Elisabeth Leinfellner, Universität Wien
Vorbemerkung. Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag, den die Autorin
im Juni 2000 in Meersburg (wo Mauthner viele Jahre gelebt hat) gehalten
hat.
Vor langer, langer Zeit, als gerade der erster Mauthner-Artikel
der Autorin erschienen war, erreichte sie von der La Trobe Universität
in Australien ein Brief mit der Bitte um einen Sonderdruck. Nach ein paar
Wochen, nachdem der Sonderdruck abgesandt worden war, kam ein weiterer
Brief zurück, in dem es hieß: "Nun sind wir ein Klub mit zwei
Mitgliedern". Der Brief war von Gershon Weiler (später Professor in
Tel-Aviv), und wir zwei waren damals wahrscheinlich die einzigen in der
ganzen weiten Welt, die sich ernsthaft mit Mauthner beschäftigten.
1970 erschien Weilers Mauthner-Buch, und da heißt es: Machs Voraussage
(in einem Brief an Mauthner von 1902), dass sein, Mauthners, Werk eine
zwar langsame, aber unaufhaltsame, Wirkung haben werde, habe sich nicht
erfüllt. 1970 war dieser Satz noch wahr - heute ist er es nicht mehr.
(Mach hat dieselbe tröstende Voraussage allerdings auch an einen anderen
Philosophen geschrieben.) Mauthners Werk ist tatsächlich viele Male
totgesagt worden. Aber: Totgesagte leben länger!
Im folgenden werden zwei Themen behandelt: was denn Sprachkritik
bei Mauthner eigentlich sei, und “Mauthner und Wittgenstein”. Das erste
Thema werde ich unter dem Aspekt eines Rückzugs aus der romantischen
Form der Sprachkritik schildern. Die Sprache erscheint dann nicht mehr
als das heideggersche Haus des Seins, nicht mehr als ein Organismus, nicht
mehr als an sich gut oder böse. Wem dies im Zusammenhang mit dem zweiten
Thema, “Mauthner und Wittgenstein”, wie die Ankündigung einer Analyse,
die in zwei unzusammenhängende Teile zerfällt, zu sein scheint,
dem zitiere ich zunächst einen Satz aus Wittgensteins “Tractatus logico-philosophicus”
von 1921:
Alle Philosophie ist "Sprachkritik".
Im Falle des “Tractatus” ist dies jedoch trügerisch. Denn das vollständige Zitat lautet:
Alle Philosophie ist "Sprachkritik". (Allerdings nicht im Sinne Mauthners.) (1)
Das Frappierende an dieser ganzen Angelegenheit ist, dass Wittgenstein
seine Ansichten über die Sprache zwischen dem “Tractatus” und seinen
späteren Schriften weitgehend geändert hat, sodass seine Philosophie
und Sprachkritik zum Schluss doch in vieler Hinsicht “im Sinne Mauthners”
waren. Man frägt, warum. Die Antwort ist einfach: Wittgenstein vertrat
im “Tractatus” die These, dass es ein logisches Bild der Welt gäbe,
und dass die logische Struktur der Sprache eben dieses Bild sei.
Später ging Wittgenstein ein Licht auf, dass es mit der
Logik nicht so weit her sei, dass sie ein Luftschloss sei, dem etwas Wesentliches
fehle: eine dem natürlichen Sprachgebrauch adäquate Bedeutungslehre,
d.h. Semantik. Daher, so Wittgenstein, müsse man von der Kristallreinheit
der Logik in die raue Wirklichkeit der Sprache zurück:
Je genauer wir die tatsächliche Sprache betrachten, desto stärker wird der Widerstreit zwischen ihr und unserer Forderung. (Die Kristallreinheit der Logik hatte sich mir ja nicht ergeben; sondern sie war eine Forderung.) (...) Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt (...) Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden! (2)
Wittgenstein änderte also seine Auffassung der Sprache, und
es war eine Änderung in Richtung Mauthner. Mauthner andererseits hatte
den rauen Boden der empirischen Sprache und der empirischen Sprachwissenschaft
nie verlassen. Dadurch wird Mauthner als Vorgänger Wittgensteins auch
zu einem Ahnherrn einer der heute auf der ganzen Welt dominierenden philosophischen
Richtungen, der Analytischen Philosophie.
Sehen wir uns nun ein paar Beispiele von Sprachkritik an. An
Hand dieser Beispiele können wir auch gleich einige grundlegende sprachkritische
Konzepte Mauthners erörtern. Zunächst etwas aus einer Buch-Rezension:
Schwabs Sprache hat ihre Seele verkauft. Sie ist verdreckt, verhurt, eine Suffragette. Für Schwab ist sie nicht mehr Medium, sich auszudrücken. Sie beschreibt ihren eigenen Zustand: wie sie heuchelt, wie sie meuchelt und daß sie in den Amtsstuben zu Hause ist. Wo sonst ein Adjektiv genügen würde, wachsen ihre Satzperioden wie Tumore, die aussehen wie Mißgeburten im anatomischen Museum. (3)
Hier wird explizit die böse, heuchelnde und meuchelnde Sprache
als unabhängig von jeder Wirklichkeit einschließlich des Autors
dargestellt, auch wenn es "Schwabs Sprache" heißt. Denn es soll ja
wohl nicht gesagt werden, dass der Autor heuchelt und meuchelt. Eine Durchsicht
kultureller Zeitschriften aller Art liefert Beispiele zuhauf für diese
“romantische” Sprachkritik.
Ist dies Sprachkritik “im Sinne Mauthners”? Keineswegs. Die Sprache
erscheint in diesem Zitat im Sinne der Romantik als ein selbstständiger
Organismus. Aber nach Mauthner ist Sprache “zwischen den Menschen”, d.h.
ein Mittel der, wenn auch unvollkommenen, Verständigung, das ohne
den Menschen, der Bedeutung verleiht, nicht bestehen kann (4):
Einerseits ist die Sprache nur Individualsprache; andererseits ist die Sprache nur etwas "zwischen den Menschen", also zum mindesten etwas zwischen zwei Individuen. Es ist jedoch nur ein scheinbarer Gegensatz. Wir haben da jedesmal bei dem Wort Sprache eine andere Vorstellung. Zwei Individuen verständigen sich miteinander, weil die Sprachgewohnheiten eines jeden von ihnen denen des anderen ähnlich sehen. (5)
Anderswo heißt es: Esperanto sei keine Sprache, weil Sprachen
nur sozial, "zwischen den Menschen" entstünden und nicht von einem
Menschen als ganzes erfunden werden könnten. Auch Wittgenstein hat,
anders als z.B. Carnap, das Esperanto vehement abgelehnt (6).
“Die” Sprache als fertig vorliegendes System gibt es nach Mauthner
überhaupt nicht. Es soll jedoch nicht geleugnet werden, dass Mauthner
hie und da doch in diese romantische Sprachkritik gefallen ist, wider besseres
Wissen, so könnte man sagen. Ein Zitat besonders ist hier berühmt
geworden:
In bunten Farben schimmern unsere Sprachen und scheinen reich geworden. Es ist der falsche Metallglanz der Fäulnis. Die Kultursprachen sind heruntergekommen, wie Knochen von Märtyrern, aus denen man Würfel verfertigt hat zum Spielen. (...) Alt und kindisch sind die Kultursprachen geworden, ihre Worte ein Murmelspiel. (7)
Mauthner meint, dass erst die Dialekte die (Standard ) Sprache
erneuern könnten (ähnlich auch Gramsci) (8). In seinem Buch “Muttersprache
und Vaterland” spricht Mauthner z.B. vom alten, kranken und hässlichen
Latein und den schöneren, jüngeren und kräftigeren Muttersprachen.
Hier wird Sprache zu einem historischen Zeitpunkt gegen Sprache zu einem
anderen historischen Zeitpunkt oder eine andere Sprache, einen anderen
Dialekt ausgespielt. Abgelöst vom sie gebrauchenden Menschen erscheint
die Sprache dann - ganz im Gegensatz zu Mauthners sonstigen Auffassungen
- als ein mit Scheinleben begabtes Wesen, als ein Wesen, das blüht,
gedeiht und verfällt. Anderswo verwendet Mauthner den zwar wertneutraleren,
aber immer noch an der Organismus-Vorstellung haftenden Ausdruck des Alterns
der Worte, versteht darunter aber ihren abnehmenden Gebrauch, der aus ihnen
"tote Symbole" macht (9).
Wenn so eine romantische Sprachkritik betrieben wird, dann ist
es oft eine Sprachkritik, nach welcher die Sprache, nicht der Mensch, ethisch
böse oder gut ist. “Die” Sprache ohne Bezug auf den Menschen, der
sie gebraucht, kann aber keine ethischen, moralischen oder andere außersprachlichen
Werte haben. Mauthner hat explizit gesagt, dass es der Mensch ist, der
lügt, nicht die Sprache (10). Mit dieser alten und neuen romantischen
Sprachkritik werden wir also bei ihm nicht sehr weit kommen.
Sehen wir uns nun eine andere Form der Sprachkritik an, von einem
Autor, der gewöhnlich als der Inbegriff des Sprachkritikers angesehen
wird, von Karl Kraus.
Wieso kommt es
daß die wenigsten (Sprecher und Schreiber) wissen, daß
diese Wendung falsch ist? Weil sie sie nicht zu hören und vor allem
nicht zu sehen vermögen. (...) Der Vorgang des Kommens ist im “Wieso”
bereits enthalten, und die Wendung ist ein inveterierter Pleonasmus wie
ein alter Greis. (11)
Hier haben wir die Vorstellung, dass es eine grammatisch und stilistisch absolut richtige und eine grammatisch und stilistisch absolut falsche Sprache gibt. Mauthner ist dieser Vorstellung, ganz im Sinne der heutigen Linguistik, entschieden entgegengetreten: Auch wenn ihm selbst z.B. das Wort “stilvoll” nicht besonders gefalle, so sei es nun einmal da und könne nicht entfernt werden:
Man denke sich auf dem Schiff Tasmans oder Cooks, als der eine oder der andere Australien entdeckte, einen Akademiker, der zuerst ein Känguruh zu Gesicht bekommen und in seiner Weisheit ausgerufen hätte: das ist ein Fehler. (12)
In diese antipuristische Auffassung der Sprache passt es, wenn
Mauthner sagt, dass es richtige, z.B. grammatisch richtige, Sprache nicht
gibt: Entweder sprächen alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft richtig,
wie immer sie auch sprechen, oder niemand; entweder sprächen sie immer
richtig, oder nie (13). Grammatische Fehler könnten wir nur deshalb
machen, d.h. feststellen, weil es a priori normierende Schulgrammatiken
gibt (14). Nur eine tote Sprache, etwa die Ciceros, könne man im schulmeisterlichen
Sinne richtig sprechen (15).
Mauthner hat von Kraus offensichtlich nichts gewusst, kein Wunder:
Das erste Heft von Kraus’ “Die Fackel” erschien 1899, der erste Band der
“Beiträge” 1901. Wittgenstein hat “Die Fackel” geschätzt und
sie sich extra nach Norwegen nachschicken lassen, wie oft bedeutungsschwanger
angemerkt wird. Aber 1931 notierte er in seinem Tagebuch:
Ich habe mir oft den Kopf darüber zerbrochen daß ich nicht besser bin als Kraus & verwandte Geister & es mir mit Schmerzen vorgehalten. (16)
Heute sehen wir dies als ein Fehlurteil Wittgensteins an.
Was wir bis jetzt an Sprachkritik gesehen haben, ist weder mit
der modernen Sprachwissenschaft noch im Prinzip mit Mauthner vereinbar.
Es gibt eine Form der Sprachkritik, die linguistisch haltbar ist, aber
bei Mauthner nicht direkt vorkommt: Es ist die Kritik an einem pragmatischen
Sprachgebrauch, der z.B. verschleiernd ist, wie “Steuerreform” für
“Steuererhöhung”, oder ein Sprachgebrauch, der Menschen ihre Menschlichkeit
abspricht, indem er sie, wie die Nazis das getan haben, mit Ungeziefer
vergleicht.
Bleibt denn da überhaupt noch etwas für Mauthners Sprachkritik
zu tun übrig? O ja, denn Mauthners Sprachkritik ist erkenntnistheoretisch,
oder, wie man heute sagen kann, kognitiv - und da ist sehr viel zu tun.
Zwei Voraussetzungen sind hier besonders wichtig. Erstens: Nach
Mauthner ist - mit Einschränkungen - Denken soviel wie Sprache-Gebrauchen
oder Sprechen, eine Ansicht, die Wittgenstein ähnlich vertreten hat
(17).
Zweitens: Mauthner leugnet, dass die Sprache die Wirklickeit
jemals adäquat abbilden kann, sodass Sprache und Wirklichkeit für
alle Ewigkeit durch einen Abgrund voneinander getrennt sind. Und die Ursache
ist, dass Sprache stets metaphorisch abbildet.
Nach Mauthner bildet also die stets sensualistische, d.h. letztlich
stets auf den Sinnen aufbauende Sprache nur metaphorisch ab, nie wie ein
Bild oder eine Fotografie oder wie Wittgensteins weltspiegelnde Logik.
Hier ist ein Punkt, bei dem die Mauthner-Interpreten oft in die Irre gehen,
weil sie nicht verstehen, dass Mauthner hier mit “metaphorisch” etwas anderes
meint, als was wir gewöhnlich darunter verstehen.
Gewöhnlich verstehen wir nämlich unter Metaphern Bedeutungsübertragungen
auf Grund von Ähnlichkeitsbeziehungen. Analysieren wir einmal die
erste Strophe eines Gedichtes von Octavio Paz:
Sieh die weißen Inseln am Himmel!
Schau die weißen Federn ihrer Vögel,
wie sie durchs Gezweig der Eiszapfen fliegen,
schau, wie sie segeln ud vergehn,
ein gespenstisch flüchtiger Archipel.
Inseln des Himmels, ein Hauch nur, schwebend in einem Hauch
- mit leichtem Fuß, leicht wie die Luft
dort die Ufer betreten, nur eine Fährte lassen
wie der Schatten des Windes über dem Wasser!
Und wie die Luft selbst zwischen den Blättern
sich verlieren im Laubwerk aus Dunst
und wie die Luft nur Lippen sein ohne Leib,
Leib ohne Gewicht, Kraft ohne Ufer! (Octavio Paz, “Wolken”)
Die Ähnlichkeitsbeziehungen sind hier klar zu erkennen. Metaphern
haben nach der gewöhnlichen Auffassung eine bestimmte Struktur: Jede
Metapher enthält sowohl übertragende, d.h. eigentlich metaphorische,
als auch nicht übertragende Elemente, d.h. Worte mit der gewöhnlichen
und Worte mit der metaphorischen Bedeutung. Wenn wir uns z.B. in Pazs Gedicht
die (Sub ) Metapher “die weißen Inseln am Himmel” ansehen, dann zerfällt
diese Metapher in den eigentlich metaphorischen Ausdruck “Inseln” und die
nicht-metaphorischen Ausdrücke “weißen” und “am Himmel”.
Mauthner hat “Metapher” auch in diesem traditionellen Sinne verwendet
und so Bedeutungswandel auf metaphorische Prozesse zurückgeführt
(18). Das aber ist es nicht, was er damit meint, dass alle Sprache metaphorisch
sei. In diesem Falle handelt es sich um Metaphorisch im funktionalen Gegensatz
zu Strukturell oder Isomorph. Wir verdeutlichen uns dies besser, wenn wir
“metaphorisch” durch den alten Ausdruck “uneigentlich” ersetzen. Die Adjektive
beziehen sich direkt, aber dennoch metaphorisch, auf unsere Sinneseindrücke;
Substantiva fassen Adjektiva zusammen (vgl. unten). Daher die mauthnersche
Redeweise von den "Metaphern von Metaphern" der gewöhnlichen Sprache
und den "Bildern von Bildern von Bildern" der Dichtung (19). Strukturell
bilden nach Mauthner die mathematischen Terme und Strukturen ab, die, wie
er sagt, "beinahe deiktisch", d.h. hinweisend sind; die Mathematik ist
daher nach ihm keine Sprache (20). Nach Mauthner, zum Unterschied zum wittgensteinschen
“Tractatus”, kann die Sprache nicht einmal ihrer logischen oder grammatischen
Struktur nach strukturell oder isomorph abbilden. Zu dieser Erkenntnis
kommt Wittgenstein letztlich auch, wie gesagt.
Diese erkenntnistheoretisch motivierte Sprachkritik findet sich
bei Mauthner in mehreren Ausprägungen: als Kritik am Leerlauf der
Sprache, als Kritik an Hand der Formenlehre, d.h. der syntaktisch-morphologischen
Grammatik, und als Kritik an Hand der Bedeutungslehre, der Semantik.
Fehlt sogar der metaphorische Bezug zur Wirklichkeit, dann ist
die erste Form der erkenntnistheoretisch motivierten Sprachkritik die Kritik
am Leerlauf der Sprache, oder, wie Mauthner sagt, am “Schwatzvergnügen”,
weidlich benützt sowohl im Alltag als auch in der Politik. Mauthner
hat einmal festgestellt, dass die meisten Menschen sich gewissermaßen
nur der Nominaldefinitionen bedienten, d.h. Sprache nur durch Sprache gelernt
haben, um sie dann einfach abrollen zu lassen (21). Dieses Abrollen-Lassen
ist das “Schwatzvergnügen”. Es wird am besten verkörpert durch
Phrasen wie “Wie geht es Ihnen” - “Danke, gut”; auf den österreichischen
Wahlplakaten aus dem Jahre 1999 mit “Die SPÖ - der richtige Weg”;
“Die ÖVP - der bessere Weg”; das mechanische Erzählen von Geschichten,
die man schon 100mal erzählt hat, usw.
Es folgt nun eine Diskussion derjenigen, vielleicht interessanteren,
Form der erkenntnistheoretisch motivierten Sprachkritik, wo eine metaphorische
Abbildung stattgefunden hat.
Am besten verstehen wir, was Mauthner mit seiner Sprachkritik
gewollt hat, wenn wir sie mit seinem Konzept der “drei Bilder der Welt”
verknüpfen.
Wenn die Sprache Denken ist, dann müssen auf irgend eine
Weise die Grundfunktionen aller Sprachen mit erkenntnistheoretisch relevanten
oder kognitiven Funktionen verknüpft sein, bzw. mit den Bedeutungen.
Mauthner hat drei solcher Grundfunktionen oder Kategorien unterschieden,
die adjektivische, die verbale und die substantivische. Diesen drei kognitiven
Kategorien entsprechen drei Bilder, die wir uns von der Welt machen, aber
nur eine empirisch existierende Welt: die adjektivische. Man sieht, dass
Mauthner "adjektivisch" sowohl in Verbindung mit "Welt" als auch mit "Kategorie"
oder "Bild" verwendet.
Wir wollen hier eine kleine historische Notiz machen: In "The
Giants of Pre-sophistic Greek Philosophy", einem Werk des Stöhr-Schülers
Cleve, wird zwischen substantivischer, adjektivischer, verbaler, Subjekt-Prädikat
, Subjekt-Objekt etc. Philosophie unterschieden. Cleve beruft sich auf
Stöhr und auf Wahle. Mauthner hat Wahles "Das Ganze der Philosophie
und ihr Ende" (1894) gekannt, ebenso Stöhrs "Algebra der Grammatik"
(1898), welche er aber negativ beurteilt hat, im Gegensatz zu Wahles Buch
(22).
Die drei mauthnerschen kognitiven Kategorien ähneln den
grammatischen Kategorien gewisser Sprachen; man muss sich aber hüten,
sie direkt mit den grammatischen Kategorien des Adjektivs, des Verbs und
des Substantivs zu identifizieren (23). Dies sieht man schon daran, dass
sich nach Mauthner die grammatischen Kategorien in den verschiedenen Sprachen
keinesfalls decken müssen. Andererseits sind die drei kognitiven Kategorien
für alle Menschen gleich, kommen aber auch schon beim Tier vor, zumindestens
die Kategorie des Adjektivischen und auch des Substantivischen. Mauthner
gibt selbst viele sprachkritische Beispiele, wo grammatische und kognitive
Kategorie schon im Rahmen ein und derselben Sprache nicht übereinstimmen,
etwa: Die Substantiva “(das) Blitzen” und “(der) Blitz” gehören ebenso
der kognitiven Kategorie des Verbalen an wie das Verb “(zu) blitzen” (24).
Mit seinen drei Kategorien oder Bildern will Mauthner also nicht
sagen, dass es eine universale Grammatik gibt. Sondern: In jeder Sprache
werden (i) als Sinneswahrnehmungen und Empfindungen repräsentierte
Eigenschaften, (ii) das Werden, die Veränderung und zweckgerichtetes
Handeln, und (iii) Ursachen Wirkungen, bzw. ganz allgemein “Dinge”,
“Substanzen” als Grunderfahrungen des Menschen metaphorisch abgebildet;
diese Abbildung kann die kategorialen grammatischen Formen von Adjektiven,
Verben und Substantiven annehmen, muss sie aber nicht annehmen.
Die physikalisch-physiologische Grundlage dieser drei Bilder
fand Mauthner in Ernst Machs Buch “Beiträge zur Analyse der Empfindungen”
(1886 u.ö.). So heißt es in den “Antimetaphysischen Vorbemerkungen”
zu diesem Buch, dass wir manche der vielen Sinnesempfindungen, die auf
uns einströmen, zu beständigeren Komplexen zusammensetzen, welche
wir “Körper” nennen:
Was auf einmal vorgestellt wird, erhält eine Bezeichnung, einen Namen. (25)
Finden wir einen Komplex von Eigenschaften wie: flüssig, verdampfend,
klar/durchsichtig, trinkbar, gefriert bei Null Grad etc., dann nennen wir
ihn “Wasser”.
Diese drei Bilder der Welt sind also mit den drei Sprachen oder
Sprachkategorien korreliert, aber nicht absolut. Das adjektivische Bild
ist das einzige, das ein direktes Gegenstück in der empirischen, sinnlichen
Welt hat. Die adjektivische Welt ist punktuell und ohne räumliche
und zeitliche Ordung. Die adjektivische Sprache ist die eigentliche Sprache
der Poesie, aber auch der Wissenschaft, was deren empirische Grundlagen
betrifft.
Die verbale Welt ist die Welt der Veränderung, des Werdens
und Vergehens, der Zeit, der Kausalität. In ihr wird die adjektivische
Welt geordnet; sie ist also ein Bild eines Bildes, eine Metapher einer
Metapher, wie Mauthner auch sagt.
Deutlich zeigt sich diese Projektion einer sprachlichen Kategorie
in die adjektivische Welt, die Metapher einer Metapher, beim Substantiv.
Wie Mauthner sagt: Das "freche Menschenwort" erschafft sich, "das Wort
dem Worte", eine im zweiten Grade anthropomorphe Sprache und damit die
substantivische Welt (26). Denn ein bestimmtes Bündel von Adjektiven,
das einem Bündel von empirischen Eigenschaften entspricht, ersetzt
man durch ein Substantiv, das in die Wirklichkeit zurückprojiziert
wird, und dort “Dinge”, “Substanzen” vortäuscht.
Die substantivische Welt ist die unwirkliche Welt des Raumes
und des Seins (27); sie ist die Welt der Dinge und der im Alltagsleben,
aber oft auch in der Wissenschaft personifizierten Ursachen und Kräfte.
Die substantivische Welt ist die mythologische Welt, die Welt der Metaphysik,
die Welt der Götter und der Geister, und letztlich auch die "ehrliche
substantivische Scheinwelt" der Mystik (28). Die
substantivische Scheinwelt, von der das Gedächtnis der Menschheit nichts wusste, bevor es sich das Wort angeschafft hatte,
wie Mauthner sagt (29), ist also die Welt nicht nur der metaphysischen
Dinge, der Götterdinge und der Teufeldinge, der personifizierten “
heiten”, “ keiten” und “ schaften” und der personifizierten Kausalursachen,
sondern auch derjenigen Dinge, die wir gewöhnlich - und nach Mauthner
und auch nach Mach fälschlicherweise - "empirische Dinge" nennen:
Auch die empirischen Einzeldinge, die wir aus unserer unmittelbaren adjektivischen
Erfahrung zusammensetzen, sind, ebenso wie die Substantive, die sie bezeichnen,
nur Symbole; sie sind Täuschungen (30). Der trügerische Charakter
der abstrakten, religiösen und metaphysischen Substantive ist nur
leichter aufzuzeigen. Diesen mögen zwar Adjektive zugeordnet sein;
aber es sind Adjektve, denen in der Wirklichkeit nichts entspricht oder
gar nichts entsprechen kann - dann z.B., wenn die Adjektive widersprüchlich
sind. Mauthner hat daher erkenntnistheoretisch die Kategorie des Substantivs
für überflüssig gehalten; gleichzeitig hat er aber eingesehen,
dass man die Alltagssprache nicht reformieren kann (31).
Wenn eine derartige Sprachkritik gegen die Substantivierung als
Verdinglichung ankämpft, so ist der Verlust der Substanz in der modernen
Physik deutlich vorgezeichnet. Der Physiker Eddington hat einmal gesagt:
Wir hätten die - substanzhafte - Materie ins Molekül und dann
ins Atom gejagt, und von dort in die Elektronen und Protonen; im Wirbel
der Elementarteilchen sei sie schließlich verloren gegangen (32).
”Are Quanta Real?” - “Gibt es die Quanten wirklich?” ist der Titel eines
berühmten Buches von Jauch (1973). Geradezu sprachkritisch im mauthnerschen
Sinne ist folgende Bemerkung Vernon Mountcastles, eines der bedeutendsten
Neurophysiologen der Gegenwart:
I don't believe there is any such thing as "the mind." What you call the mind is a very complex aspect of brain function. I frequently use the word minding as a verb, rather than "the mind" as a separate entity. (33)
Für andere Beispiele sprachkritischer Ansätze vgl. C. J. Adams Buch "The Sexual Politics of Meat", wonach der englische Sprachgebrauch, nach welchem Tiere mit "it" bezeichnet werden, in den englischsprachigen Ländern wesentlich zur Unfähigkeit, sie als lebende Wesen zu sehen, beigetragen hat (34). Vgl. auch die Kritik der Substantivierung (Reifikation) des Lebens in Illich (1992). In seiner Autobiographie erzählt der Mathematiker Carl Menger, dass man ihm Husserl empfohlen habe, dass er aber schon am Anfang von Husserls Buch “Ideen zu einer Phänomenologie” beim Satz
Wesen ist das im ureigenen Sein einer Sache als ihr Was Vorfindliche. (35)
gestrauchelt sei. Sie sehen hier den Marsch der Substantive, von denen
eigentlich keiner weiß, was sie bezeichnen sollen.
1936 schreibt Wittgenstein in seinem Tagebuch - und es klingt,
als ob es von Mauthner wäre:
Denk wie uns das Substantiv “Zeit” ein Medium vorspiegeln kann; wie es uns in die Irre führen kann, daß wir einem Phantom (...) nachjagen. (36)
Die Geschichte der Wissenschaften lehrt uns, dass sie u.a. auch
ein Prozess ist, in dem essentielle, d.h. substantivierende Auffassungen
von prozessualen, funktionalen abgelöst werden. In der Wissenschaft
ist diese Art von zumindest impliziter Sprachkritik also gute Praxis: Jeder
Empirismus, der die platonistische Existenz von Ideen, oder heute besser:
nicht-psychologischen intentionalen Objekten, ablehnt, jede konstruktive
Form der Mathematik, die nicht mit einem an sich seienden Unendlichen arbeiten
will, hat eine sprachkritische Seite. Wenn es heute eine Psychologie ohne
substantivierte, d.h. dinghafte, Seele, ohne substantiviertes Gedächtnis
und ohne substantiviertes Ich, eine Rechtswissenschaft ohne an sich seiendes
Recht, eine Politische Wissenschaft ohne die Fiktion eines an sich existierenden
Staates, eine entmythologisierte Theologie, eine Naturwissenschaft ohne
personifizierte Ursachen und Kräfte und ad hoc angenommene Dinge oder
Stoffe, eine Semantik ohne dinghafte und doch nicht empirische Bedeutungen,
eine nicht-essentialistische Geschichtsschreibung gibt, dann setzt dies
voraus, dass ein mauthnersches sprachkritisches Programm angewandt wurde
(37).
Ebenso zeigt eine auf die Philosophie gerichtete klärende
Sprachkritik, dass Aristoteles seine Kategorien der griechischen Umgangssprache
entnommen und dann in die Wirklichkeit projiziert hat, so, als seien sie
ontologische Kategorien. Eine Philosophie ohne “Wesen” hat eine sprachkritische
Komponente (38). Wie hat Wittgenstein gesagt?
Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen. (39)
Man könnte vielleicht glauben, dass die Sprachkritik eines
Tages ihre Aufgabe erfüllt haben und dann unnötig sein wird.
Aber in der Philosophie gehen nach wie vor das gespensterhafte Sein und
Ich um (40); in der Soziologie und Politik wird immer noch nach kultureller
und sonstiger Identität gerufen; noch immer glaubt man, dass es “den”
Staat und “die” Nation als eine Art Objekt gäbe; noch immer meint
der Feminismus, dass es eine essentiell weibliche Welterfahrung gibt, und
dass es eine esentiell weibliche Wissenschaft geben solle - all dies ist
nicht besser und nicht anders als jene Erscheinungen, die in der Vergangenheit
zur Sprachkritik geführt haben.
Mauthner hat spekuliert, ob jede dieser drei Sprachen auch für
sich vorkommen könnte; natürlich ist er als Empirist zu dem Ergebnis
gekommen, dass dies unmöglich sei.
Hier eine hübsche literarische Notiz zu der vorangehenden
Analyse. Der argentinische Schriftsteller Borges war von Mauthner außerordentlich
beeindruckt. In einer seiner fantastischen Erzählungen, "Tlön,
Uqbar, Orbis Tertius", erzählt er die Geschichte der Sprachen von
Tlön. Auf der nördlichen Halbkugel entält die Sprache nur
Verben; die Welt erscheint daher als eine zeitlich geordnete Folge von
Handlungen. Anstelle zu sagen:
Über dem Fluss ging der Mond auf.
sagt man so etwas wie:
oberhalb strömen mondet (es).
wobei das “es” nur eine deutsche Hilfskonstruktion für das unpersönliche Verb ist. Vergessen wir nicht, dass man im Lateinischen einfach sagen kann:
tonat (“es donnert”)
Auf der südlichen Halbkugel spricht man eine rein adjektvische Sprache. Anstelle von “Mond” sagt man so etwas wie
rund-luftig licht auf dunkel
In Tlön können auf diese Weise imaginäre Objekte
erzeugt werden, indem z.B. die Adjektive für die aufgehende Sonne
und die für den entfernten Schrei eines Vogels zu einem Komplex zusammengefügt
werden. Dieses Vorgehen ist aus der Mystik und der manieristischen Literatur
wohlbekannt, entspricht aber auch Ernst Machs Philosophie - Mach hatte
großen Einfluss auf Mauthner. Wenn es eine rein adjektivische Sprache
gäbe, dann wäre sie die ideale Sprache des fin de siecle und
seiner pointillistischen Tendenzen gewesen.
In Tlön sind Substantive stets und überall metaphorisch.
Es wirkt wie eine poetische Paraphrase Mauthners (und Machs), wenn Borges
sagt: In Tlön ist es unmöglich zu behaupten, dass man am Montag
etwas verlieren und dasselbe “etwas” am Freitag wiederfinden kann (41).
(Es ist nicht recht verständlich, dass gerade dieser enge Zusammenhang
zwischen Mauthner und Borges in Dapias Buch von 1993 nicht erwähnt
wird.)
Ich möchte noch einige zusätzliche Beispiele der mauthnerschen
Sprachkritik auf der Grundlage der drei grammatisch verwirklichten Kategorien
des Adjektivischen, Verbalen und Substantivischen geben. Nach Mauthner
sind gewisse Worte den falschen kognitiven Kategorien oder auch Sub-Kategorien
zugeordnet. Fassbar wird die Zugehörigkeit eines Terms zu einer unpassenden
kognitiven Kategorie gerade durch seine Zugehörigkeit zu einer entsprechenden
grammatischen Kategorie. Ein Teil dieser fehlerhaften Zuordnungen ist im
Prinzip reparabel: Wenn die Worte “Geist” und “Seele” schon verwendet werden
müssen, dann sollen sie kognitiv der verbalen Kategorie zugeordnet
werden, d.h. als Tätigkeiten, Funktionen, zweistellige Beziehungen
etc. angesehen werden, nicht als Dinge. Statt "Seele" könnte man nach
Mauthner vielleicht verbal (und kognitiv) "Geseel" sagen und damit den
Tätigkeitscharakter der Seele andeuten, so wie "Gehör" die Tätigkeit
des Hörens durchklingen lässt (42).
Dann können aber den Seelen und den Geistern keine absoluten
Eigenschaften zugeschrieben werden:
die Seele ist unsterblich.
(...) die Teufel (sind) viereckig. (43)
Das Davonlaufen des Hasen ist rosenrot. (44)
Dass die Seele unsterblich sei, können wir nach Mauthner ebensowenig
sagen, wie dass die Teufel viereckig seien. Der Satz "Die Seele ist unsterblich"
sei nicht falsch - Mauthner betont dies ausdrücklich - sondern unverständlich,
d.h. unsinnig, ebenso unverständlich und unsinnig wie (Mauthners Beispiel)
"Das Davonlaufen des Hasen ist rosenrot".
Anders ausgedrückt: “Seele”, “Geist” und ähnliche Worte
gehören der verbalen Kategorie an. Daher können sie weder mit
anderen Verben zusammen auftreten, noch mit bestimmten Adjektiven. Man
könnte also nie und nimmer sagen, dass die Seele den Körper verlässt:
Man sagt, die Seele verläßt den Körper. Um ihr dann aber jede Ähnlichkeit mit dem Körper zu nehmen, und damit man beileibe nicht denkt, es sei irgend ein gasförmiges Ding gemeint, sagt man, die Seele ist unkörperlich, unräumlich; aber mit dem Wort “verläßt” hat man schon alles gesagt.
Nur ist das Zitat von Wittgenstein, nicht von Mauthner (45).
Wittgenstein hat sich manchmal mit dem Problem beschäftigt,
wie Sprachen aussehen müssten, denen bestimmte, uns vertraute Sprachformen
fehlen. Er benützt dazu die Fiktion von imaginären Völkern
und ihren imaginären Sprachen - aber jeder Übersetzer/in kennt
das Dilemma! Mauthner hat, wie zu erwarten, lange vor Quine, behauptet,
dass es völlig adäquate Übersetzungen gar nicht geben könne.
All dies gibt eine gute Vorstellung von Mauthners Sprachkritik;
dabei wurden auch einige Beziehungen zu Wittgenstein gestreift. Es ist
unmöglich, hier sämtliche Beziehungen zu Wittgenstein zu diskutieren;
ich möchte daher eine summarische Aufzählung geben:
GEMEINSAME PHILOSOPHISCHE ANSICHTEN MAUTHNER-WITTGENSTEIN
...
Alle Philosophie ist Sprachkritik.
Die Philosophie kann (soll) keine “ewigen” Systeme aufstellen.
Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen der Welt.
Das Objekt der Untersuchung ist die natürliche Sprache.
Will man die Sprache verstehen, müssen die außersprachlichen Kontexte (Lebensformen) berücksichtigt werden.
Die natürliche Sprache ist in Ordnung, wie sie ist - keine Korrekturen möglich oder wünschenswert.
Die Logik ist eine ungeeignete Methode der Analyse.
Sprachkritik ist nicht Sprachreform, sondern "übersichtliche Darstellung" (Wittgenstein) oder (übersichtliche) semantisch-historische Darstellung (Mauthner).
Die Sprache ähnelt einem Spiel mit Regeln (Mauthner), oder sogar einem Schachspiel (Wittgenstein).
Die gewöhnliche Auffassung von Regeln führt zu einem Paradox (Mauthners Anekdote vom Matschakerl; Wittgensteins Regelparadox).
Es gibt keine a priori Regeln der Sprache, sondern diese adaptieren sich an den Sprachgebrauch.
Manchmal muss man Regeln folgen, ohne sie zu verstehen (Verhinderung des sogenannten “Regelparadoxes”).
Sprechen oder Sprache ist Denken.
Sprache/Bedeutung ist Sprachgebrauch.
Bedeutungen sind unscharf.
Die substantivische Struktur führt zur unzulässigen Verdinglichung.
Das “Wesen” (essentia) existiert nur sprachlich.
Die Leiter-Metapher.
Ethik und Ästhetik sind keine Wissenschaften.
Jenseits der Sprache (Mauthner), bzw. jenseits der naturwissenschaftlichen Sprache (Wittgenstein) gibt es im Prinzip nur Mystik und Schweigen.
Eine Privatsprache gibt es nicht.
Esperanto ist keine Sprache.
Lichtenberg war ein bedeutender Sprachphilosoph.
...
AUSSPRÜCHE, BEI DENEN MAN RATEN KANN ODER KÖNNTE, OB SIE VON MAUTHNER ODER WITTGENSTEIN SIND:
(1/a) Alle Philosophie ist "Sprachkritik”.
(1/b) Alle kritische Philosophie ist Kritik der Sprache.
(2/a) Die Sprache ist geworden wie eine große Stadt. Kammer an Kammer, Fenster an Fenster, Wohnung an Wohnung, Haus an Haus, Straße an Straße, Viertel an Viertel, und das alles ist ineinander geschachtelt, miteinander verbunden (...)
(2/b) Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.
(3/a) Will man aber bei der Zerstörung eines alten Baues (i.e., der Denk”gesetze” = der Sprache, EL) etwas Tüchtiges lernen, so wird es sich immer empfehlen, ihn Stein für Stein abzutragen.
(3/b) Unsere Betrachtung ist daher eine grammatische. Und diese Betrachtung bringt Licht in unser Problem, indem sie Mißverständnisse wegräumt. Mißverständnisse. die den Gebrauch von Worten betreffen (...) der Vorgang hat manchmal Ähnlichkeit mit einem Zerlegen.
(4/a) Denken ist Sprechen (...)
(4/b) Wenn ich aber all das in Worten sagen wollte, was ich durch (...) auszudrücken beabsichtige, so müßte ich denselben (...) niederschreiben, den ich zuvor geschrieben habe.
(4/c) "Der Zweck der Sprache ist, Gedanken auszudrücken." (...) Welchen Gedanken drückt also z.B. der Satz "Es regnet" aus?
(5/a) Wir wissen, daß es der Sprache wesentlich ist, unbestimmt und nebelhaft zu sein. Auch der konkreteste Begriff ist noch verschwommener als die Wirklichkeit (...)
(5/b) (...) jedes uns wohlbekannte Wort (...) habe in unserm Geiste schon einen Dunstkreis, einen "Hof" schwach angedeuteter Verwendungen in sich. - So, als wäre auf einem Gemälde jede der Figuren auch von zarten, nebelhaft gezeichneten Szenen (...) umgeben (...)
(6/a) (...) weil der kritische Geist die stärkste Form des menschlichen Verstandes darstellt, so wird in seiner Abhängigkeit von den Worten seiner Zeit die Grenze der Menschheit überhaupt liegen. Es gibt keine Offenbarungen und keine prophetischen Eingebungen. Es gibt nur etwa Mystik.
(6/b) Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. (...)
Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.
(7/a) Sprache ist Sprachgebrauch.
(7/b) Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.
(8/a) Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.
(8/b) Und spräche die Natur, spräche sie nicht unsere Sprache.
Auflösung
(1/a) Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus: 4.0031.
(1/b) Mauthner, Selbstdarstellung: 15.
(2/a) Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache: Band 1,
27.
(2/b) Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen: Teil 1, § 18.
(3/a) Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache: Band 3,
358.
(3/b) Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen: Teil 1, § 90.
(4/a) Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache: Band 3,
x.
(4/b) Tolstoi über den Anna-Karenina-Roman.
(4/c) Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen: Teil 1, § 501.
(5/a) Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache: Band 3,
15.
(5/b) Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen: Teil 2, vi.
(6/a) Mauthner, Geschichte des Atheismus im Abendlande 2: 566.
(6/b) Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus: 5.6, 6.522.
(7/a) Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache: Band 1,
24.
(7/b) Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen: Teil 1, § 43.
(8/a) Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen: Teil 2, xi.
(8/b) Mauthner, Wörterbuch der Philosophie: Band 1, 340.
So beginnt mit Mauthner eine neue Periode der Philosophie, einer Philosophie, die das 20. Jh. bestimmt hat. Die traditionelle Philosophie suchte nach Ideen, Konzepten, Begriffen, die irgendwo existieren sollten. Mauthner hingegen berief sich auf das, was man empirisch überprüfen kann, die Sprache. Andererseits predigte Mauthner nicht den vollkommenen Rückzug in die Sprache, noch dazu in die monologische Sprache, wie dies die klassische Analytische Philosophie tut. Es war ihm klar, dass jede Bedeutungslehre oder Semantik eine kognitive Komponente hat; daher seine Betonung des Gedächtnisses. Erst heute hat man sich in der kognitiven Bedeutungslehre von der klassischen Analytischen Philosophie abgewandt, in einer Wendung, die Mauthner nicht zu vollziehen brauchte.
ANMERKUNGEN
(1) TLP: 4.0031.
(2) PU: Teil 1, § 107.
(3) Schödel 1992: 58.
(4) Spr: 27.
(5) B2: 117.
(6) Spr: 42; W3: 316ff, “Universalsprache”; VB: 105;
Bouwsma 1986: 47.
(7) B1: 230. Vgl. auch B1: 27.
(8) KK: 106. Für das Verhältnis von Schriftsprache
und Mundart vgl. B3: 199ff; MuV: 48ff.
(9) Vgl. etwa B1: 51, 54ff. "Tote Symbole" ist auch der
Titel einer mauthnerschen Aufsatzsammlung von 1892.
(10) B1: 84.
(11) Kraus 1987: 22.
(12) B2: 141.
(13) B2: 165ff.
(14) B2: 153.
(15) B2: 125f, 339.
(16) DB: 55.
(17) B1: 176, 184ff, 191ff, 213, 226f; B2: 61, 661; Spr:
114; TLP 4; PB: § 5; PU: Teil 1, § 501. Vgl. auch DB: 52, 58.
(18) Vgl. B1: 210ff; B3: 240; W2: 60, "Griechisches Philosophieren
(Aristoteles)"; Spr: 109.
(19) B1: 129, 499; Spr: 109.
(20) B1: 646f. Vgl. auch B3: 153ff, 173; W1: 364ff, "Einheit";
W3: 319f, Fn. 1, "Universalsprache"; DBW: 136ff.
(21) B1: 149, 444.
(22) Cleve 1965: Bd. 2, 540ff; B1: 308, 695; B3: 4, 258,
444.
(23) B3: 9ff, 94ff; W1: 367f, "Einheit", 461 "falsch";
W2: 502ff, "Ordnung (ordinär"); W3: 362ff, "verbale Welt"; DBW: 10,
46ff, 156ff.
(24) B2: 22f.
(25) Mach 1981: 137. Vgl. auch Zuckerkandl 1981: 171.
(26) W1: 18f, "adjektivische Welt". Vgl. auch W1: 48,
"Analogie". Vgl. oben über “Metaphern von Metaphern” und “Bilder von
Bildern von Bildern”, Fn. 19.
(27) DBW: 58ff; W3: 264, "substantivische Welt".
(28) DBW: 16, 54, 77f, 165; W1: 19, "adjektivische Welt";
W2: 504, "Ordnung (ordinär)"; W3: 262ff, "substantivische Welt".
(29) W1: 19, "adjektivische Welt". Vgl. auch A4: 437ff.
(30) B3: 9, 84ff, 98f; W1: 298f, "Ding"; W3: 262, "substantivische
Welt", 336ff, "Ursache"; DBW: 35f, 54, 77f.
(31) B3: 507; so auch Polenz 1982: 77.
(32) Vgl. auch W. und E. Leinfellner 1978: 40f.
(33) Mountcastle 1991: 90.
(34) Zitiert nach Adams 1992: 12.
(35) Menger 1994: 32.
(36) DB: 74f.
(37) Vgl. z.B. B1: 160ff, 256, 303f, 313; W3: 24ff, "Recht";
Spr: 10, 65; DBW: 160.
(38) B3: 7, 289ff, 627f; W2: 63ff, "Griechisches Philosophieren
(Aristoteles)"; DBW: 22.
(39) PU: Teil 1, § 371.
(40) Vgl. W3: 165ff, "Sein".
(41) Borges 1964b: passim.
(42) A1: 42. Vgl. oben über "minding", Fn. 33.
(43) A1: 41.
(44) A1: 48.
(45) Z: § 127.
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