksarbeit, sind Haushalt, Wohnung gediegen eingerichtet; trägt jemand gediegenes Schuhwerk, ist ein Buch in gediegener Ausstattung erschienen usw. In einer weiteren, noch einigermaßen geläufigen Verwendung spricht man davon, dass jemand ein gediegenes Wissen, gediegene Kenntnisse, eine gediegene Bildung besitzt und ein gediegener Charakter oder Mensch ist. Sehr selten jedoch wird man, nehme ich an, etwa bei gediegener Bildung an die Durchbildung des ganzen Menschen denken und dabei überdies an reines oder solides Metall, etwa an Gold.5)
Zudem wird gediegen, scheint mir, immer seltener, und wenn, dann wohl schon manchmal im Bewusstsein des Schwindens der Selbstverständlichkeit seines Gebrauchs verwendet; in umgangssprachlichen Kontexten ist es nur noch selten zu hören.
So umgibt das Wort heute zumeist das Flair von schon leicht verstaubter und zugleich etwas literarischer Schriftsprachlichkeit, und wohl auch von bürgerlicher Bequemlichkeit und Wohlstand, von lange erprobter Verlässlichkeit, konservativer Haltung und, nicht zuletzt, von Biederkeit.
Gediegen scheint deshalb in seinen heute geläufigen Bedeutungungen zur positiven Charakteristik von Kunstwerken oder literarischer Sprache weitgehend ungeeignet zu sein.
In einer Rezension 6) bezeichnet Karl Markus Gauß Melitta Brezniks Roman Nordlicht "als im besten Sinne gediegen" - und da er zu dem Roman viel Zustimmendes mitteilt, sei zunächst angenommen, dass Gauß jenes Wort im Bewusstsein seines metallurgischen Sinns verwendet. Denn man stelle sich vor, man würde Flauberts Madame Bovary, Dostojewskis oder Joyce´s Romane oder Borges Erzählungen in jenem bieder-bürgerlichen Sinn des Wortes als gediegen charakterisieren - oder Baudelaires, Trakls oder Brechts Gedichte! Das bedeutete doch das Gegenteil von Lob - nämlich ein sehr negatives Urteil über den literarischen Wert eines Texts.
Es ist also gar nicht möglich, denke ich, dass Gauß gediegen in einer der heute noch geläufigen Bedeutungen und ohne Bewusstsein seines metallurgischen metaphorischen Potentials verwendet, dass er ernsthaft einen Roman wie ein bürgerlich-bequemes Möbel lobt. Und so suche ich nach Hinweisen, die meine Annahme bestätigen könnten, es sei jener metallurgische Sinn des Wortes oder wenigstens die Erinnerung an ihn im Spiel.
Auf den Beginn einer Nacherzählung der Ereignisse, die im Roman beschrieben sind, folgt eine kurze Charakteristik der Romansprache Brezniks: "Sie schreibt präzise, unspektakulär, ihre Sätze machen nicht viel Aufhebens von sich, sind einfach und klar." Ob vielleicht - da doch in der Goethezeit Gediegenheit im Sinne von Treffsicherheit zustimmend auf Sprachliches bezogen wurde - in den Wörtern präzise und klar etwas von dem zur Reinheit gediehenen Metall mitschwingt? Hätte aber dann Gauß, der dann doch wüsste, dass die metallurgische Konnotation heute nicht geläufig ist, diese nicht explizit gemacht und ihren Zusammenhang mit Brezniks Sprache ausführlicher erläutert? Über die Sprache des Romans jedoch sagt Gauß überhaupt wenig; erst gegen Ende der Rezension findet sich dazu ein weiterer Satz - es ist eben jener, in dem das Wort gediegen vorkommt: "Als es im Roman bis hierher gekommen ist, hat er noch gut ein Drittel vor sich, in dem dieses im besten Sinne gediegene, unprätentiös erzählte Buch ein wenig kitschig zu werden droht." Doch da sich hier gediegen gerade nicht spezifisch auf die sprachliche Form, die Erzählweise bezieht, sondern das Buch insgesamt als gediegen charakterisiert wird, scheint diese Stelle noch weniger mit jenem metallurgischen Sinnhintergrund vereinbar zu sein.
Auch die von Gauß zustimmend angeführten Charakteristika der Sprache Brezniks insgesamt - präzise, unspektakulär, unprätentiös, einfach und klar, macht nicht viel Aufhebens von sich - sprechen gegen eine der Gebrauchsgeschichte bewusste Verwendung von gediegen: Denn gerade diese Charakteristika machen das heutige Standardlob in Rezensionen literarischer Texte aus. Und dieses Lob, so wie es heute gewöhnlich gespendet wird, bedeutet zumeist nichts als das einer konventionell vertrauten und gewohnten Sprache. Sie wird dann gerne für realistisch gehalten wird, obwohl doch ihre Konventionalität und Gewohntheit Präzision und Klarheit ausschliessen und somit auch ernstzunehmenden Realismus. - Man bemerkt offenbar nicht, dass die Symbole nur transparent zu sein scheinen, weil man sich keiner Alternativen und seines Interpretierens nicht bewusst sind; dass die Information deshalb leicht und selbstverständlich fliesst, weil der Modus der Repräsentation stereotyp ist. - So jedenfalls der Befund des Sprachphilosophen Nelson Goodman.7) Es gehört zu jenem (seinerseits stereotypen) Standardlob, dass man erst gar nicht nach den Begriffen von Präzision, Klarheit und Einfachheit fragt; dass man nicht reflektiert, dass diese Begriffe in unterschiedlichen Werken und Epochen unterschiedlich zu fassen sind. Präzision, Klarheit und Einfachheit sind jeweils etwas anderes, je nachdem, ob man an Tolstoi, Joyce, Borges, oder Robbe-Grillet denkt.
Wäre also der metallurgische Sinn von gediegen dennoch in seiner Rezension im Spiel, müsste Gauß nicht auch deshalb darauf explizit verweisen, um von jenem stereotypen Lob sein eigenes abzuheben?
Und endlich steht noch ein Merkmal der Rezension im Gegensatz dazu, dass sein bester Sinn von gediegen tatsächlich der im literaturkritischen Kontext beste Sinn ist: Sie besteht zum weitaus grössten Teil aus der Nacherzählung des im Roman Erzählten. Dabei scheint gute Nacherzählbarkeit heute geradezu ein Kriterium für gutes Erzählen zu sein und ist selbst häufig ein Kennzeichen von Romanen, die man - durchaus im heutigen Sinn des Wortes - gediegen nennen könnte. Wenn es nach den meisten Rezensionen geht, die man in Feuilletons zu lesen bekommt, dann ist eine gute Nacherzählung auch ein Kriterium für gute Rezensionen. So mag sich Sympathie und Analogie zwischen gediegenen Romanen und gediegenen Rezensionen einstellen. Beide, Roman und Rezension, erfüllen dann durchschnittliche Erwartungen, sind solide, verlässlich und ordentlich verfertigt. Das gediegene Rezensionshandwerk lobt das gediegene Romanmöbel.
Doch wenn schon, wie ich fürchten muss, der metallurgische Sinn des Wortes bei Gauß nicht im Spiel ist: Ob er vielleicht doch gediegen auch verwendet, um Vorbehalte gegen den Roman anzudeuten? Vielleicht spricht auch die zitierte Kitschdrohung dafür (obwohl wir nicht erfahren, ob Breznik sie wahrmacht). Ob sich in der Gaußschen Wortwahl am Ende doch ein Biederkeitsvorwurf verbirgt und auch der leise Vorwurf mangelnder Inspiration und Grösse, des Mangels an Ausserordentlichem? Das wäre immerhin möglich.
Aber könnte Gauß dann von gediegen im besten Sinne reden, da doch der heutige Sinn des Wortes im Kontext einer Literaturkritik kein bester, ja nicht einmal ein guter sein kann und er die Verwendungsgeschichte dieses Wortes mit keiner Silbe erwähnt?
1) Novalis, Schriften, Band 2, S. 462. - Ephraimiten sind, laut Wikipedia "die seit 1756 von Preußen geprägten minderwertigen Münzen des Siebenjährigen Krieges. Sie spiegelten dem normalen Bürger im Edelmetallgehalt vollwertige (Vorkriegs-)Kurantmünzen durch ihr Gepräge vor, waren aber in Wirklichkeit in ihrem Feingehalt minderwertig.
2) In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde. [in 32 Teilbänden]. Leipzig: S. Hirzel 1854-1960. http://germazope.uni-trier.de/Projects/DWB
3) In: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutsche, Johann Christoph Adelung, Wien 1811. http://mdz.bib-bvb.de/digbib/lexika/adelung
4) Vergleiche: http://www.dwds.de/
Auch zu den dort verzeichneten "Kollokationen aus dem Kerncorpus" gehört die metallurgische Bedeutung nicht.
5) Deutsches Wörterbuch: "es wird dabei wol durchgehends an das gediegen von metall gedacht; die gediegene bildung ist eine art durchbildung, die den ganzen menschen oder geist durchdrungen hat."
6) Die Presse, Spectrum, 14. März 2009
7) Vgl: Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt/Main, 1997, S. 45