Während die verbalen Graffiti der deutschsprachigen Deutschen,
Schweizer und Österreicher schon zu mehreren Untersuchungen - mit
Nutzfolgerungen für die Kenntnis der Jugendlichen selbst - herangezogen
wurden, hat sich die Graffiti-Forschung mit den inoffiziellen Äußerungen
der ausländischen oder auslands-stämmigen Jugendlichen, zumindest
in Österreich, meines Wissens nach noch nie beschäftigt.
Ich bin mit rund 16 000 Belegen in Dia-Form im Besitze des größten
Verbal-Graffiti-Archivs der Welt. Das Metrial habe ich selbst im Laufe
von bisher (= Anfang 2000) achtzehn Jahren hptschl. in Österreich,
aber auch in Deutschland und in der Schweiz zusammengetragen. Diese Spurensuchen
sind auch ein Versuch, Städte ganzheitlicher aufzufassen und in der
Folge über das vorgefundene Material Bereiche der Lebenswirklichkeiten
v.a. in Österreich systematisch zu erschließen.
Die Zahl der Fundorte zu diesem Thema ist praktisch unbegrenzt. Die
Sammlung wird laufend erweitert.
Bezüglich des vorliegenden ersten Teils der Untersuchung schien
mir die Sammlung einen Umfang erreicht zu haben, der trotz geringer Mängel
in Vollständigkeit und Kontinuität hinreichend dazu aufforderte,
sie zu ordnen und zu bearbeiten. Eine Zusammenstellung und Bearbeitung
dieses Umfangs und dieser Art kann auf keine Vorbilder zurückgreifen
und gestaltete sich entsprechend mühsam.
Das Material ist teils unsystematisch gesammelt, deshalb aber beiweitem
nicht zufällig und daher aussagekräftig, zumal es sich ja ständig
in Abwandlungen wiederholt.
Was Interkulturalität betrifft ist das Konvolut der Belege in den
letzten 15 Jahren auf ca 2400 angewachsen. Hauptsprachen sind Deutsch,
Englisch, Türkisch, Serbisch und Kroatisch. Zu den Sprachen, die in
Graffiti nicht markant oft, aber trotzdem mehrfach erscheinen, zählen
Polnisch, Rumänisch, Tschechisch, Ungarisch, Französisch, Spanisch,
Italienisch, Schwedisch, Chinesisch, Russisch und Arabisch. An Ländern
werden in Graffiti allen voran Österreich, Deutschland, die Türkei,
Rest-Yugoslawien, Kroatien, die USA, Albanien, Frankreich, Italien, Israel
und Polen genannt. Seltener scheinen die Schweiz, das ehemalige Südafrika,
Nicaragua, El Salvador, Chile, Persien, Liechtenstein, Rumänien, Slowenien,
Spanien, England, Irland, Ungarn und die ehemalige DDR auf. Die Emission
der Graffiti ist teils abhängig vom Weltgeschehen oder auch von Ereignissen
mikrosoziologischen Belangs. Vereinzelt aufgefunden wurden u.a. Nennungen
von Palästina, Swasiland, Vatikan. Nennungen von Phantasieländern
wie bsplw. Takka-Takka-Land kommen immer wieder vor.
Das Gros der fremdsprachigen Botschaften ist, wie bei den in deutsch formulierten, schon vom Erscheinungsbild her zu sterotyp, um sie alle fotografisch festzuhalten. Ich verfuhr im Laufe der Jahre so, daß ich solche, die von der Länge oder Form her außergewöhnlich schienen, festhielt, zugleich jedoch exemplarisch repräsentative Aufnahmen von den Stereotypen in den einzelnen Landeshauptstädten und anderen Ballungzentren anfertigte. Die Dokumente sind zum ersten Mal erfaßt.
Nach meiner in 18 Jahren gewachsenen Erfahrung liegt das meinem Archiv beigefügte fremdsprachige Material in Gesamtösterreich um zehn Prozent von den fremdspachigen Botschaften, die tatsächlich in Österreich an die Wände emittiert wurden. Auf diesen Quellen, den interkulturellen Graffiti in deutscher Sprache und den sonstigen Eigenbeobachtungen seit 1982/83 fußen die ersten Interpretationen in dieser Arbeit.
Angestrebt war als erster Schritt eine Ordnung des fremdsprachigen Dokumentationsmaterials und dessen Gegenüberstellung mit dem deutschsprachigen, um
a) Unterschiede in den inschriftlichen Äußerungen von MigrantInnenjugendlichen
und österreichischen Jugendlichen erkennen
zu können und
b)zu erkennen, ob es Sinn macht, das Material pädagogisch einzusetzen.
Prospektiv: Ausgehend vom Ergebnis dieser Arbeit soll nach ausreichender
systematischer Beobachtung genau festzulegender Plätze nach Antworten
auf differenzierte Fragen zur Problematik der Interkulturalität, Migration
und Integration gesucht werden, wobei auch die Fragen nach geschlechtsspezifischen
Unterschieden eingehender berücksichtigt werden sollen als im ersten
Verfahren.
Die in den Detailstudien gewonnenen Erkenntnisse werden gesammelt und
in einen größeren und gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang
gestellt.
Nach Kraack, der mittelalterliche Graffiti sucht und wissenschaftlich bearbeitet, handelt es sich bei Graffiti – in Abgrenzung gegenüber offiziellen Inschriften – um „Aufzeichnungen persönlicher und spontaner Mitteilungen, im allgemeinen veranlaßt durch eine augenblickliche Situation, geschrieben mit irgend einem beliebigen Instrument (gewöhnlich eingeritzt) auf ein zufälliges und zum Schreiben nicht vorgesehenes Material unter Verwendung der Gebrauchsschrift“.(3) Neben der Spontaneität führt Kraack noch den Situationsbezug, Ausführungsart und persönliche Note als Merkmale von Graffiti an(4).
Beide Begriffsklärungen bestätigen sich in der Sprache an den Wänden meiner langjährigen Beobachtung nach ausnahmslos.
Beim Nennen des Begriffs Graffiti assoziieren die GesprächspartnerInnen üblicherweise farbenreiche bildnerische Graffiti wie sie in der medialen Berichterstattung am liebsten präsentiert werden: Tags und Pieces.
Mir scheint, daß es bei Begriffen wie Interkulturalität ähnlich verläuft. Es werden diffus „die“ Ausländer assoziiert und, hinsichtlich Graffiti, die Jugendlichen aus MigrantInnen-Familien.
Ein Teil der nicht österreichgebürtigen Menschen findet sich
in dem Spannungsfeld ihrer internalisierten soziokulturellen Verhaltensweisen
und den hiesigen nicht zurecht. Sie stehen aber auch unter vielfältigem
Druck, der auf sie als Fremde in verschiedenen Ländern unterschiedlich
stark sowohl atmosphärisch als auch verbal-aggressiv und bis zu Morden
tatsächlich schon ausgeübt wurde. „Baki-Bashing“(5) zb, wie es
in England nach Fußballmatches oft vorgekommen ist, hat in Österreich
die Entsprechung in „Ausländer fetzen“ an der Wand gehabt, und es
gibt immer wieder Versuche von Gruppen österreichischer Jugendlicher,
dies zu vollführen.
Bemerkt sei dazu, daß den FußballGraffiti, die allgemein
zu den typischen Graffiti männlicher Jugendlicher gehören, viele
fremdenfeindliche Aussagen zum Namen des Fußballclubs beigestellt
werden. Es gehört dies zum Freund-Feind-Schema der Fußballfans
aller Länder. Fans von Rapid Wien haben daran in Österreich den
allergrößten Anteil.
Die Anonymität, die ein Typicum von verbalen Graffiti ist, fördert die Möglichkeit zu völlig unzensurierten Äußerungen, vor allem auf den Toilettenanlagen, wo man nicht fürchten muß, erwischt zu werden und seine Äußerung inhaltlich rechtfertigen zu müssen. Die Annahme ist daher berechtigt, daß es sich um unverfälschte Meinungen handelt.
Erwiesen ist auch die Ventilfunktion von Graffiti, die einen, wenngleich meist nur vorübergehenden, Spannungsabbau der schreibenden Personen ermöglicht. Wenn sich, laut einer 1999 durchgeführten Studie im Auftrag der Arbeiterkammer OÖ, 44% der in Österreich lebenden Ausländer unterdrückt fühlen, müßte sich diese Tatsache auch in deren Sprache an den Wänden ausdrücken.
Die Anzahl von ehemaligen MigrantInnen-Familien, in denen die Kernfamilienmitglieder
die österreichische Staatsbürgerschaft haben, steigt. Die hier
aufgewachsenen Jugendlichen müssen über Opposition, Aggression
oder Anpassung zu einer Identität finden. Die Wände und Stadtmöbel
im öffentlichen Raum sind auch hier Medien für die Auseinandersetzung.
Der Kulturanthropologe Ralph Cintron(6) von der University Iowa untersuchte 1990 u.a. die Graffiti von Hispano-Gangs in einer mittelgroßen Stadt des amerikanischen Westens. Er sieht die Graffiti als Indikatoren interkultureller Spannungen. Diese haben sich u.a. an den Außenwänden einer Einkaufsstraße für die Mittelklasse der Stadt manifestiert. Die Graffiti, welche sich dort befinden, stellen nach Cintron „Konversation“ dar. Sie seien eine Art Disput zwischen zerkriegten Banden.
Doch ihnen ist auch eine andere Art des Signalisierens inne: Während die Geschäftsleute die Wände einladend und vornehm wirkend haben wollen, werden sie und ihre Kundschaften ständig begleitet von der Tatsache, daß hier auch noch subkulturelle Kräfte ihr Wirkungsfeld haben. Durch die große Präsenz an Zeichen in Graffiti wird an eine Wirklichkeit erinnert, die die städtischen Anstrengungen, sich in einer anderen Wirklichkeit zu präsentieren, vor den Augen aller Stadbewohner unterminieren.
Aus seinen Gesprächen mit den Jugendlichen folgert Cintron, daß die Graffiti der Stadt Splitville (vermutlich ein Pseudonym) hochkomplexe Zeichen sind, die den Status Quo abbilden. Bestimmte Zeichen sind mit einer bestimmten Gang verbunden. Übermalen anderer Zeichen und Setzen Neuer sind für die Gangs von höchster Wichtigkeit. Ihr Disput ist öffentlich, obwohl die Mainstream-Menschen die Zeichen nicht deuten können. Sie erwecken für viele Leute einen esoterischen Eindruck. So bieten sie Schutz, daß die Polizei über die Gang-Aktivitäten nichts herauszulesen vermag. Zugleich erhöhen sie die Solidarität unter den Gang-Mitgliedern, die nun Geheimnisse teilen.
Es geht lt. Cintron einerseits um territoriale Kontrolle und zum zweiten um das Ausrufen von Revanche oder Sympathie für andere Gangs. Für manche Gangs ist die territoriale Kontrolle auch wichtig wegen des Drogenhandels.
Während in der Mainstream-Gesellschaft durch Austausch von Geld Eigentum angeeignet werde, schließt der Autor, zeigten Graffiti metaphorisch Besitz an, als wären sie Geld. Sie stärken so das Selbstvertrauen der Gang-Mitglieder. Der von Seiten der Stadtverwaltung aufgenommene Kampf gegen die Graffiti hatte nur vermehrtes Erscheinen derselben zur Folge und eine Verfestigung der Identität der Gang-Mitglieder.(7)
Ley und Cybriwsky, die in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts über Stadt-Graffiti als Territorialmarkierungen arbeiteten (8), schreiben, daß Graffiti „kleine Einsichten, kleine Gucklöcher in die Gedanken und die Gefühlswelt von einzelnen Menschen“ seien, „die nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Gesinnungsgenossen sprechen“(9).
In New York und Philadelphia sind oder waren zumindest damals U-Bahnen oder Hauptverkehrslinien die wenigen Berührungspunkte von Bewohnern verschiedener Kulturen zwischen Innenstadt und Vororten. Die Territorien der Graffitisten verliefen damals auffällig entlang den Verkehrsadern. Ziel war die „Markierung fremden Raumes und das Abstecken eines Gebiets in der Welt außerhalb des Gettos“(10). Die Spitznamen einzelner Graffiti-Könige zeigen Originalität: „(...) sogar ´Baron Erich von Schwenck´ tritt anmutig in einer Reihe schwarzer Wohngegenden in Erscheinung. (...) Sich Zugang zu einem bislang versperrten Ort zu verschaffen, schafft der eigenen Person zugleich Vorrang vor allen anderen“(11).
Es ist also Ruhm zu erwerben, wenn ein Schwarzer oder eine Gang von Farbigen in ein Gebiet weißer rassisitscher Gangs schreibend eindringt und vielleicht auch noch deren Zeichen mit öbszönen Zusätzen versieht. Nach den Autoren besetzen im Gegensatz zu den Einzelpersonen die Banden lieber ein fest umrissenes Territorium möglichst auf Dauer. „Die Jugendlichen aus der Nachbarschaft müssen aufpassen, auf welchen Wegen und in welcher Gegend sie sich bewegen“(12). Die Territorialmarkierungen werden mehr, je näher man dem Zentrum des Bandenterritoriums kommt. Graffitikönig, die Straßenbande und die verteidigte Nachbarschaft seien allesamt soziale Gruppen, die gewissermaßen eine „territoriale Rechtssprechung“ durchsetzen. Die Autoren stellten in dem Zusammenhang fest, „daß aggressive Graffiti mehr bedeuten, als einfach eine feindliche Gesinnung. Sie deuten auf Dispositionen zu feindlichem Verhalten hin“(13). Daher weisen die Grenzstraßen der Bandengebiete die aggressivsten Graffiti auf.
Es war aus den von den Autoren beobachteten Graffiti herauszulesen, daß sich mitunter verfeindete Banden gegen eine dritte und sehr mächtige Bande vereinen. Anhand der Graffiti und ihrer Verteilung und anhand der in der Beobachtungszeit registrierten gewaltsamen Zwischenfälle unter den Banden stellten die Autoren fest, daß sich auf der Straße abspielte, „was zuvor an den Wänden zu lesen war“(14).
Ausgegangen ist das Taggen und Sprayen von den Gettojugendlichen der
späten Sechziger und frühen Siebziger Jahre. In Europa ist diesbezüglich
viel von den Ausländern ausgegangen, in Deutschland zunächst
hauptsächlich von türkischen Jugendlichen, die sich ganz bewußt
mit den Ghettojugendlichen in NY identifizierten.(15)
„Die Wände sind dabei nicht nur ein ´Revolverblatt `
der Einstellungen: sie sind ein Verhaltensmanifest.“(16)
„No pasaran!“ = „Sie kommen nicht durch!“ – zwei spanische Worte millionenfach an den Wänden der ganzen Welt seit Jahrzehnten. Sie bilden die von Dolores Ibarurri (vom ZK der KP Spaniens) ausgegebene Parole - 1936, nachdem der Aufstand unter Franco in Marocco auf Spanien übergegriffen hatte und Deutschland, Italien und Portugal Militäreinheiten und Kriegsmaterialien lieferten.
„Wessen Welt? Unsere Welt!“, steht, in Graffiti gemalt, auf den Hauswänden von Seattle. Zumindest ein paar Tage lang waren die Mächtigen in der Defensive, stand, meist umschrieben, in den Medien.(17)
In einer Arbeit, die sich eingehend mit dem herkömmlichen polnischen Ehrbegriff beschäftigt(18), heißt es, es würden manche junge Polen damit nicht einverstanden sein, „that now Poles seek to emulate the ´businessman´“(19). Der Profit überlagere die Ehre. Und die alte Inschrift „Gott, Ehre, Vaterland“ wurde bereits in Graffiti emittiert, allerdings zu „Gott, Handel, Vaterland“ geändert. Das Wort Handel habe in Alltagspolnisch den negativen Beigeschmack unverdienten Profitierens abseits von Idealen.
Seit die Kapitalgesellschaften in den meisten Fällen problemlos in das Land mit der für sie liberalsten Rechtslage emigrieren können, frißt sich die Kultur der ersten Welt überall in Werthaltungen und Menschenumgang ein.
Der Zusammenbruch des Kommunismus ist in Wien so gut wie nicht thematisiert worden, außer zb „Altlast=Lüge“ oder, feindlich, „Visum für Ostschweine!“
Kurier, 24.7.99: Der Nahostfrieden sei möglicher durch Verhandlungen Barak-Arafat: „Israels Geheimdienst befürchtet vor dem Treffen allerdings steigende Gewaltbereitschaft in Teilen der Hamas-Miliz. Wandschmierereien und Flugblätter würden darauf hindeuten.“
Starke Graffitischreiber in Österreich und Deutschland waren bislang
die Kurden. U.a. mit ihnen liegt inschriftsmäßig der Fall vor,
daß hier in einem anderen Land als dem der Heimat über Wandbotschaften
Probleme von zwei unterschiedlichen Völkern aus dieser Heimat thematisiert
werden und sie auch spiegeln.
Man erinnere die Spannungen zwischen dem Türkischen Staat und
Deutschland und zwischen Deutschland und den dort ansässigen Kurden,
ausgelöst durch die Verhaftung des PKK-Chefs Öcalan. In Wien
waren plötzlich sehr viele Schablonengraffiti präsent, die Freiheit
forderten für das kurdische Volk. In Parks und an Wänden las
man öfter, nur für sich stehend, den Namen Öcalan. Am 25.5.99
zb war die U1-Station Matzleinsdorferplatz voll mit Aufschriften
wie „APO“(20), „Lang lebe Apo“ und „PKK“.
Nebenbei sei erwähnt, daß das Problem, in einem fremden Land
gegen Vorgänge im eigenen Land aufzutreten, auch die Umweltbewegung
hatte und hat, wenn sie auf Erscheinungen hinweist, die grenzüberschreitend
sind und außerhalb Österreichs verursacht.
Die antisemitischen Graffiti werden offensichtlich auch von alten Leuten geschrieben, was allgemein bei Graffiti ungewöhnlich ist. Ein Mann dürfte auf verschiedenen Straßenbahnlinien von Station zu Station fahren, um dort ein oft in grellen Farben markiertes Blatt anzubringen, in dem er handschriftlich eine Tirade gegen die Juden im allgemeinen und gegen jene, die seine Familie um Hab und Gut gebracht hätten insbesonders ausschickt. Inhalt und Schriftbild weisen auf einen alten Menschen hin. Dabei ist er insofern auf der Höhe vieler taggender Graffitisten, die ihr Logo auf kopierten Zetteln an die Wände kleben.
Ein von Haß Getriebener muß jener Mensch sein, der oft durch die Innenstadt streift und seit etwa 8 Jahren in den engen Gassen das Wort Saujude an Wände von Durchgängen, an die Stadtmöblage etc. schreibt. Seit etwa 4 Jahren ändert jemand anderer mit wenigen Strichen das Wort in „Saubube“ um.
In den frühen 90er-Jahren tauchten an den Plakatierten Warteverschlägen der Linie 58 und der Bushaltestellen auf der Kennedy-Brücke, in geringerem Maße im ganzen Roundeau-Bereich, wie z.B. in den Telefonzellen, auffällig viele antisemitische Botschaften auf. Sie waren brutalen Inhalts, manche forderten zu Greueltaten auf. Der Haltestellenbereich war zu einem Treffpunkt junger Skins und deren Sympathisanten geworden. Schon davor hatten fremdenfeindliche Graffiti an dieser Stelle Tradition. Die jungen Leute verhielten sich den VerkehrsteilnehmerInnen gegenüber öfter rüde. Eines Tages griff die Polizei ein. Der Ort löste sich als Treffpunkt auf. Antisemitische verbale Graffiti und Zeichnungen tauchten nur mehr sporadisch auf.
Oft wird der Davidstern ohne Wortzufügung zb einem Baby des Werbeplakats
auf die Stirn oder einem Herrn im weißen Anzug mit schwarzer Farbe
auf den Revers gezeichnet. Er scheint auch auf der Stirn von Politikerbildnissen
immer wieder auf.
Der Pädagogik-Professor Hans-Jochen Gamm, der Graffiti als gesellschaftspolitische
Signale sieht, schreibt in seiner Arbeit „Der gewöhnliche Faschismus“(21)
in Bezug auf antisemitische Graffiti, was m.E. allgemein auf die Vielzahl
der interkulturellen Graffiti zutrifft: “Aufklärungsaktionen von
Seiten der Diskriminierten selbst scheinen dabei nur geringen Erfolg zu
versprechen, weil die bereits eingengte Wahrnehmung sich der objektiven
Wahrnehmung verweigert“(22).
Während sich in den sechziger- und siebziger Jahren viele junge Erwachsene aus jüdischen Familien in der sogenannten 68er-Bewegung verbalisierten, gehörte es für einige zur politischen Arbeit, ihre Parolen, für die in den Medien kaum Gehör zu finden war, über die Wände auszusenden.
Auf Graffiti jedoch, die eindeutig von jüdischen Mitbürgern zu jüdischen Belangen geschrieben worden wären, fand ich keinen einzigen Hinweis. Einmal fand ich die drei J in Dreiecksform angeordnet vor. Das steht für Ewigkeit-Unendlichkeit und Geist.(23)
Zu Wahlkampfzeiten, die allgemein für inschriftliche Hinzufügungen neuralgische Zeiten sind, taucht oft das Wort „Jud“ auf den Konterfeis auf. Von den Parteien wurde die SP schon öfter inschriftlich als „Judenpartei“ bezeichnet.
Extrem viele antisemitische Graffiti findet man bereits seit den frühen 1980er-Jahren auffällig häufig an den Toiletten-Wänden und -Türen des Wiener Universitätgebäudes und einiger seiner geographisch ausgelagerten Institute. Hier bedient man sich oft des Reimens als Ausdrucksmittel dieser damit besonders kaltzynischen Variante der Menschenverachtung. „Die Haut von einer Judenstirn ergibt nen schönen Lampenschirm“. M.E. der der hinterhältigste Aufrufe zum Mord, den ich jemals in Graffiti gelesen habe. Von einem KZ-Kommandanten der Hitler-Zeit ist bekannt, daß er so einen Lampenschirm hatte. Was daran noch bedenklicher stimmt, ist die Tatsache, daß hier lange Zeit keine Durchstreichung oder Löschung durch andere Studenten oder Reinigungspersonal erfolgt war, wie sie auf Universitätsboden bei vergleichsweise „harmlosen“ Botschaften nicht unüblich ist. Eine gewisse Anzahl dieser Graffiti, schließe ich aus langjähriger Beobachtung, wird jedoch von Außenstehenden in die Universität hineingetragen. Meine diesbezügliche Mitteilung an einen GraffitiForscher, der ein großes Universitätsinstitut mit statistischen Mitteln untersuchte, wurde von diesem leider nicht aufgegriffen, sodaß ich die diesbezüglichen Aussagen über die StudentInnenschaft in dessen Arbeit als verzerrt erachten muß.
In KettenGraffiti werden zu einigen dieser Auslassungen Polyloge geführt,
in denen auch gegen den Antisemitismus aufgetreten wird. Dasselbe gilt
für den Fremdenhaß. Dazu ein Zitat von Peter Müller: „Angesichts
der historischen Erfahrungen können die ausländerfeindlichen
Graffiti nicht als gesellschaftlich irrelevante Schmierereien einer unbedeutenden
Minderheit abgetan werden. Als gesellschaftspolitische Signale kommt in
ihnen auch der Haß gegenüber Minoritäten zum Ausdruck,
der die gefährdete Entwicklung der deutschen Sozialgeschichte kennzeichnet.
Bedenklich stimmt zudem die Tatsache, daß viele der heute grassierenden
Türkenwitze Variationen der antijüdischen Graffiti sind, die
bereits zu Beginn des (19., Th.N.) Jahrhunderts in der ´Anthropophyteia´
dokumentiert wurde.“(24)
Am auffälligsten in den 18 Jahren meiner Beobachtungen der Sprache an den Wänden war die schriftliche Spiegelung der Feindschaft zwischen Kroaten und Serben. Mit dem Krieg wurden Bosnien-Herzegowina-Graffiti sowie die Graffiti der albanischen Minderheit schlagartig mehr.
Ein Hauptelement der Graffiti dieser Gruppierungen, ähnlich wie bei FußballfanGraffiti, ist das Symbol. Das Zeichen, das in Österreich seit Jahren die Wände dominiert ist längst nicht mehr das A im Kreis. Es ist das Cetnic-Zeichen, ursprünglich das Zeichen der serbischen Königstreuen. Das Anarchisten-A ist im Identitidätsrepertoir der slawischen Sprachen kaum zu finden.
Ungeachtet ihrer individuellen Verschiedenheiten sind den Mitgliedern einer Gruppe die Symbole gemeinsam. Sie sind gewissermaßen unter einer Flagge vereint.
Die Graffiti belegen das. Hier nimmt sich einer die Zeit und breitet akribisch zeichnend die ganze Landes-Flagge aus und schnitzt das Wappen unauslöschlich ein. Oft wird das Symbol mit Strahlen bekränzt oder die Strahlen gehen von ihm aus. Andere Varianten sind Siegeskranz, doppelter Kreis, Totenkopf etc. Beliebige Ländernamen sind einsetzbar.
Es eint aber das eigene Symbol genauso wie der Kampf um Degradierung der Symbole der anderen. Der Inbegriff der Beleidigung eines Symbols, das der andere wertschätzt, ist die Löschung oder eine graffitistische Veränderung, die das Symbol lächerlich erscheinen läßt. Wenn im Cetnic-Zeichen neben den vier C im Kreuz plötzlich vor jedes C der Buchstabe W hinzugefügt wird, wie in Graffiti öfter vorhanden, meint das wahrscheinlich, daß diese Gruppierung und ihre Ziele für die Klospülung geeignet seien. Und alle Passanten können die Schmach sehen.
Ich beobachte über die Jahre vier Parks und statte ihnen immer wieder Besuche ab. Ein interkultureller Sonderfall ist der Stadtpark. In der Hälfte zwischen Ring und Wienfluß sind Fremde als TouristInnen erwünscht und ballen sich besonders vor dem Strauß-Denkmal. Dennoch gibt es nur wenige „Ich-war-hier-Graffiti“, die an solchen Orten zum normalen Erscheinungsbild gehören. Die Szene der österreicherreichischen und fremdsprachigen Dealer, die sich über lange Strecken des Tages im Nahebereich aufhält, hinterläßt keine Spuren. Hingegen sind die Bänke im Parkbereich jenseits des Wienflusses voll mit Pop-Gruppen-Namen, Tags und Gang-Namen, auch Fußballgraffiti, Scherze, Beschimpfungen, Haß und Liebe. Der von zahlreichen Jugendlichen mehrerer Ethnien besuchte Parkteil weist (zuletzt Dezember 1999) fast keine fremdenfeindlichen Graffiti auf.
Aber der Stadtpark ist nicht typisch. Nehmen wir den Matznerpark im 14. Wiener Gemeindebezirk. Dieser liegt etwa zehn Fußminuten vom 15. Bezirk, Wiens dichtestem Zuwandererbezirk. Der Park ummantelt den Penzinger Friedhof. Von der Verteilung der BesucherInnen her kann man an ihm einen „Einheimischenteil“ und einen „Ausländerteil“ unterscheiden. Im „Ausländerteil“ befinden sich nebst zahlreichen Bänken unter Kastanienbäumen ein eingezäunter Fuß- und Basketballplatz (in einem) und eine große Sandkiste mit Holzkletterburg für Kinder.
Juni 1998 führte ich in Zusammenarbeit mit Kollegin Anna Härle und zwei Klassen einer Sonderschule und deren Lehrerinnen eine Sondierung der Botschaften im Matznerpark durch. Die Schule liegt nahe dem Matznerpark, den die Kinder in ihrer Freizeit selbst besuchen. Unter den durchschnittlich vierzehnjährigen SchülerInnenen befand sich nur ein Jugendlicher mit österreichischer Staatsbürgerschaft.
Wir erforschten die Bänke, Tische, Wände, Spielgeräte im Park nach verbalen Botschaften, kategorisierten diese kindgerecht und besprachen Inhalte dieser Sprachäußerungen. Zunächst hatten die Jugendlichen jedoch ungestüme Lust, nur die Liebesgraffiti unter vielen Kommentaren zu verfolgen. Sie erkannten aber bald, daß sie mit einer Vielfalt an Botschaften konfrontiert sind.
Viele Jugendliche hinterlassen in Parks mit ihrem Namen nur die Botschaft, daß sie da waren. Manche fügen hinzu, daß, wo ihr Name prange, niemand anderer sitzen dürfe. Nur einmal kommt vor: Niemand + Niemand.
Im Matzner-Park herrscht im Jugendteil das Thema Liebe vor, bei Graffiti von Buben sehr oft erweitert durch Forderungen nach Sexualverkehr.
Dem Nationengemisch im Park entspricht die Vielfalt der favorisierten Fußballvereine (zb Fenerbace) und ebenso jene der angefeindeten (zb Rapid). Rapid unterstützende Graffiti sind öfter mit ausländerfeindlichen Inhalten verbunden und groß über die Graffiti der MigrantInnen-Jugendlichen geschrieben oder gesprüht.
Friedhofsmauern sind für Schreiber und Bildersprayer im allgemeinen tabu. Entlang der Mauer um den kleinen Matzner-Friedhof findet sich nur ein einziges, eher unscheinbares Piece. Pieces gehören den American Graffiti an und sind von ihren ErzeugerInnen als Kunstwerke konzipiert. Auch ihre Erzeugung hatte ursprünglich Motivationen von interkulturellem Belang. Sie finden sich zb im 14. Bezirk in größerer Zahl entlang des Wienflußbettes. Das Piece im Matzner-Park befindet sich im „ÖsterreicherInnen-Teil“ und ist nicht zuordenbar.
Im „Einheimischenteil“ halten sich tagsüber hauptsächlich ältere Menschen auf. Tische und Bänke waren dort seltener beschrieben, doch ebenso in mehreren Sprachen.
An vorkommenden Sprachen haben die Kinder vor allem Serbisch, Bosnisch, Türkisch und Deutsch erkannt.
Aus der politischen Emblematik sind das Zeichen der Cetnics, das Zeichen der Ustascha, weiters das Wappen von Bosnien und der Sichelmond mit Stern im „Ausländerteil“ am zahlreichsten angebracht. Auch Partei-Namen finden sich auf den Tischen. Eine Schülerin behauptete von einem bestimmten Graffito, sie hätte es geschrieben. Es war die Abkürzung für eine fundamentalistische türkische Partei, die inzwischen verboten wurde.
Ein Tisch dürfte PKK- freundlichen Jugendlichen vorbehalten sein, da oftmals, der Oberflächenverwitterung nach aber durch längere Zeit „PKK“ eingeschrieben war.
Nazi-Zeichen und-Sprüche finden sich im ganzen Park. Es sind wenige,
und ihre Auftragung ist sichtlich schon lange her.
Aus den Gesprächen mit den Jugendlichen war zu erkennen, daß
die in verbalen Graffiti sich zeigenden Konflikte auch einen Teil
der Wirklichkeit spiegeln, welche die den Park frequentierenden Kinder
selber erleben. Tagsüber vermittelt die geographische Verteilung v.a.
der Erwachsenen den Eindruck, als würde sich jede Ethnie ihren Raum
gegen die anderen abgrenzen.
Das Bild war hier ein völlig anderes: Die Liebe hat im Tunnel nur einen Randplatz an den Wänden. Auch Fußball ist nicht so wichtig.
Zahlreiche sogenannte Schimpfwörter stehen allein oder sind in politische Botschaften eingebettet. Neben Deutsch herrschen dieselben Sprachen vor wie im Park. Ein aggressiver Charakter des größeren Teils der Aussagen ist ist nicht zu übersehen.
Hier, wo viele Leute aus der weiteren Umgebung zur Linie 52, zu zwei Schnellbahnen oder zur U4 ihren Weg finden müssen, können GraffitischreiberInnen rechnen, daß ihre Botschaft von vielen Menschen aus den in regelmäßigen Wellen durch die Unterführung schreitenden Mengen aufgenommen wird. Es senden nicht Jugendliche an Jugendliche ihre Botschaften aus, sondern ältere Jugendliche oder Erwachsene an Alle. Das zeigen die ausladenden Schriftzüge an, die Höhe der Anbringungen und oft der Wissenshintergund.
In der Unterführung sind die Aussagen sehr oft gesprayt, größer und optisch knalliger als im Park.
Mehrere deutschsprachige Äußerungen drücken Sympathie für einen Rechtsextremisten aus. Nur in einem einzigen Graffito wird Friede gewünscht.
Im Krieg der Cetnics und der Ustaschisten wird teils unübersichtlich groß geschrieben. Die Nähe der Wände und in Wellen eben auch die Dichte der Passanten benötigt Aufmerksamkeit und läßt keine breitwinkeligen Sichten zu.
Bosnier werden als Schweine beschimpft, indem ihr Landesname in eine entsprechende Zeichnung gebracht wurde. Diese Gruppen verwenden hauptsächlich schwarze Sprays. Schwarz kann im künstlichen Licht und auf engem Raum bedrohlich wirken. Die Stereotypen nebeneinander überzeichnen, wirken aber m.E. im Unterbewußtsein fort. Trotz dieser Dominanz hatten die teils jahrelang bestehenden Graffiti in der Bahnhofsunterführung und an den Stiegenaufundabgängen zu den Perrons thematisch eine große Vielfalt aufzuweisen, zb Humor.
Der Anteil an fremdsprachigen Wortbotschaften oder in irgendeiner Weise fremdenfeindlichen oder –freundlichen deutschen WortGraffiti lag bei knapp der Hälfte, was relativ gesehen sehr viel ist.
Die Graffiti in der Fußgeher-Unterführung des Bahnhofs Penzing wurden im Frühsommer 1999 leider gelöscht.
Ich möchte noch ein paar von den Beobachtungen in anderen Parks erwähnen. Lt. Aussage eines Street-Workers von Back-on-Stage ist der kleine Park an der Siebenbrunnengasse in Margareten hauptsächlich von jungen Roma besucht. Es schien dort in keinem Graffito ein Roma-spezifisches Problem auf.
Ungewöhnliches konnte man bei der Abstimmung im März 1999
über den geplanten Bau einer Tiefgarage unter den Esterhazy-Park im
6.Bezirk beobachten. Obwohl das Garagenprojekt über den Bezirk hinaus
rege Diskussionen hervorgerufen hatte, konnte ich im Park keine einzige
inschriftliche Stellungnahme dazu finden. Der Park ist hauptsächlich
von MigrantInnen und deren Kindern belebt. Ich las auch nur einmal „Öcalan“.
Es fiel mir auf, daß im Matznerpark und anderen Parks besonders viele LiebesGraffiti auftauchen, die den Eindruck erwecken, sie seien von sher jungen Mädchen geschrieben. Mädchen schreiben diese gerne, herzlicher und selten mit Vulgärausdrücken. Dennoch: Im gesamten Alltagsbild scheinen auch zum Thema Liebe männliche Jugendliche bis siebzehn in Graffiti öfter auf als weibliche.
Einen Grund, daß so zahlreiche von weiblichen Jugendlichen ausgeführte Graffiti zu finden waren, mag in der von Benard/Schlaffer beschriebenen Eigenschaft frühjugendlicher Mädchen liegen, sich gerne auf einen Platz zurückzuziehen. Von Seiten der Buben wird dies mit sofortigem Raumgreifen beantwortet.
Als die drei meistgeübten Tätigkeiten von Mädchen im Park haben Benard und Schlaffer folgende identifiziert:
die Betreuung kleiner Geschwister,
mit Freundinnen auf der Bank sitzen,
Nutzen der altersmäßig und körperlich inadäquaten
Spieleinrichtungen für die Kleinkinder.(25)
Meiner Beobachtung nach gilt dies für Migrantinnen in besonderem Maße.
Ich nehme an, daß mit dem Überhang an Ruhigstellung auch die große Zahl der MädchenGraffiti auf den Bänken und Tischen erklärbar ist.
Die älteren Mädchen vor allem der moslemischen Migranten-Familien dürfen meist nicht mehr in den Park. Entsprechend fehlen komplexere weibliche Liebesbotschaften, welche nun vor allem türkische männliche Jugendliche melodramatisch und ausführlich schreiben.
Die Ungleichgewichtigkeit zwischen Burschen und Mädchen im öffentlichen Park „ergibt sich aber nicht nur aus biologischer Hinsicht sondern unterliegt auch äußeren Umständen, wie Erziehung der Eltern und dem Einfluß der Gesellschaft, welche die Psyche stark prägen“.(26) Ob sie auch an der größeren sozialen Selbstkontrolle liegt, die mehr Migranten-Mädchen als Mädchen aus Österreich eigen ist, kann ich nur vermuten und würde es persönlich bejahen.
Über die großen Probleme, welche viele hier aufgewachsene Mädchen aus Migranten-Familien mit den alten patriarchalischen Geboten haben, konnte ich keine einzige Wandbotschaft finden.
Die bezüglich Liebe zahlreichen Botschaften der pubertären und nachpubertären Burschen vermitteln den Eindruck, daß Kommunikation über Sexualität gesprächsweise kaum fruchtbringend stattfindet. Vielmehr zeigen sie m.E. ein starkes Bedürfnis nach Kommunikation zum Thema Sexualität. Und es sind zotige verbale Posen, die das Nichterwartenkönnen der Ausübung von Sexualität, das diesem Alter vor allem Burschen innewohnt, hervorruft. Da schreibt einer mit türkischem Namen die vielen Namen der Mädchen auf, die er vernascht hätte, ein anderer prahlt mit den großen Gliedern, welche die Männer seiner Nationalität hätten und ein Dritter behauptet, er ficke die Mutter des Mädchens, das ihn offensichtlich nicht erhört, in den Arsch. Markant ist der Machismo seitens der Burschen, die den Mädchen keine sexuellen Erfahrungen zubilligen, außer mit dem jeweiligen Schreiber selbst.
Seit etwa drei Jahren sind LiebesGraffiti, die den Namen nach auf bikulturelle
Pärchen hinweisen, im allgemeinen Graffitibild normal. Vielleicht
deuten hier die Graffiti in liebenswürdig schlichter Art eine interkulturelle
Tendenz voraus.
Aber auch Gruppen wie Public Enemy, oder einzelne HipHop- oder Rap-Superstars wie Ice-T, welche gegen die Vorherrschaft der Weißen singen, werden massenhaft graffitistisch genannt. Fragmente aus den Texten werden immer wieder an die Wände gebracht.
In den fremdsprachigen Graffiti sind mehrmals türkische Pop-Songs und traditionelle Lieder vertreten.
Von interkultureller Relevanz fand ich auch auf Deutsch Zitate in einer Bandbreite von „Die Ärzte“ (Ich bin ne kleine Nazisau) bis zur rechten Gruppe „Störkraft“ („Wir sind Deutschlands rechte Polizei/wir machen Deutschland türkenfrei!“)
Englisch ist die Hauptsprache der Pop-Musik. Die Pop-Musik selbst ist nunmehr seit Jahrzehnten die verbreitetste und interkulturellste Kultur der Jugend. Es zeigt sich hier eine seit etwa 2 Jahren vermehrt zu beobachtende Angleichung der Sprache von MigrantInnenjugendlichen und jener der einheimischen Jugendlichen. Kreuzer beobachtete schon vor 1985 in Deutschland das Phänomen einer neuen Welle von Anglo-Amerikanisierung, die die deutsche Sprache in Graffiti durchdringt.
Die immer stärker fortschreitende Amerikanisierung macht zwar vor einer ganzen internationalen Generation nicht halt, gibt aber auch Zeichen möglichen humanen Nutzens frei.
Dennoch nichts Neues. Lt. Kreuzer gingen den heutigen Graffiti Vorgänger „in gemischtsprachigen Texten des Mittelalters und der Neuzeit“ voraus: „in religiösen Volksliedern, Vaganten- und Studentenliedern.“(27) Vaganten und Studenten waren zu jeder Zeit international vermischt. Es ist m.E. unglaubwürdig, daß davon nicht besonders aussageträchtige Zeilen in Kellern oder an Wirtshauswänden ihre Niederschrift gefunden hätten. Hier ein altes Beispiel aus dem Bereich der Politik, welches erstens auf eine größere Emission von Äußerungen hinweist, zweitens von einem Ausländer geschrieben ist und drittens daran erinnert, daß innerhalb eines Volkes Brüche bis zum Unverständnis und zur Feindschaft führen: „Wer Deutschlands Einheit sehen will, der braucht nicht weit zu wandern, denn wie man hier geschrieben sieht, scheißt einer auf den andern“. Dieses ToilettenGraffito ist gezeichnet mit: „Ein Österreicher“ und stammt aus Oderberg im Jahre 1880.
Der ursprünglich vom Graffiti-Umfeld schwarzer Großstadtamerikaner ausgegangene HipHop findet in Wien bei Einheimischen und MigrantInnen großen Anklang. Im 7.Wiener Gemeindebezirk gibt es das Tonträgergeschäft FUSION. Es ist spezialisiert auf Hip-Hop außerhalb des Mainstreams. Einen hohen Anteil der Kunden bilden Nicht-Österreicher und unter ihnen mehr Männer als Frauen. Es herrschen dort rege soziale Kontakte(28). Man spricht im Hip-Hop-Slang zueinander, sagt beispielsweise Nigger und meint Bruder. Die Wände des Ladens sind voll mit Graffiti.
Der schon genannte Ice-T steht in ganz Österreich seit vielen Jahren in großen und kleinen Lettern an den Wänden, sei es auf Schulbänken, an Parkumfriedungen oder weithin sichtbaren Hauswänden. In einem Interview sagte der schwarze Musiker: „Es geht nicht darum, sich zu bekämpfen. Wir haben hier eine Kultur, darum geht es. Der Kleidungsstil, Graffiti, Breakdance – all dies ist Teil dieser Kultur.“(29)
Und er liefert in der Folge einige interkulturelle Details über Europa:
„Ich komme seit 12 Jahren nach Deutschland. Ein guter Ort. Die Leute sprechen Englisch mit uns. Das ist sehr nett, sie müßten das ja nicht tun. In Italien reden alle in lautem Italienisch auf uns ein.“(30)
Berühmt und berüchtigt wurde Ice-T mit dem Track Cop-Killer, welcher Titel in ganz Österreich seit Jahren auffällig oft Graffito ist. Ice-T gibt in diesem Titel Angriffe auf die USA von sich. „Ich könnte den ganzen Tag auf die USA schimpfen. (.....) Aus diesem Grund war Cop-Killer so ein Erfolg. Die Cops arbeiten für die Regierung. Ich bin in N-Irland aufgetreten, in Korea, Japan, Australien. Ich hätte mich gefreut, in ein Land zu kommen, wo die Leute sagen: Wir haben eine tolle Regierung. Sie stehlen nicht, und sie behandeln uns wirklich gut. Aber so ist es nicht.“(31)
Polizeifeindlichkeit scheint in allen Ländern der Welt eine Gemeinsamkeit eines Teils der Jugendlichen zu sein. Und so eint GraffitistInnen aus verfeindetsten Ländern und Länderteilen dieselbe aussagekräftige Parole.
Ich glaube, daß dieses Phänomen für die interkulturelle Erziehung von Bedeutung sein kann.
Es könnte geholfen werden mittels der Sprache der Jugend Interesse
und Kompetenz für verbale Auseinandersetzung mit Problemen zu
erlangen. Sprache verwenden ist Kommunikation.
In Wien sind - mit Ausnahme der Donauinsel und ihren gegenüberliegenden Ufern - mehrere Meter lange und entsprechend hohe Graffiti fast nicht zu finden. Die Wenigen betrafen inhaltlich die EU, das Kurdenproblem und das Problem des politischen Standorts der Türkei.
Ich kenne eine Stelle, an der schimmern, wenn es feucht ist, sogar noch Schatten eines Anti-Schah-Graffitos auf.
Insgesamt jedoch konnte ich in Österreich erkennen, was Kreuzer allgemein für die Graffiti schon 1985 für Deutschland prognostizierte: „Abnahme von politischen, Zunahme unpolitischer Graffiti ist die Tendenz“(33). Ich kann das für Österreich in abgechwächten Masse bestätigen. Die von Kreuzer vorausgesagte Zusnahme bildnerischer Graffiti sehe ich nicht.
Doch muß man sich davor hüten, von jugendlichen MigrantInnen
ein breiteres Spektrum an inschriftlichen Aussagen zu erwarten als von
anderen Jugendlichen. Es geht bei ihnen allen in erster Linie um Jugendprobleme
wie Liebe und Sexualität, Pop-Musik und Fußball.
Eine spezielle Situation ergab sich in Österreich, wo diese mobilen Graffiti letztlich den Ausschluß der kommerziellen Kernkraft im Lande mitzuverantworten hatten. In Österreich waren damals auch die Wände übernetzt mit Anti-AKW-und Anti-Atomkraft-Graffiti, in den Städten dichter als am Land. Dennoch finden bis heute Demonstrationen gegen Atomkraft statt. Eines der mobilen Graffiti verdeutlicht die interkulturelle Brisanz des Problems: „Radioaktivität kennt keine Grenzen“.
In den thematischen Zusammenhang gestellt spielen mengenmäßig Demonstrationen von SOS-Mitmensch und anderer Plattformen eine Rolle. Ihre Inhalte sind fremdenfreundlich und antifaschistisch.
Bei vielen Demonstrationen bilden Kurdengruppierungen einen starken
Block und zeichnen sich durch viele Spruchbänder und Tafeln aus, die
u.a. dazu aufrufen, nicht in die Türkei auf Urlaub zu fahren.
Oder, ein anderer Häftling: „Italien behandelt von allen Ländern den Gefangenen am schlechtesten, das geht schon daraus hervor, daß aus Frankreich ausgewiesene Italiener bis an die Grenze mit freien Händen gehen, aber sowie sie darüber sind, von den Carabinieri Ketten und Handschellen bekommen. Arme Menschheit!“(35) Parallelen zu heute und unter geänderten geographischen Vorzeichen drängen sich auf.
In „Neue Fortschritte in den Verbrecherstudien“ von Lombroso wird beklagt, daß die Kerkermauern dem Gefangenen eine ganze Welt von Mitteilungen und Informationen vermitteln und für die Korrespondenz das prächitgste Schreibmaterial. Ein Gefangener beschrieb die Hilfestellung, die HaftraumGraffiti für Gefangene haben können: „Ich selbst erfuhr, während ich in Chalons sur Saone in der heimlichsten Zelle eingesperrt war, von den infolge meiner Verhaftung in Paris, Wien, St.Etienne, in Villafranka stattgehabten Arretierungen, was mir von höchstem Werte war.“(36).
Ich machte meine eigenen Beobachtungen im Polzeigefangenenhaus Rossauerlände und konnte 14 Zellen einsehen. Der überwiegende Teil der Einsitzenden rekrutierte sich aus Ausländern.
In den winzigen Zugangszellen standen im August 1999 weit über 100 lesbare Inschriften. Namen und Daten kamen am öftesten vor. Graffiti, die wortreichere Botschaften bildeten, waren überwiegend fremdsprachig. Es gab männliche und weibliche Namen und Hinzufügungen in rumänischer, polnischer, chinesischer, arabischer und deutscher Sprache, in hiesiger, chinesischer, arabischer und kyrillischer Schrift. Ins Auge sprang mehrmals das unterschiedlich geschriebene Wort Deport und Deportation.
In einer Zelle stieß ich auf einen Block akribisch aufgetragener chinesischer Schriftzeichen. Nach der ersten Ansicht eines chinesisch lernenden Bekannten handelt ihre Aussage u.a. von der Freude, daß ein Mann in einem Jahr daheim sein wird und das umsonst.
In den Zellen, in die ich in der zur Verfügung stehenden Zeit hineinsehen durfte, fielen überall bis zu 50cm hohe Zeichnungen auf. Es war zb eine Frau mit nackter Brust an die Wand gezeichnet, die eine Waage in der Hand hochhielt. In einer anderen Zelle prangte ein riesiges aufgeschlagenes Buch an der Wand, auf den beiden geöffneten Seiten sprangen dick arabische Lettern hervor. Ich nehme an, es handelte sich um den Koran.
Zum Abschluß dieses Punktes noch eine Anekdote, die mit Haftgraffiti
zu tun hat und zugleich etwas über die Graffiti hinaus transportiert:
Noch 1998 wunderten sich die BeamtInnen des Polizeigefangenenhauses Roßau,
warum gerade unter den rumänischen Häftlingen so viele hungerstreikten.
Halten sie nämlich dreißig Tage durch, so stehen die Chancen
für ihre Enthaftung relativ gut. Dann aber wurde entdeckt, daß
Botschaften an den Wänden diesen Sachverhalt mitteilten. Verraten
haben soll dies ein Rumäne, der nach wochenlangem Hungerstreik freigelassen
worden war. Man erwischte ihn aber am selben Tag beim Einbruch in ein Lebensmittelgeschäft
und verbrachte ihn wiederum ins Polizeigefangenenhaus.
In den Graffiti der gläubigeren Moslems wird das Wort Gott oft verwendet. Im Yppenpark stand lange Zeit das Meterbreite Graffito: „Glaub an Gott oder Aids du wirst haben.“ Manchmal steht Alahuakbar. Lange ausgebreitete religiöse Überzeugungen werden als Graffiti eher von älteren Einzelgängern hingeschrieben.
Zu diesem Themenpunkt noch ein Zitat vom deutschen Pädagogikprofessor Hans Jochen Gamm:„Vor allem die Türken als auffälligste ethnische Gruppe, die in Religion, Brauchtum und Kulturellem Standard weit weniger Brückenschläge erlauben als sie zu den christlichen Südeuropäern möglich sind, lenken Vorurteile auf sich, die den antijüdischen Stereotypen bemerkenswert ähneln. (...) Überfremdung der Deutschen, Stehlen von Arbeitsplätzen, Einschränkung der Wohnmöglichkeit, Gettobildungen, Irritation der deutschen Frauen, Brutalitäten jeder Art.“(37)
Für MigrantInnen ist übrigens das Wort „bog“, das sehr oft
in den Schriften vorkommt, von sehr unterschiedlicher Bedeutung. In Jugoslawisch
heißt es Gott und in Türkisch Scheiße. Für meine
jugendlichen ÜbersetzerInnen aus Jugoslawien und der Türkei war
dies nicht neu, und selbst das strenggläubige Moslem-Mädchen
mußte darüber lachen.
Erste Frauensynode im Juli 1996 in Gmunden. Über 200 künstlerisch
bearbeitete weibliche Holz- und Pappfiguren hatten die Organisatorinnen
als Wegweiser aufgestellt. Davon wurden über Nacht 20 mit einem Penis
besprayt. Die Gmundner Polizei verlangte daraufhin, daß die Figuren
wegen Öbsönität abzumontieren seien.
Diesen Sachverhalt fand ich schon 1993 bei meiner 6-monatigen Untersuchung zweier Toilettenanlagen, welche von StudentInnen vieler Fachrichtungen frequentiert werden.
Von den insgesamt 100 politischen Aufschriften bei den Männern
standen inhaltlich 47 faschistische oder rechtsextreme 26 als antifaschistisch
zu bewertenden gegenüber. Am Frauenklo schien kein eindeutig politisches
WortGraffito auf. Bei den Männern kein einziges über Liebe.
Bei Männern also Thema Nummer 1: Ausländerfeindlichkeit.
Dennoch ist der Fantasie von Gegnern keine Grenze gesetzt. Wiederholt steht
in der UNI das Wort HEIMATRAUB. Wiederholt auch ist es verändert zu
HEIMATuRlAUB oder scHlEIMhAuTRAUB.
Eine Ausnahme bildet die HS f Angewandte Kunst. Unter den über 150 Graffiti im Sommer 1999 war kein einziges ausländerfeindliches dabei.
Es gibt allerdings Hinweise darauf, daß in manche Universitätsgebäude
gerade im Zusammenhang mit Fremden, AsylantInnen und MigrantInnen, aber
auch im rassistischen Sinne durchaus Botschaften von außeruniversitären
Personen angebracht werden.
Die Toiletten der Frauen hingegen waren vornehmlich mit als konstruktiv verstandenen Graffiti versehen, in denen u.a. Vertrauen auf Gott angesprochen wird. Eine andere Klientin sieht das nicht so und fragt nach den Rechten der Frau. Wieder eine andere warnt davor, daß in einem bestimmten Stockwerk amtlicherseits streng gewaltet wird. Kein einziges fremdenfeindliches Graffito bei den Frauen, aber auch kein fremdsprachiges, von welchen sich auf dem Herrenklo vier fanden.
In den Gemeindebauten der Stadt Wien ist man wenig fremdenfreundlich.
Zugleich aber sind v.a. ältere Gemeindebauten nicht graffitifreundlich
vom Aspekt des Beobachtetwerdens her. Architektonisch ausgezeichnet zum
unbeobachteten Anbringen unverlangter Äußerungen ist das Schöpfwerk
im 10. Bezirk. Unter den über tausend WortGraffiti, die ich dort vorgefunden
habe, waren nur vereinzelte von nicht oder unbeholfen Deutschsprechenden
geschrieben. Das Aufscheinen von fremdenfeindlichen oder rassistischen
Graffiti ist dort markant, jedoch nicht markanter als in anderen Teilen
der Stadt. Im Schöpfwerk wohnen durchschnittlich 4000 Personen. Es
zählt zu den Problembauten, in denen man bekanntlich das MigrantInnenthema
besonders krass negativ sieht. Dennoch bieten die vor allem „Türken“
und „Tschuschen“ benennenden ausländerfeindlichen Graffiti „nur“ das
Durchschnittsbild der österreichischen Landeshauptstädte und
Ballungszentren. Ein Sozialarbeiter und der Jugendzentrumleiter bestätigten,
daß es im Schöpfwerk kein wirkliches „Ausländerproblem“
gebe, die Fremdenfeindlichkeit sei hier nicht größer als anderswo.
Die Graffiti waren alle deutschsprachig.
Vulgäre Abgrenzungen gegen die Ausländer („Dreckiges Ausländerschwein verrecke!“) und auch gegen die Bandarbeiter sind zu finden. Antischwul und für Franz Josef Strauß zeigen sich die Arbeiter. Einer ruft „Spaghettifresser raus!“. Damals arbeiteten in Deutschland viele Italiener.
Demgegenüber waren um 1980 noch sehr viele Studenten „links“. In der Universität der selben Stadt fanden sich kaum xenophobe Botschaften. Interkulturell interessant ist vielleicht der folgende Polylog aus dem Zusammenhang mit Fußball und Österreich.
„Wenn F J S Bundeskanzler wird, heißt der deutsche Fußballmeister 1981 RAPID WIEN!“
„Vorwärts mit der revolutionären Eintracht FrAnkfurt“ (Kreis ums A)
Nochmals in anderem Klo, männl.: „Wenn Strauß Bundeskanzler wird, heißt der Fußballmeister der Bundesliga 1981 RAPID WIEN!“
„Geht nicht, denn Österreich ist seit 25 Jahren neutral“
„Dann die längste Zeit gewesen“
„wohl keine Ahnung von Verträgen, wa?“
In der Sonderschule war wegen der Sprachschwierigkeiten ein sinnvolles Ausfüllen des Fragebogens nicht möglich.
Migrantenjugendliche aus dem Farkas-Park füllten gerne aus, jedoch war auch hier die Sprachbarriere enorm. Die geringere Breite an Themen, die angeführt wurden, ist möglicherweise darauf zurückzuführen.
Mit nur einer Ausnahme waren den MigrantInnen-Jugendlichen Graffiti im Stadtbild geläufig. Das Alter dieser Jugendlichen lag meist zwischen 14 und 18 Jahren, es waren aber auch zwei Zwanzigjährige und ein siebenjähriges Kind darunter. Von den 25 Ausfüllenden waren zwanzig männlichen und vier weiblichen Geschlechts, was wiederum auf die Verteilung der Geschlechter im Park hinweist. Auf einem Fragebogen war keine Geschlechtsangabe. Vierzehn Jugendliche besuchten die Hauptschule, nur einer, ein Mädchen, die Mittelschule. Zeichnungen, lustige Graffiti, Fußballvereinsnamen und Liebesgraffiti waren als die beliebtesten angegeben. Als Graffiti, die Abwehr erregen, wurden mehrfach genannt: Schimpfwörter, Graffiti über Pop-Gruppen, ausländerfeindliche Sprüche. Wenn die Jugendlichen selbst etwas schreiben würden dann (Mehrfachnennungen): Fenerbace, Galataseray, ficken, den Namen ihres Herkunftlandes.
Schließt man von den inhaltlich von MigrantInnen-Jugendlichen
getragenen Zeitschriften „Echo“ und „Top-One“ rück, haben jedoch die
bildnerischen Graffiti für die Jugendlichen einigende Bedeutung.
Das Risiko dabei, daß aus unterschiedlichsten Gründen, einiges unübersetzt oder ungenau übersetzt bleiben würde, war mir bewußt, ist aber für diesen ersten Teil der Untersuchung nicht von eminenter Bedeutung.
Umberto Eco behandelt in einem Journalartikel die Frage, ob sich ein Werk übersetzen läßt. Denn „Eine Übersetzung bedeutet nicht nur die Übertragung v einer Sprache in die andere, sondern von einer Kultur in die andere Kultur“(40).
Es geht also um das Erfassen der mitschwingenden Bedeutungsfülle, des Feelings. Man weiß das auch von den Übersetzungen aus der Pop-Musik oder aus der Synchronisation von Filmen.
Ich glaube, daß in diesem ersten Schritt der Arbeit Jugendliche, die die Sprache ihrer eigenen Generation übersetzen, am ehesten die Ader für dieses Feeling haben müßten. Wir übersetzten und transkripierten die nicht-deutschsprachigen und nur teilweise nicht-deutschsprachigen WortBotschaften. Gemeinsam versuchten wir bei vielen Belegen des überwiegend anonymen Materials zu klären, ob es ein der Rechtschreibung nicht kundiger Österreicher oder Migrant geschrieben hatte, schätzten das Alter, das Geschlecht u.a.m. Woran es jedoch mangelte, war das politische Wissen. Die Übersetzungen zb der Logos von Parteien, sagte mir ein Erwachsener. Cetnics und Ustaschisten wurden bereits genannt. Für die Türken sind DYP (= Konservative Partei des rechten Weges, Tansu Ciller) und MHP (= nationale Bewegungspartei, Graue Wölfe) bis ins Vorjahr bei Graffitinennungen dominant gewesen.
Die Reaktionen der ÜbersetzerInnen wurden selbst wieder ein Teil der Feldforschung.
G., das fast 18jährige Mädchen, schien nach außen am konservativsten. Sie kam an extrem heißen Tagen in Mantel und Kopftuch. Sie unterzog sich zu dieser Zeit auch religiösen Übungen und fieberte der Zeit entgegen, wo sie als islamische Religionslehrerin arbeiten darf. Man muß wissen, daß sie an manchen Tagen etwa 2000x einen bestimmten religiösen Vers in sich zu wiederholen hatte. Nun saß sie hier, sah die vielen vulgären Botschaften, die sich unter den fremdsprachigen Graffiti fanden und damit eine deutliche Ähnlichkeiten zu denen in deutscher Sprache aufwiesen. Daneben drückte sie immer wieder ihr Zählgerät für den Vers.
Ich hatte natürlich im Zuge der ÜbersetzerInnensuche mehrmals betont, daß das Sprachmaterial mit Sicherheit Elemente enthalten würde, über die manche Jugendliche, vor allem weibliche Musliminnen, nicht gewohnt sind zu sprechen. Es ist m.E. die Dichte vor allem der männlich verursachten Graffiti dieser Art der oft verzerrten Sexualvorstellungen in dem Alter bis etwa 17 nicht zufällig, sondern normal.
Das Mädchen war die mit Abstand beste Übersetzerin, doch hielt sie meist inne zu sprechen, sobald ihr um fast drei Jahre jüngerer Bruder wieder weiter wußte. Er war in der Regel derjenige, der das erste Wort hatte. Bei den sexualvulgären Inhalten in den zu übersetzenden Graffiti, sagte das Mädchen „Das kann ich nicht sagen“ und blieb still bis zum nächsten Dia. Daß das Mädchen nur kommen durfte, wenn der jüngere Bruder mitkam schien sie nach außen als Selbstverständlichkeit hinzunehmen. Das Mädchen behauptete, von selbst und ohne Drängen von außen strenggläubige Muslimin zu sein.
Ganz anders war L., ihr Bruder. Er war westlicher Freak und stark auf Mode, Elektronik und Konsum bedacht. Religion interessierte ihn nicht, jedoch hielt er sich an das Verbot von Schweinefleisch. Er erzählte, 2 jahre in der Türkei zur Schule gegangen zu sein, aber man hätte ihn dort nicht als Türke angesehen. Der Jugendliche ist österreichischer Staatsbürger. Er und seine Schwester entstammen einer mittelständisch orientierten Familie.
Während L. alles, was er beim Übersetzen verdiente gleich ausgab, sparte der dritte Übersetzer, Z., das ganze für ihn zusätzliche Geld. Er ist Achtzehn und hat Arbeit. Er wisse ja, sagte er, wie schwer man Geld verdiene. Auf Z. wirkte die Beschäftigung mit den Graffiti am nachdrücklichsten. Er ist Rom und yugoslawischer Staatsbürger. Er hat den Kopf voll mit Rap und Hip-Hop und tritt manchmal als gemilderter Breaktänzer auf, was vieler disziplinierter Übung bedarf. Wenn wir auf gereimte Graffiti stießen, vergnügte er uns, indem er diese verrappte. Was wiederum den Nachahmungsdrang bei L. in Gang setzte.
Z. übersetzte die vielen politischen Graffiti seiner Landsleute sehr ernsthaft, er gab nie von sich, für welche der aufscheinenden Gruppierungen er Sympathien hätte. Er sagte nur manchmal, und das bei politisch sehr unterschiedlichen WortGraffiti: „Mein Gott, sann die tepat.“
Die an sich schon schwierige Lesbarkeit, die bei manchen Graffiti auftritt, wurde für Z. noch erschwert, weil manche der Botschaften in einer alten Form der cyrillischen Schrift geschrieben sind. Es gibt in jugoslawischen Graffiti also zwei Schriftarten, die teils für eine Generation nicht mehr lesbar sind. Z. spricht gut deutsch, aber mit wenigen Begriffen. Doch glaube ich, daß für ihn und AltersgenossInnen das Lesen und Verstehen der älteren Schrift die gleichen Probleme bereitet, wie ÖsterreicherInnen das Lesen von Schriften in Kurrent.
Interessant war die Situation, weil da Jugendliche die Sprache ihrer Jahrgänge in einem gebündelten Panorama teils eigener, teils fremder Befindlichkeiten sehen konnten, in welchem deutlich patriarchalisch-chauvinistische Posen und Positionen aufscheinen.
Beleidigungen durch sexuelle Anwürfe, Verwenden von Sexualausdrücken als Schimpfwörter gegen Mädchen sind die Norm. Ähnlich wie im Amerikanischen wird auffällig oft die Mutter männlicher oder weiblicher „Feinde“ als Zielobjekt sexueller Unterstellungen oder Androhungen als Mittel hergenommen, um den "Feind" oder die "„Feindin" herabzusetzen und persönlich zu beleidigen.
Im Bild der deutschsprachigen Graffiti ist dies seltener zu finden, aber seit etwa 5 Jahren steigt auch dort die Zahl solcher Graffiti an. Ihre diesbezüglichen Versatzstücke haben meist den englischen Begriff „Motherfucker“ zum Zentrum.
Z. erzählte mir einmal, daß er in einem Park ein Hilferuf-Graffito mit Telefonnummernangabe gefunden hätte. Er rief an, gab sich als Freund aus und wollte den Burschen vom Graffito sprechen. Die Mutter aber hätte in den Hörer geschrien, daß ihr Sohn wegen seiner Freunde verhaftet worden sei und unterbrach den Anruf.
G., L. und Z. sprachen miteinander Deutsch. Zwischen ihnen konnte ich keine Ressentiments heraushören.
Jedoch berichtete Z., der mehrere Jahre in Österreich zur Schule gegangen war, daß für ihn und seine Spielkameraden zwar bis um das zwölfte Lebensjahr die nationale oder ethnische Herkunft nie Thema gewesen sei, Jeder war wie er war. Danach aber hätte bei Streits das Nennen der Herkunftsnationalität des Streitpartners als Argument Eingang gefunden, um des anderen Meinung abzuwerten.
Auf der GraffitiEbene sind solche Bilder die Regel.
Alle drei ÜbersetzerInnen stellten von sich aus fest, daß sich durch die engere Beschäftigung mit der Sprache an den Wänden auch ihr Blick verändert hat. Sie nehmen jedenfalls mehr von dem wahr, was noch nicht von den elektronischen Medien beschlagnahmt ist. Pädagogischer Nebeneffekt ist m.E. die Konfrontation mit der Meinungsvielfalt und der möglichere Umgang mit ihr.
Natürlich stellt sich die Frage, ob die Jugendlichen, die zuvor
alle selber schon einmal etwas geschrieben hatten, wieder etwas schrieben
und wenn ja, ob sich das Neue inhaltlich von dem Früheren unterscheidet
und ob die Anbringungsorte andere sind.
Die drei ÜbersetzerInnen habe ich bewußt nicht gefragt,
um sie nicht zu beeinflußen. Von meinen Beobachtungen in Schulen
her, weiß ich, daß Beschäftigung mit Graffiti nicht den
in vielen Schulen gefürchteten „Schmierer-Vandalismus“ zur Folge hat,
sondern erhöhte Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit.
Die Beschäftigung von Jugendlichen mit WortGraffiti der Jugendlichen
zugewanderter oder schon heimischer Familien kann diesen über ihre
ureigene Ausdrucksweise als Medium Gemeinsamkeiten ihrer altersgemäßen
Problematiken offenbaren. Genauso kann sie über Eingehen auf den interkulturellen
Anteil der Äußerungen an den Wänden zu gemeinsamen
Reflexionen über die Hinlänglichkeit von Vorurteilen führen.
Dies bedeutete m.E., daß, von der Praxis des Alltags der Jugendlichen
ausgehend, von den Jugendlichen Wissen erworben wird, das schließlich
auf einer höheren Ebene des Kommunikationsprozesses wiederum in den
Alltag eingeflochten wird.