© by Franz Krahberger
Kafkas ganze Kunst besteht darin, den Leser zum Wiederlesen zu
zwingen. Seine Lösungen oder auch der Mangel an Lösungen lassen
Deutungen zu, die nicht klar ausgesprochen werden und, um begründet
zu erscheinen, eine nochmalige Lektüre unter einem neuen Gesichtspunkt
verlangen. Manchmal sind zwei Auslegungen möglich, so dass ein zweimaliges
Lesen notwendig erscheint. Genau das hat der Verfasser beabsichtigt. Es
wäre aber falsch, wollte man bei Kafka alles bis ins einzelne erklären.
Albert Camus in Der Mythos von Sysyphos
Franz Kafka ist neben James Joyce der bestimmende Autor meiner jungen Jahre gewesen. Jetzt, mehr als dreissig Jahre später lese ich ihn erneut. Die Fischer Bändchen aus jenen Tagen sind so zerfleddert, dass ich nicht umhin komme, mir eine neue Gesamtausgabe, ebenso in der Max Brodschen Edition, kaufen zu müssen. Das Auseinanderfallen der alten Bändchen zeigt mir an, wie eingehend ich Kafka damals gelesen habe. In der Relektüre und im Wiedererkennen der meisten Passagen erkenne ich, wie intensiv Kafka mich beschäftigt hat. Das sagt aber nichts aus darüber, ob ich Kafka damals auch wirklich verstanden habe. In groben wie wesentlichsten Zügen mag dies zutreffen, doch viele Details und Zusammenhänge treten jetzt deutbarer und klarer zutage, als sie damals in mein lesendes Bewusstsein traten.
Ich lese Kafka in einer Phase wiedergefundener Zeit, vor dem Hintergrund eigener Lebenserfahrung
und einer Fülle erworbenen Wissens, und der Abklärung all des
gesellschaftlichen Geschehens, das mein Leben mitbestimmt hat.
So erschliessen sich jetzt sowohl die religiösen wie auch philosophischen
Dimensionen des Werks, ich achte mehr auf die Konstruktion des Sprach-
und Bilderbaus, auf den filmischen Blick Kafkas, der sich von Einstellung
zu Einstellung in unterschiedlicher Perspektive entfaltet und anregend
sowohl für den französischen Noveau Roman wie auch Nouvelle Vague
gewesen sein dürfte.
Ebenso ist mein lesender Blick geschärft durch ausgiebige historische
Kenntnisse und einer vertieften Vorstellung der gesellschaftlichen Athmosphäre
der zerbrechenden Donaumonarchie, der Obsoletheit des militärischen
Gesetzes (Strafkolonie), der Gesetzgebungsvorstellungen antagonistischer
gesellschaftlicher Strömungen und der damit verbundenen Grauzonen
(Der Prozess), und der Abhängigkeit von einem repressiv spielerischen
autoritären System mit seinen zwischenmenschlichen Interaktionen im
ausweglosen Wechselspiel der Beherrschten (Das Schloss), sowie dem
ungezügelten Wettbewerb im Wirtschaftsliberalismus (Amerika - Das
Naturtheater von Oklahoma).
Eine der zentralen Personen, mit der ich mich in meiner Arbeit am Admontinischen
Universum auseinander zu setzen hatte, ist Abt Matthäus Ofner
gewesen. Abt Mätthäus liess den prunkvollen barocken Bibliotheksaal
mit all seinen Applikationen errichten und ordnete den Bestand neu.
In den Räumen des Stiftsbibliothekars hing ein zeitgenössisches
Portrait dieses Abtes, das mir wert geworden ist. Abt Mätthäus
hält in seiner Linken ein zwei gefaltetes Blatt weissen Papieres,
während bereits seine Rechte mit gefülltem Federkiel über
dem nächsten Blatt schwebt.
Auf dem gefalteteten, zur Weitergabe bestimmten Blatt steht die lateinische Anweisung Fiat (es geschehe) nach dem hier innestehenden Begriff.
Man erkennt darin eine allgemeine Handlungsanweisung aus der Hoheitsgewalt
des Abtes heraus. Es geschehe nach jenem, das hier innen formuliert steht.
Nachdem es eine dreidimensionale Bilddarstellung auf zweidimensionaler
Fläche ist, kann das gefaltete Papier nicht geöffnet werden,
um nachzusehen, welch Begriff nun tatsächlich in diesem einen Papier
steht. Man kann den Inhalt nicht in Erfahrung bringen. Im Sinne eines barocken
Concettos könnte ich sagen, es wäre nach Auffaltung zumindest
ein Kreuz erkennbar. Aber auch das gehört zur allgemeinen Regel der
Befehlsgewalt des Abtes. Es geschehe im Namen des Kreuzes, in Christi Namen.
Wir können behaupten, das gefaltete Papier stelle eine Variable
dar, in die der der Abt nach Belieben, aber immer im Kontext zur Regel
und der im klösterlichen Alltagsleben anfallendenen Notwendigkeiten,
einen Begriff einfügen kann.
Es geschehe in Demut, es geschehe in Schweigen... Es geschehe, punktum.
Die Verschlossenheit dieser Botschaft evoziert die Phantasie der Betrachter.
Jeder will wissen, was denn in dem Papier stünde. In gewisser Hinsicht
ist es ein schlichter zweigefalterter Begriffsgenerator, der auf die Kenntnisse
und Aszoziationsfähigkeit des Betrachters wirkt und in ihm ein Spiel
der unendlichen Fragen auslöst, ein Universum der Wahrnehmung und
der vielfältigen Konstellationen. Es ist ein abstraktes Concetto im
besten Sinne, das in die Vielfalt der von uns wahrgenommenen bis ausgeblendeten
Wirklichkeit führt.
Genauso könnte es sein, das es nichts enthält, die taoistische
Botschaft des non-existenten, das Nihil einer entleerten Moral. So entspräche
es der Entwicklung in Franz Kafkas Prozess. Denn auch Josef K. weiss
nicht, wessen er angeklagt ist. Es gibt nur die äussere Form einer
Anklage. Er weiss aber nicht zu sagen, was denn die Anklage tatsächlich
enthält, so wie wir nichts über den Inhalt des äbtlichen
Papieres zu sagen wissen.
Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas
Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.
Er ist unter Anklage gestellt. Er nimmt die Anklage ernst. Er lässt
sich darauf ein, obwohl er nicht müsste. Der Gefängniskaplan
zu ihm im Dom:
Ich gehöre also zum Gericht. Warum sollte ich etwas von dir
wollen. Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst,
und es entlässt dich, wenn du gehst. Tatsächlich wird in
keiner einzigen Zeile des Prozesses ein konkreter Betreff, die Verletzung
eines bestimmten Gesetzes, der Inhalt der Anklage genannt. Und trotzdem
fühlt Josef K. sich betroffen, beginnt Advokaten des imaginär
erscheinenden Gerichts aufzusuchen und zu verpflichten, die für ihn
mit der Ausarbeitung einer Verteidigungsschrift beginnen. Er ist angeklagt,
er fühlt sich angeklagt, aber weiss nicht, welchen Tatbestandes er
beschuldigt wird.
Der Prozess gerät zum schwebenden Verfahren mit ungewissen Inhalten,
mit ungewissem Ausgang, er gerät zur Destabilisierung des Gewissens
des Josef K. Sein Gewissen wird angesprochen, doch über die Konkretheit
der Anschuldigungen ist er sich völlig ungewiss und wird auch im ungewissen
belassen.
Kafka ist nicht allein ein jüdisch geprägter Aussenseiter
in einem katholisch bis protestantisch geformten Land. Er hat starke christliche
Affinitäten. Günther Anders nennt ihn in seiner eindrucksvollen
und scharfsichtigen analytischen Arbeit Kafka - Pro und Contra,
die 1946 im New Yorker Exil fertiggestellt wurde, einen christianisierenden
Theologen der jüdischen Existenz.
Dieser Prozess ohne eine näher definierte Anklage rührt
allgemein an die für mich unbestrittene Existenz des menschlichen
Gewissens in seiner dramatischen Ungewissheit. Allein schon der christliche
Glaube stellt den Menschen schuldbeladen in die Welt. Es ist nach altem
Testament und katholischer Theologie die Erbsünde, die uns von Anbeginn
anhaftet, die rituell durch Taufe und die folgenden Sakremente nicht völlig
gebannt werden, allein zurückgedrängt werden kann.
Ich habe noch niemanden getroffen, auch keinen Kleriker, der mir plausibel
den Gehalt und das Wesen der Erbsünde, des
alttestamentarischen Sündenfalles, deutlich machen konnte. Die
Erbsünde ist ein variabler Begriff, der über unser von vornherein
mit Schuld beladenem Haupt schweben soll. Etwas, dass den Lebensprozess
in Gang und unter Aufsicht hält, ohne sich völlig erkennen
zu geben.
Auch hier können wir das Papier des Abt Matthäus als Analogie
heranziehen. Wir wissen nicht, was drinnen geschrieben steht, wir wissen
nicht, wie unser Tun enden wird. Wir wissen allein mit Gewissheit, dass
es ein Vorgang ist, dass es der Prozess des Lebens ist, der von Anbeginn
des Lebens bis zum Ende hin fortschreitet, und nicht einmal abrupt durch
den Tod abgebrochen wird. Nach wie vor, ohne in diesem Punkt die christliche
Heilslehre und Versprechungen des ewigen Lebens zu bemühen, beschäftigt
dieser Prozess die Lebenden, die Nachkommenden, die Nachfahren.
Für Kafka lastet die Erbsünde, die im katholischen Sinn ein
Merkmal aller Menschen ist, doppelt. Ist es ein Makel, als Jude in einer
christlichen Welt leben zu müssen ? Ein Makel, der von zwei Seiten
gesehen werden muss. Sowohl aus jüdischer wie aus christlicher Sicht.
Die Christen haben den Juden bis in die Gegenwart vorgeworfen, den Tod
des göttlichen Sohnes mitverschuldet zu haben, der christlichen Heilslehre
nicht gefolgt zu sein. Erst in den letzten Jahrzehnten zeigt sich deutliches
Umdenken. Das katholisch christliche Vorurteil hat wesentlich dazu beigetragen,
den Holocaust in Gang zu setzen.
Josef K. ist verleumdet worden. Die antisemitische Hetze der Nationalsozialisten kann als Verleumdung des Judentums insgesamt angesehen werden. Die Juden hatten keinerlei Gesetz gebrochen. Der Gegenstand der Anklage, niedergeschrieben im Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, beschlossen am 15. September 1935 auf dem Nürnberger Parteitag der NSDAP, ist allein die jüdische Herkunft.
Auch hier gab es im Sinne Kafkas keinen einzigen gerechtfertigten Anklagepunkt
und auch hier wird das mörderische Urteil vollzogen, sowie K. im Prozess
ums Leben gebracht wird. Mit dem dramatischen Unterschied, dass daraus
ein Völkermord geworden ist, dem Kinder, Frauen und Männer zum
Opfer gefallen sind. Welcher Gesetzesverletzungen sollten den die jüdischen
Kinder, angeklagt werden, ausser eben dem einen Punkt, Juden gewesen zu
sein.
So kann und muss man deutlich von Rassengesetzgebung wie Völkermord
sprechen.
Wie unschlüssig das Prozess Gericht in sich gewesen ist,
zeigt die Schlussszene.
K. wusste jetzt genau, dass es seine Pflicht gewesen wäre,
das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen
und sich einzubohren. Aber er tat es nicht.
Und so mussten die Schergen eine Hinrichtung vollziehen, zu der in
der Anklage keinerlei Anlass zu finden ist und ihre Hände wurden für
immer vom Blut eines Unschuldigen überströmt.
Camus spricht in seinem Essay von mindestens zwei möglichen Auslegungen. Tatsächlich lässt sich der Prozess in unterschiedlichen Kontextierungen in mehr als zwei Möglichkeiten lesen.
An dem politischen Hintergrund, an den gesellschaftlichen Bedingungen hat sich die umfangreiche Kafka Literatur( so erwähnt Janko Ferk in seinem ausgezeichneten Buch die Existenz von mehr als 11000 sekundärliterarischen Arbeiten, abgesehen von der Unmenge an Aufsätzen, die zu Kafka bislang weltweit erschienen sind), abgesehen von den ausdrücklichen Hinweisen etwa Klaus Wagenbachs in dessen nach wie vor lesenswerter Kafka Monographie, meist vorbeigeschwindelt.
Richten wir den Blick in das Kapitel Erste Untersuchung:
Vor dem fünften Stockwerk entschloss er sich, die Suche aufzugeben,
verabschiedete sich von dem freundlichen jungen Arbeiter, der ihn weiter
hinauführen wollte.....
Nur diese Kleidung beirrte K., sonst hätte er das Ganze für
eine politische Bezirksversammlung gehalten...
Unter den Bärten aber - und das war die eigentliche Entdeckung,
die K.machte - schimmerten am Rockkragen Abzeichen in verschiedener Grösse
und Farbe. Alle hatten diese Abzeichen, so weit man sehen konnte. Alle
gehörten zueinander, die scheinbaren Parteien rechts und links, und
als er sich plötzlich umdrehte, sah er die gleichen Abzeichen am Kragen
des Untersuchungsrichters.
Das seltsame Gericht, dem sich Josef K. zu stellen hat, befindet sich
in Dachböden in Vorortebezirken, die vor allem von kleinen Handwerkern
und Arbeiterfamilien bewohnt werden.
Josef K. mondänes Buero hingegen hat seinen Ort in der Prager
Innenstadt.
In welcher Stellung befand sich doch K. gegenüber dem Richter,
der auf dem Dachboden sass, während er selbst in der Bank ein grosses
Zimmer mit einem Vorzimmer hatte und durch eine riesige Fensterscheibe
auf den belebten Stadtplatz hinuntersehen konnte !
Und trotzdem nimmt K. dieses merkwürdige Gericht ernst. Er schlägt
sogar eine private Einladung des stellvertretenden Direktors der Bank aus,
die ihm die Möglichkeit gegegeben hätte, sich mit einem ebenso
eingeladenen befreundeten Staatsanwalt der offiziellen k.u.k. Justiz über
sein Problem zu bereden.
Eine Frage Herr K.: Möchten Sie mir Sonntag das Vergnügen
machen, eine Partie auf meinem Segelboot mitzumachen? Es wird eine grössere
Gesellschaft sein, gewiss auch Ihre Bekannten darunter. Unter anderem Staatsanwalt
Hasterer.
Wollen Sie kommen ? Kommen Sie doch !
Doch K. nimmt die Einladung nicht an.
Vielen Dank ! Aber ich habe Sonntag leider keine Zeit, ich habe
schon eine Verpflichtung. K. begibt sich zur ersten Untersuchung.
Das Dachbodengericht existiert also neben der legalen staatlichen Gerichtsbarkeit.
Tatsächlich lassen sich charakteristische Züge der Illegalität
herauslesen.
Im weiteren entdeckt man Merkmale einer illegalen, subversiven Untergrundbewegung,
oder einer kriminellen Subkultur, oder auch des Sektiererwesens. Den Drang
nach Beobachtung, Observation, Begleitung, Vereinnahmung, Herauslösung
aus dem normalen Alltagsleben etc....eben Illegalität, bis hin zu
zu verdeckten Versammlungen an scheinbar obskuren Orten. Man könnte
einen Klassengegensatz konstatieren zwischen dem mondänen Büro
des gehobenen Bankkaufmanns auf dem, sagen wir, Altstädter Ring, und
den Anklägern am Rande der Stadt, in den dumpfen Vorstädten.
Tatsächlich ist Franz Kafka bereits in jungen Jahren mit sozialrevolutionären
Bewegungen in Kontakt gekommen und hat sich zeit seines Lebens offen gegenüber
der sozialistischen Idee und den damit verbundenen Haltungen gezeigt. Ein
Engagement, das durch seine Tätigkeit in der Arbeiter Unfall Versicherungs
Anstalt für das Königreich Böhmen, durch die tägliche
Anschauung der widrigen Bedingungen, unter denen Arbeiter ihrem Lebenserwerb
nachgehen mussten, verstärkt worden ist.
Kaum ein anderer Schriftsteller seiner Zeit hatte derart umfangreiche
und konkrete Einsichten in das menschenschinderische industrielle System,
schreibt Klaus Wagenbach. Kafka musste u.a. die Betriebe in Gefahrenklassen
bewerten, das heisst kontrollieren, ob die tatsächliche Gefährdung
der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz mit der gegenüber der Versicherungsgesellschaft
angegebenen übereinstimmte.
Kafka besucht häufig politische Veranstaltungen und nahm an den
Versammlungen des sozialrevolutionären Klubs Klub mladých
teil. Der Klub, von der Obrigkeit als anarchistische Jugenorganisation
eingeschätzt, wurde am 10.Oktober 1910 wegen Propagierung antimilitaristischer
und anderer staatsgefährdender Ideen aufgelöst. Tatsächlich
stellt die zu Beginn des 1.Weltkrieges entstandene und während des
Krieges im November 1916 in München von Kafka öffentlich vorgetragene
Erzählung In der Strafkolonie das Militärgesetz generell
in Frage.
Hinzu käme, dass Kafka sich mehr oder minder auf der Seite des
tschechischen nationalen Widerstandes sich befand. Er hatte wegen der deutschnationalen
Einstellung den Besuch der Vorlesungen des Germanisten August Sauer, der
im Nationalitätenhader der Donaumonarchie führend auf der deutschnationalen
Seite hervorstach, abgebrochen und überlegte sich kurzfristig, seine
germanistischen Studien in München fortzusetzen.
Der Sauer Schüler Josef Nadler hat dessen Theorie von der Stammes- und Landschaftsgebundenheit der Deutschen Literatur weiterentwickelt und zu einem späteren Zeitpunkt bis Mitte 1945 an der Wiener Universität gelehrt.
Kafka ist also ein durch und durch politisch denkender wie handelnder Mensch gewesen. Janko Ferk schreibt, dass Kafka einmal in der Angelegenheit der Invalidätsrentenanspruches eines Arbeiters einen hervorragenden Prager Anwalt insgeheim so unter Vertrag genommen hat, dass dieser die Ansprüche des Arbeiters gegenüber der Arbeiter Unfall Versicherungs Anstalt, vertreten durch Dr.Franz Kafka, erfolgreich durchzufechten hatte. Kafka hat diesen Prozess ehrenvoll wider seinen gemieteten Gegenspieler verloren. Das zeugt von einer subtilen Subversivität im Sinne von angewandter Gerechtigkeit, wie auch von Kafkas Fähigkeiten, mit illegalen Aktivitäten umzugehen. Wäre dieser Hintergrund offenbar geworden, hätte er seinen Job bei der Versicherung verloren.
Seine Freundschaft zu den revolutionären Schriftstellern Egon Erwin Kisch und Jaroslav Haschek zeugt ebenso von seinem sozialrevolutionären Interesse.
Andererseits wirkt Kafka in dieser aufmüpfigen Untergrundkultur
des zerfallenden K.u.K. Reiches merkwürdig hineingeraten.
Er sass gewöhnlich allein, niemand kannte ihn, ein stiller
aufmerksamer Zuhörer, ein Glas Bier vor sich, das er kaum anrührte.
Am Saalausgang Beitragseinnahme, wie das damals so war: zugunsten politischer
Gefangener, streikender nordböhmischer Bergleute, zum Decken der Auslagen...
Kafka beteiligte sich auch an der stürmischen und von der Polizei
auseinander getriebenen Versammlung 1912 in „Uvelke Prahy“, wo Borek gegen
die Hinrichtung des Anarchisten Liabeuf in Paris sprach. Es war schwer,
einen Menschen wie Franz Kafka zu übersehen, der normal Sterbliche
um mehr als einen Kopf überragte, und er bemühte sich auch nicht
darum, blieb ruhig in der Schlägerei zwischen Polizei und Manifestanten
stehen. Und da er sich, im Namen des Gesetzes, nicht entfernte, wurde er
zur nächsten Polizeistation abgeführt. Dort war man im grossen
und ganzen milde, ein Gulden Strafe oder 24 Stunden Arrest, nach dem sogenannten
Prügelpatent. Kafka, der sicher jeden Morgen pünktlich ins Amt
kam, blieb nicht über Nacht, zahlte den Gulden.
(Michal Mares, Setkani s Franzem Kafkou; Literarni Noviny; Prag
1946)
Kafkas politisches Engagement dürfte im Zuge dieser Amtshandlung
aktenkundig geworden sein, so er nicht bereits unter Beobachtung stand.
Janko Ferk stellt deutlich in seiner Arbeit über die juristischen sachlichen wie fachlichen Hintergründe des Kafkaschen Werkes dem modernen Strafprozess, der auf objektivierender Tatbestandsaufnahme wie auch auf legitimen Verfahrens-und Verteidigungsrechten des Angeklagten beruht, die inquisitorische Justiz gegenüber.
Und tatsächlich hat das Dachbodengesetz, dem sich Josef K. ausgeliefert sieht, inquisitorischen Charakter. Kafka scheint von der potentiell revolutionären Gesetzgebung und seinem Vollzug, dem Volkstribunal zu recht nicht viel gehalten zu haben. Angeklagt der kapitalistischen Ausbeutung, angeklagt der linken, angeklagt der rechten Abweichung, angeklagt des Renegatentums, des Verrats, angeklagt nach Vergehen, die im bürgerlichen Gesetzbuch nicht entsprechend gewürdigt worden sind bzw. gar nicht aufscheinen.
Das inquisitorische Recht lässt sich zurückführen auf
Heinrich Institoris Malleus maleficarum, approbiert vom Papst Innozenz
VII, bekannt als
Der Hexenhammer.
Tatsächlich war das Ergebnis solcher Prozesse nicht der authentische
Indizienbeweis. Hexerei lässt sich sowohl schwer bestimmen wie auch
nachweisen, sondern das durch Folter und psychologischen Terror erzwungene
Geständnis des oder der unter Anklage gesetzten.
So wie in Kafkas Prozess ist auch hier das Vergehen nicht näher
und schon gar nicht authentisch definiert.
Diese inquisitorischen Züge sind ebenso charakteristisch für
die politischen Prozesse sowohl der Nazis wie auch der Stalinisten. Das
zu erzielende Urteil stand von vornherein fest, das erzwungene Geständnis
diente nur mehr der Legitimation des Anklägers, des Gesetzes. Eine
weitere Parallele scheinen mir die McCarthy Hearings zu sein, die Arthur
Miller mit Hexenjagden verglichen hat.
Dass Josef K. schuldig ist, wenn er sich selbst für schuldig hält
(Janko Ferk) erweist sich als interessante Analogie der stalinistischen
Schauprozesse der Folgezeit. Einige der Angeklagten schienen überzeugt
davon gewesen zu sein, die Sache des Kommunismus im Sinne der Anklage verraten
zu haben.
Diese freiwillige Selbstauslieferung an den Henker entspricht in gewisser
Weise einer der Botschaften der Strafkolonie.
Die inquisitorischen Möglichkeiten sowohl der Prozesse der von
den Nazis und den Stalinisten geführten Schauprozesse sind durchaus
mit der Vision Kafkas vergleichbar.
Der nationalsozialistische Volkgerichtshof kannte keine Rechtsmittel;
schränkte die Verteidigerwahl ein; es gab keinen Beschluss über
die Eröffnung des Hauptverfahrens; der Reichsjustizminister war berechtigt,
auch alle sonstigen strafprozessualen Vorschriften zu verändern. Die
unveräusserlichen Rechte des Individuums wurden gegenüber den
Exzessen des staatlichen Bestrafungs- und Vernichtungsanspruches ausser
Kraft gesetzt.
Vor dem Militärgerichtshof der Sowjetunion, vor welchem seit
Jänner 1935 alle wichtigen Prozesse stattfinden, hat der Angeklagte
überhaupt kein Recht auf einen Verteidiger. Der politische Strafprozess
vor dem Militärgerichtshof und den sonstigen Ausnahmegerichten der
Sowjetunion kennt genausowenig ein Rechtsmittel wie vor dem nazistischen
„Volkgerichtshof“. Auch er kennt keine Voruntersuchung, das heisst also:
Der Angeklagte und sein Verteidiger (über den er bei politischen Prozessen
in Sowjetrussland ja ohnehin nicht verfügt) haben überhaupt keine
Möglichkeit, vor der Hauptverhandlung entlastendes Beweismaterial,
durch welches der Gang der Untersuchung beeinflusst werden könnte,
zu sammeln und vorzubringen. Und endlich: Hat der nazistische Reichsjustizminister
das Recht, alle strafprozessualen Vorschriften der Verhandlungen vor dem
„Volksgerichtshof“ abzuändern, so ist diese wahrhaft genug schamlose
Beugung aller Rechtsbegriffe ja immer noch weniger rechtsbrecherisch als
der Umstand, dass für die Führung der Prozesse vor den stalinistischen
Ausnahmegerichten Vorschriften von vornherein überhaupt gar nicht
existieren.
So William Schlamm in seiner mutigen antistalinistischen Schrift Die
Diktatur der Lüge 1937 erschienen im Verlag der Aufbruch, Zürich.
Schlamm war übrigens in den 20 er Jahren noch Chefredakteur der
Roten
Fahne in Wien gewesen, leitete kurzzeitig nach Ossietzkys Festnahme
durch die Nazis die Wiener Exil Ausgabe der Weltbühne, ging
dann nach Prag. Vor der Besetzung Prags durch die deutsche Wehrmacht verhalf
ihm Kafkas Gefährtin Milena Jesenska, die elend im KZ Ravensbrueck zugrunde
gegangen ist, zur Flucht. Die österreichische Sozialistin Rosa Jochmann,
Mithäftling der Jesenska, hat über ihr Ende berichtet.
Dass Schlamm in den 50 er Jahren auf der Seite McCarthys zu finden
ist, dass er gemeinsam mit Buckley die Urquelle des Neokonservatismus National
Review, gründete und redigierte, zählt zu den schwer erklärlichen
Wendungen in der Geschichte dieses Mannes. Schlamm spielt während
des Kalten Krieges eine wesentliche Rolle in der Springer Presse und ist
ein heisser Krieger gewesen. Er schreckte auch vor der Forderung nach einem
atomaren Vernichtungsschlag gegenüber den Sowjets nicht zurück.
Er hatte mittelbare Beziehungen zu dem juridischen Ausarbeiter der Nürnberger
Rassengesetze, Globke, Kanzleramtsdirektor des Kabinetts Adenauer. Schlamms
politische Spuren in Österreich finden wir bis zum Ende der 70 er
Jahre. Auch hier zählt er als Begründer der neokonservativen
Bewegung, die aktuell real die politische Macht erlangt hat.
Dass es den USA gelungen ist, enttäuschte Linke wie Schlamm oder
Köstler, Sperber, Aron aus dem Münzenbergischen Konkurrenzunternehmen
für Tätigkeiten im CIA wie im Kongress für Freiheit
zu gewinnen und zu rekrutieren, gehört zu den leider viel zu wenig
beachteten fragwürdigen Phänomenen des Kalten Krieges.
Trotz der merkwürdigen Karriere dieses Mannes halte ich sein Buch
Die
Diktatur der Lüge für eine der wesentlichsten Kampfschriften
wider den stalinistischen, in sich gesetz- und gerechtigkeitslosen, Missbrauch
der Justiz. Anstelle der Gerechtigkeit trat der ideologische Terror.
Josef K. im neunten Kapitel Im Dom: Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.
Janko Ferk zitiert einen vorbereitenden Kontext, dargestellt von Hans
Kelsen:
Denn die rechtliche Verbindlichkeit der Rechtssätze, ihr normativer
Charakter stammt aus einer ganz anderen Quelle als die verpflichtende Kraft
der Sittengesetze. Was immer der Ursprung der Moralgebote sein mag, die
Quelle der verbindlichen Rechtsgesetze ist - für die formaljuristische
Betrachtung des modernen Rechts ausschliesslich und allein der Wille des
Staates, der natürlich für die Normen der Moral niemals in Betracht
kommen kann. Weil und nur insofern sie Wille des Staates sind, der durch
die faktische Macht seinen Willen realisiert, haben Rechtssätze verbindliche
Kraft - und für diese rechtliche Verbindlichkeit ist gleichgültig,
ob sie mit Sittengesetzen übereinstimmen oder nicht. Nicht wegen Übertretung
eines Sittengesetzes wird der Verbrecher bestraft, sondern weil ein Rechtsgesetz
auf sein Verhalten Strafe setzt. Und die rechtliche Verbindlichkeit eines
Rechtssatzes leidet nicht im geringsten, wenn er in Widerspruch eines Sittengesetzes
steht.
Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt an der
Lehre vom Rechtssatz, Tübingen 1911
Genau genommen muss K s Schuld jenseits juristischer Vorwerfbarkeit
liegen, sozusagen in der Metaphysik eines Naturrechts, das die Wiener Schule
durch den absoluten Machtanspruch des Staates ersetzte. (Janko Ferk)
Dazu Hans Kelsen:
Die Frage, die auf das Naturrecht zielt, ist die ewige Frage, was
hinter dem positiven Recht steckt. Und wer die Antwort sucht, der findet,
fürchte ich, nicht die absolute Wahrheit einer Metaphysik noch die
absolute Gerechtigkeit eines Naturrechts. Wer den Schleier hebt und sein
Auge nicht schliesst, dem starrt das Gorgonenhaupt der Macht entgegen.
Hans Kelsen, In Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen
Staatsrechtler, Heft 3, Berlin und Leipzig 1927,
Rückgewendet zu den Thesen von Hans Kelsen, bzw. zu seinem Gorgonenhaupt der Macht könnte man sagen, der politische Ankläger legt die Schuldhaftigkeit von vornherein fest und bestätigt diese im nachhinein unter Mitwirkung des Angeklagten in einem öffentlichen Schauprozess.
Doch Josef K. spielt dieses Spiel so nicht mit, andererseits kommt er
dem in die Nähe. Er hadert mit dem imaginären Gericht, so wie
Hiob mit Gott gehadert hat.
Josef. K an den Untersuchungsrichter:
Sie können einwenden, dass es ja überhaupt kein Verfahren
ist, Sie haben sehr recht, denn es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es
als solches anerkenne. Aber ich erkenne es also für den Augenblick
jetzt an, aus Mitleid gewissermassen.
und weiter
„Es hilft nichts“, fuhr K. fort, „auch ihr Heftchen, Herr Untersuchungsrichter,
bestätigt, was ich sage.“ Zufrieden damit, nur seine ruhigen Worte
in der fremden Versammlung zu hören, wagte es K. sogar, kurzerhand
das Heft dem Untersuchungsrichter wegzunehmen und es mit Fingerspitzen,
als scheue er sich davor, an einem mittleren Blatte hochzuheben, so dass
beiderseits die engbeschriebenen, fleckigen, gelbrandigen Blätter
hinunterhingen.
„Das sind die Akten des Untersuchungsrichters.“ sagte er, und liess
das Heft auf den Tisch hinunterfallen.
Später wird er den Advokaten Bloch entlassen, weil der mit der
Verteidigungsschrift offensichtlich nicht weiterkommt, nicht weiter kommen
will. K. kann und will sich dem Zeit-Takt des Gerichts nicht unterwerfen.
Vorher schon hat er sich mit der Haushälterin Blochs, Leni, in
dessen Wohnung vergnügt, anstatt den Ausführungen seines Anwalts,
dem er von seinem Onkel zugeführt worden ist, zu lauschen.
Josef K. missachtet das Gericht und nimmt seinen Anwalt nicht ernst.
Ab da an lässt ihn das Gericht jagen, mit oder ohne Anklage, mit
oder ohne Verfahren, mit oder ohne Urteil. Noch ist er von Leni gewarnt,
doch die Schergen suchen ihn, finden ihn auf und richten ihn auf einer
Gstätten am Rande der Stadt hin.
Ähnlich verhalten haben sich Angeklagte aus der 68-er Rebellen Generation. Die Zuständigkeit der Gerichtsbarkeit wurde grundsätzlich in Frage gestellt. So antwortete ein des Landfriedensbruches angeklagter Kommunarde auf die Aufforderung des Richters, sich zu erheben mit dem Satz: Wenn es der Wahrheitsfindung dient.
Kafkas Werk nahm nicht allein eine Schlüsselposition in der Ausereinandersetzung
mit dem Totalitarismus insgesamt,. Es diente auch als ein geistiges Modell
der 68-er in der Auseinandersetzung mit der repressiv empfundenen Staatsmacht
im Sinne aufklärender Subversion, die sich darin legitimiert, dass
das Gesetz von der Staatsmacht selbst missachtet wird.
Kafkas Werk wohnt eine bestimmte Subversivität inne, die es insbesondere
den orthodoxen Kommunisten suspekt machte. Er galt als kleinbürgerlicher
Schwarzseher und Pessimist. In Wahrheit fürchtete man jedoch in
der Rezeption Rückschlüsse auf die Allgegenwart des Staatssicherheitsdienstes
und des KGBs, ebenso Analogieschlüsse zur herrschenden Willkür der
Bürokratie.
Bertolt Brecht über Franz Kafka:
Bei ihm findet sich in merkwürdigen Verkleidungen vieles Vorgeahnte,
was zur Zeit des Erscheinens der Bücher nur wenigen zugänglich
war. Die faschistische Diktatur steckte den bürgerlichen Demokratien
sozusagen in den Knochen, und Kafka schilderte mit grossartiger Phantasie
die kommenden Konzentrationslager, die kommende Rechtsunsicherheit, die
kommende Rechtsunsicherheit, die kommende Verabsolutierung des Staatsapparates,
das dumpfe, von unzugänglichen Kräften gelenkte Leben der vielen
einzelnen. Alles erschien wie in einem Albdruck und mit der Wirrheit und
Unzulänglichkeit des Albdrucks.Und zu gleicher Zeit, wo der Intellekt
sich verwirrte (mich erinnert Kafka immer an die Aufschrift am Tor der
Danteschen Hölle: "Wir sind angekommen vor dem Tor des Lands / wo
alles wehrlos ist, was leidet, / das hat verspielt das Erbgut des Verstands"),
klärte sich die Sprache. Deutsche Schriftsteller werden unbedingt
diese Werke lesen müssen, so schwer das ist, da die Stimmung der Ausweglosigkeit
sehr stark ist und man zu allem einen Schlüssel braucht wie bei Geheimschriften.Ich
sehe, ich habe viele Mängel aufgezählt in diesen kurzen Sätzen,
mit denen ich eine Ehrung beabsichtige, und tatsächlich bin ich weit
davon entfernt, hier ein Vorbild vorzuschlagen. Aber ich möchte diesen
Schriftsteller nicht auf den Index gesetzt sehen bei allen seinen Mängeln.
Oft dienen die Schriftsteller uns auch mit dumpfen, dunklen und
schwer zugänglichen Werken, die man mit grosser Kunst und Sachkenntnis
lesen muss, als wären sie illegale Zuschriften, dunkel aus Furcht
vor der Polizei. Und man kann auch mit Nutzen Werke voll von Irrtümern
lesen, wenn sie auch anderes enthalten. Misstrauen vernichtet nicht das
Lesen, sondern Mangel an Misstrauen.
(B.B. über die moderne tschechoslowakische Literatur, wahrscheinlich
1938 verfasst; siehe gesammelte Werk, Suhrkamp)
Die DDR ist dem Ansinnen Brechts nicht nachgekommen und hielt Kafka
lange Zeit weitgehend zurück. Die Zeilen von Brecht finden sich
im Klappentext des ersten Bandes des von Klaus Hermsdorf 1983 bei
Rütten & Loening herausgegebenen Werks.
Erinnern wir uns an die Forderung Ernst Fischers im Dialog der 60 er Jahre. Gebt
Kafka endlich seinen Pass zurück !. Das betraf den Umgang der
Tschechoslowakei mit Kafkas Werk.
Das, was Brecht in durchaus opportunistischer, sich selbst schützender
Weise noch als Mangel ausdrückte, ist uns Heutigen eine wichtige Lehre
und ein klarer Sinn für die wahren Verhältnisse. Welchen Index
meint eigentlich Brecht 1938, zu einem Zeitpunkt, zu dem er sich auf der
Flucht vor den Nazis befunden hat ? Die Goebbelsche Verbotsliste kann er
nicht gemeint haben. Gab es zu diesem Zeitpunkt bereits eine interne Zensurliste
der Nachfolgeorganisation der Komintern, die später etwa in der DDR
angewandt und erweitert wurde ? Kafka selbst wäre wohl in der Sowjetunion
Stalins den sogenannten antitrotzkistischen Säuberungen zum Opfer
gefallen. Aber das ist ein rein hypothetisches Gedankenspiel.
Hat Brecht, selbst verfemt und auf einer Verbotsliste der Nazis stehend,
umgekehrt über einen Index mit nachgedacht, dem u.a. auch sogenannte
Links- oder Rechtsabweichler zum Opfer gefallen wären ? So wie Benedikt
Kautsky auf die Zensurliste der Alliierten gelangte, die im wesentlichen
von den Sowjets vorbereitet worden ist.
Doch auch die traditionelle westlichen Staatsmächte wussten um
die Bitterkeit, die der innewohnende Kafkasche Gerechtigkeitssinn auszulösen
imstande ist.
Tatsächlich wurde er in den 60 er Jahren von der nichtorthodoxen
Linken rezipiert. Das herausgeberische Werk des ausgezeichneten Kafka Biografen
Klaus Wagenbach lässt berechtigte Schlüsse zu.
Die akademisch orientierten Literaturwissenschaften beschäftigten
sich jedoch weitgehend mit den formalen Aspekten des Kafkaschen Werks.
Um ihn herum ist jedoch keiner gekommen und er ragt auch heute noch als
Riesenstein mit unterschiedlichsten Facetten wie angelegten Brüchen
eratisch aus dem weiten Feld der Weltliteratur in die Gegenwart wie in
die Zukunft.
Günter Anders wusste um das subversive Potential Kafkas sehr genau
Bescheid, wie seine im New Yorker Exil 1946 fertiggestellte, ausgezeichnete
Schrift Kafka - Pro und Kontra eindrucksvoll unter Beweis stellt.
Als Fazit schreibt er:
Sein Werk ist nicht von heute, sondern von vorgestern. Die geschichtliche
Situation, in der er verwendet wird, war von ihm nicht vorauszusehen. Die
Anspielungen auf die Welt des Terrors und der Gleichschaltung, deren Zeitgenossen
wir sind, waren für ihn keine Anspielungen.
Nun, das glaube ich nicht. Wenn es für Kafka keine Anspielungen
gewesen sind, dann hat er vor seinen Zeitgenossen eine bereits im Keim
bestehende Realität wahrgenommen, die in Folge sich auswuchs, die
unsere Gegenwart noch immer mitbestimmt und und deren Düsternis auch
aus der Zukunft hervorleuchtet.
Man kann mit Günter Anders sagen, dass Kafka im Heute noch wirksam
ist, ja wirksam bleiben wird. Zu grundlegend sind die existentiellen wie
auch transzendentalen Infragestellungen des Franz Kafka.
Was bedeutet das für Günter Anders:
Das heisst: Die Position, die er einnimmt, aufs Deutlichste bezeichnen;
die in seinen Werken, teils direkt, teils indirekt investierten Nihilismen
so durcherklären, dass sie ihre Lockung einbüssen; so, dass wer
zur Verteidigung seines eigenen Verhaltens auf ihn sich beruft, oder wer
ihn nachahmt, notorisch ist.
Man hat auch Warnungen zu erben. Und durch grosse Warnungen sich
selbst zu erziehen und andere zu bilden. Die von ihm durchgeführte
Zeichnung der Welt, wie sie nicht sein sollte; der Attitüden, die
unsere nicht sein dürfen - als Warnungstafeln in unseren Seelen aufgestellt,
werden von Nutzen sein. Und da sie von einem guten Menschen gezeichnet
waren, der letztendlich zweifelte an der Brauchbarkeit seines Werkes und
selbst für dessen Zerstörung plädierte, dürfen wir
vielleicht hoffen, dass er als Warner das wird leisten können, was
er als Ratgeber für sich oder andere nicht hatte leisten können:
zu helfen.
Ein besonders autoritäre wie totalitäre Gesetzesauffassung
demaskiert Kafka in seiner Erzählung In der Strafkolonie.
Dem Forschungsreisenden ist vom beauftragten Offizier eine Exekution
eines Deliquenten in der von seinem hochverehrten Vorgänger konstruierten
Belehrungs- wie Hinrichtungsmaschine vorzuführen.
Die Maschine schreibt dem Verurteilten das Gesetz buchstäblich
auf den Leib, bläut es ihm nicht allein ein, peitscht es ihm nicht
allein auf, sondern tätowiert es in vielen verschlungenen Zügen
auf den nackten Leib, bis er sein Vergehen in seiner Tiefe versteht. Vor
seiner endgültigen Auslöschung wird ihm das Gesetz beigebracht.
Meist kennt der in Spangen geschlossene, zum Richtplatz geführte Delinquent
nicht einmal sein Vergehen. Doch es wird ihm auf den Leib geschrieben werden.
Der Offizier zeigte auf den Mann: Diesem Verurteilten zum Beispiel
wird auf den Leib geschrieben werden: Ehre deinen Vorgesetzten !
Die Einhaltung der Disziplin zählte zu den eifersüchtig mit
Argusaugen gehüteten zentralen Ordnungsprinzipien des kaiserlichen
und königlichen Heeres.
Im vierten Abschnitt des Dienstreglements aus dem Jahre 1873, Ausgabe
1904, des k.u.k. Heeres finden wir die Verhaltungen des höheren
Vorgesetzten.
Disziplin.
Die Disziplin ist der Inbegriff der einer Truppe innewohnenden Subordination,
Pflichttreue und Ordnung.
Sie bedingt von Seite des Vorgesetzten unbeugsame Kraft in Handhabung
der Zucht und in Durchführung der Befehle, von Seite der Untergebenen
pünktlichen Gehorsam und beansprucht von den einen wie von den anderen
Achtung vor dem Gesetz und Pflichten bis zur grössten Selbstverleugnung.
Die Disziplin umfasst gleich der Subordination die Personen aller
Grade der bewaffneten Macht und der Gendarmerie, alle Truppen- und Armeekörper
- das ganze Gefüge der Kriegsmacht. Sie ist für deren inneren
Wert und deren Leistungsfähigkeit von höchster Wichtigkeit.
Die Grundlage der Disziplin in der Truppe ist die angemessene Erziehung
des Soldaten zum unbedingten Gehorsam, zur gewissenhaften Pflichterfüllung
und zur strengsten Genauigkeit im Detail des Dienstes.
Die Disziplin erfordert die unausbleibliche Bestrafung eines jeden,
der den erlassenen Befehlen und Vorschriften nicht pünktlich nachkommt.
Der vorführende Offizier in der Strafkolonie weiss, dass die Gesetzesmaschinerie nicht mehr ganz zeitgemäss (1914) empfunden wird, und fürchtet, dass der Forschungsreisende nur eingeladen wurde, um der Welt den Schrecken dieses mechanischen Vollzugsapparates mitzuteilen.
Dieses Verfahren und diese Hinrichtung, die Sie jetzt zu bewundern Gelegenheit haben, hat gegenwärtig in unserer Kolonie keinen offenen Anhänger mehr. Ich bin ihr einziger Vertreter, gleichzeitig der einzige Vertreter des Erbes des alten Kommandanten.
Das Ende dieses Verfahrens scheint gekommen und der diensthabende Offizier
begreift dies im Gespräch mit dem Reisenden. Er befreit den Delinquenten
aus den Fesseln des Apparats und verfügt sich selbst an den Platz
der Verurteilten. Der Offizier fühlte sich so sehr dem Gesetz verpflichtet,
dass er kurzerhand beschloss, dessen bevorstehende Einstellung mit seiner
Selbstaufopferung zu beschliessen. Die Soldaten der Beschrankung, die den
Verurteilten unmittelbar zu bewachen hatten, weist er an, nach Hause zu
gehen.
Die Maschine beginnt zu laufen und während des Vollzuges zerbricht
sie und spiesst den Offizier dergestalt auf, dass ihm das eiserne Horn
durch den Schädel dringt und aus der Stirne hervorragt.
So wohnte der Forschungsreisende dem Ende des grausamen Militärgesetzes
bei.
Halten wir uns vor Augen, dass Kafka diese Geschichte zu Beginn des 1.Weltkrieges geschrieben hat, sie öffentlich vorgetragen hat und mit dem Verleger Wolff über die Drucklegung verhandelte. Tatsächlich erschien sie erst nach dem Kriege im Jahre 1919.
Kafka, der ausgebildete und praktizierende Jurist, muss sich dessen bewusst bewusst gewesen sein, dass er damit einen Aufruf zur absoluten Insubordination, zur definitiven Zerschlagung des Militärsgesetzes verfasst hat. Das kam in solcher Zeit dem Hochverrat nahe. Doch ihm ist wundersamerweise nichts geschehen. Die Nazis hätten ihn wegen Wehrkraftzersetzung vor ein Standgericht geschleift. Kafka ist also ein sehr mutiger Mann gewesen.
Es sei nun noch eine kleine, aber nicht unwesentliche Randnote der Geschichte erwähnt. Josef Stalin hat sich kurz vor Ausbruch bzw. während des 1.Weltkrieges für längere Zeit in ein kleines Hotel in der Schönbrunner Schlossstrasse zurückgezogen und sich sozusagen im nächsten Umfeld der Kaisers aufgehalten. Es wird erzählt, dass Stalin während seines Wiener Aufenthaltes k.u.k Finanzrecht, Völker- und Militärrecht studiert habe...
In anderer Weise ist die Metapher der Maschine heute noch gültig.
Der Befehlskanon der Computer wird uns zwar nicht auf den Leib, aber doch
ins Hirn geschrieben. Und wir müssen es hinnehmen, ob wir wollen oder
nicht.
Sollte es uns nicht auch mit Sorge erfüllen, dass wir der Technik
mehr Realität zubilligen, als wir aus unserem eigenen Leben zu geben
fähig sind? Werden wir gar wie der Offizier der Strafkolonie mit der
Technik untergehen?
So wie ich diesen Text mit der Beschreibung eines Bildes begonnen habe, möchte ich diesen ersten Teil einer umfangreichen Auseinandersetzung mit Franz Kafka mit einer Bildbeschreibung von ihm aus dem Prozess beenden.
Besonders fiel ihm ein grosses Bild auf, das rechts von ihm an der Tür hing, er beugte sich vor, um es besser zu sehen. Es stellte einen Mann im Richtertalar dar; er sass auf einem hohen Thronsessel, dessen Vergoldung vielfach aus dem Bilde hervorstach. Das Ungewöhnliche war, dass dieser Richter nicht in Ruhe und Würde dort sass, sondern den linken Arm fest an Rücken- und Seitenlehne drückte, den rechten Arm aber völlig frei hatte und nur mit der Hand die Seitenlehne umfasste, als wolle er im nächsten Augenblick mit einer heftigen und vielleicht empörten Wendung aufspringen, um etwas Entscheidendes zu sagen oder gar das Urteil zu verkünden...
Doch welches Gesetz sollte der Richter heute verkünden. Etwa die
Auffassung von John Rawls, eines amerikanischen Rechtsphilosophen, wie
sie Janko Ferk beschreibt. Für Rawls wäre die Pflicht unbestritten
"einem ungerechten Gesetz zu gehorchen". Die Verpflichtung beruhe auf
den "Grundsätzen der Pflicht und dem Fairnessgrundsatz". Es
sei unrichtig, ungerechten Regelungen nie gehorchen zu müssen. "Die
Ungerechtigkeit eines Gesetzes ist nicht allgemein ein hinreichender Grund,
sich nicht an es zu halten."
Falls die Grundstruktur der Gesellschaft einigermassen gerecht sei
und das Gesetz ein gewisses Mass an Ungerechtigkeit nicht überschreitet,
ist es nach Rawls bindend. Hier wären die Forderungen der politischen
Pflicht und Verpflichtung abzuwägen.
Oder halten wir uns an gleich an einen der wesentlichsten Primärcodes:
Matthäus 7,12 Die Goldene Regel
Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr
ihnen auch; darin besteht das Gesetz und die Propheten.
und 7,1-5 Vom Richten
Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet ! Denn wie ihr richtet,
so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Mass, mit dem ihr messt und
zuteilt, wird euch zugeteilt werden. Warum siehst du den Splitter im Auge
deines Bruders, aber den Balken im eigenen Auge bemerkst du nicht ? Wie
kannst du zu deinem Bruder sagen: lass mich den Splitter aus deinem Auge
herausziehen ! - und dabei steckt in deinem Auge ein Balken? Du Heuchler
! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den
Splitter aus dem Auge deines Bruders heraus zu ziehen.
Nach der Einheitsübersetzung des Neuen Testamentes.