Franz Kafka - der bohrende Sinn

Part 1.

© by Franz Krahberger
 

Electronic Journal Literatur Primär ISSN 1026 -0293


Kafkas ganze Kunst besteht darin, den Leser zum Wiederlesen zu zwingen. Seine Lösungen oder auch der Mangel an Lösungen lassen Deutungen zu, die nicht klar ausgesprochen werden und, um begründet zu erscheinen, eine nochmalige Lektüre unter einem neuen Gesichtspunkt verlangen. Manchmal sind zwei Auslegungen möglich, so dass ein zweimaliges Lesen notwendig erscheint. Genau das hat der Verfasser beabsichtigt. Es wäre aber falsch, wollte man bei Kafka alles bis ins einzelne erklären.
Albert Camus in Der Mythos von Sysyphos

Franz Kafka ist neben James Joyce der bestimmende Autor meiner jungen Jahre gewesen. Jetzt, mehr als dreissig Jahre später lese ich ihn erneut. Die Fischer Bändchen aus jenen Tagen sind so zerfleddert, dass ich nicht umhin komme, mir eine neue Gesamtausgabe, ebenso in der Max Brodschen Edition, kaufen zu müssen. Das Auseinanderfallen der alten Bändchen zeigt mir an, wie eingehend ich Kafka damals gelesen habe. In der Relektüre und im Wiedererkennen der meisten Passagen erkenne ich, wie intensiv Kafka mich beschäftigt hat. Das sagt aber nichts aus darüber, ob ich Kafka damals auch wirklich verstanden habe. In groben wie wesentlichsten Zügen mag dies zutreffen, doch viele Details und Zusammenhänge treten jetzt deutbarer und klarer zutage, als sie damals in mein lesendes Bewusstsein traten.

Ich lese Kafka in einer Phase wiedergefundener Zeit, vor dem Hintergrund eigener Lebenserfahrung und einer Fülle erworbenen Wissens, und der Abklärung all des gesellschaftlichen Geschehens, das mein Leben mitbestimmt hat.
So erschliessen sich jetzt sowohl die religiösen wie auch philosophischen Dimensionen des Werks, ich achte mehr auf die Konstruktion des Sprach- und Bilderbaus, auf den filmischen Blick Kafkas, der sich von Einstellung zu Einstellung in unterschiedlicher Perspektive entfaltet und anregend sowohl für den französischen Noveau Roman wie auch Nouvelle Vague gewesen sein dürfte.
Ebenso ist mein lesender Blick geschärft durch ausgiebige historische Kenntnisse und einer vertieften Vorstellung der gesellschaftlichen Athmosphäre der zerbrechenden Donaumonarchie, der Obsoletheit des militärischen Gesetzes (Strafkolonie), der Gesetzgebungsvorstellungen antagonistischer gesellschaftlicher Strömungen und der damit verbundenen Grauzonen (Der Prozess), und der Abhängigkeit von einem repressiv spielerischen autoritären System mit seinen zwischenmenschlichen Interaktionen im ausweglosen Wechselspiel der Beherrschten (Das Schloss), sowie dem ungezügelten Wettbewerb im Wirtschaftsliberalismus (Amerika - Das Naturtheater von Oklahoma).

Eine der zentralen Personen, mit der ich mich in meiner Arbeit am Admontinischen Universum auseinander zu setzen hatte, ist Abt Matthäus Ofner gewesen. Abt Mätthäus liess den prunkvollen barocken Bibliotheksaal mit all seinen Applikationen errichten und ordnete den Bestand neu.
In den Räumen des Stiftsbibliothekars hing ein zeitgenössisches Portrait dieses Abtes, das mir wert geworden ist. Abt Mätthäus hält in seiner Linken ein zwei gefaltetes Blatt weissen Papieres, während bereits seine Rechte mit gefülltem Federkiel über dem nächsten Blatt schwebt.

Auf dem gefalteteten, zur Weitergabe bestimmten Blatt steht die lateinische Anweisung Fiat (es geschehe) nach dem hier innestehenden Begriff.

Man erkennt darin eine allgemeine Handlungsanweisung aus der Hoheitsgewalt des Abtes heraus. Es geschehe nach jenem, das hier innen formuliert steht.
Nachdem es eine dreidimensionale Bilddarstellung auf zweidimensionaler Fläche ist, kann das gefaltete Papier nicht geöffnet werden, um nachzusehen, welch Begriff nun tatsächlich in diesem einen Papier steht. Man kann den Inhalt nicht in Erfahrung bringen. Im Sinne eines barocken Concettos könnte ich sagen, es wäre nach Auffaltung zumindest ein Kreuz erkennbar. Aber auch das gehört zur allgemeinen Regel der Befehlsgewalt des Abtes. Es geschehe im Namen des Kreuzes, in Christi Namen.
Wir können behaupten, das gefaltete Papier stelle eine Variable dar, in die der der Abt nach Belieben, aber immer im Kontext zur Regel und der im klösterlichen Alltagsleben anfallendenen Notwendigkeiten, einen Begriff einfügen kann.
Es geschehe in Demut, es geschehe in Schweigen... Es geschehe, punktum.
Die Verschlossenheit dieser Botschaft evoziert die Phantasie der Betrachter. Jeder will wissen, was denn in dem Papier stünde. In gewisser Hinsicht ist es ein schlichter zweigefalterter Begriffsgenerator, der auf die Kenntnisse und Aszoziationsfähigkeit des Betrachters wirkt und in ihm ein Spiel der unendlichen Fragen auslöst, ein Universum der Wahrnehmung und der vielfältigen Konstellationen. Es ist ein abstraktes Concetto im besten Sinne, das in die Vielfalt der von uns wahrgenommenen bis ausgeblendeten Wirklichkeit führt.
Genauso könnte es sein, das es nichts enthält, die taoistische Botschaft des non-existenten, das Nihil einer entleerten Moral. So entspräche es der Entwicklung in Franz Kafkas Prozess. Denn auch Josef K. weiss nicht, wessen er angeklagt ist. Es gibt nur die äussere Form einer Anklage. Er weiss aber nicht zu sagen, was denn die Anklage tatsächlich enthält, so wie wir nichts über den Inhalt des äbtlichen Papieres zu sagen wissen.

Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.
Er ist unter Anklage gestellt. Er nimmt die Anklage ernst. Er lässt sich darauf ein, obwohl er nicht müsste. Der Gefängniskaplan zu ihm im Dom:
Ich gehöre also zum Gericht. Warum sollte ich etwas von dir wollen. Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst. Tatsächlich wird in keiner einzigen Zeile des Prozesses ein konkreter Betreff, die Verletzung eines bestimmten Gesetzes, der Inhalt der Anklage genannt. Und trotzdem fühlt Josef K. sich betroffen, beginnt Advokaten des imaginär erscheinenden Gerichts aufzusuchen und zu verpflichten, die für ihn mit der Ausarbeitung einer Verteidigungsschrift beginnen. Er ist angeklagt, er fühlt sich angeklagt, aber weiss nicht, welchen Tatbestandes er beschuldigt wird.

Der Prozess gerät zum schwebenden Verfahren mit ungewissen Inhalten, mit ungewissem Ausgang, er gerät zur Destabilisierung des Gewissens des Josef K. Sein Gewissen wird angesprochen, doch über die Konkretheit der Anschuldigungen ist er sich völlig ungewiss und wird auch im ungewissen belassen.
Kafka ist nicht allein ein jüdisch geprägter Aussenseiter in einem katholisch bis protestantisch geformten Land. Er hat starke christliche Affinitäten. Günther Anders nennt ihn in seiner eindrucksvollen und scharfsichtigen analytischen Arbeit Kafka - Pro und Contra, die 1946 im New Yorker Exil fertiggestellt wurde, einen christianisierenden Theologen der jüdischen Existenz.

Dieser Prozess ohne eine näher definierte Anklage rührt allgemein an die für mich unbestrittene Existenz des menschlichen Gewissens in seiner dramatischen Ungewissheit. Allein schon der christliche Glaube stellt den Menschen schuldbeladen in die Welt. Es ist nach altem Testament und katholischer Theologie die Erbsünde, die uns von Anbeginn anhaftet, die rituell durch Taufe und die folgenden Sakremente nicht völlig gebannt werden, allein zurückgedrängt werden kann.
Ich habe noch niemanden getroffen, auch keinen Kleriker, der mir plausibel den Gehalt und das Wesen der Erbsünde, des
alttestamentarischen Sündenfalles, deutlich machen konnte. Die Erbsünde ist ein variabler Begriff, der über unser von vornherein mit Schuld beladenem Haupt schweben soll. Etwas, dass den Lebensprozess in Gang und unter Aufsicht  hält, ohne sich völlig erkennen zu geben.
Auch hier können wir das Papier des Abt Matthäus als Analogie heranziehen. Wir wissen nicht, was drinnen geschrieben steht, wir wissen nicht, wie unser Tun enden wird. Wir wissen allein mit Gewissheit, dass es ein Vorgang ist, dass es der Prozess des Lebens ist, der von Anbeginn des Lebens bis zum Ende hin fortschreitet, und nicht einmal abrupt durch den Tod abgebrochen wird. Nach wie vor, ohne in diesem Punkt die christliche Heilslehre und Versprechungen des ewigen Lebens zu bemühen, beschäftigt dieser Prozess die Lebenden, die Nachkommenden, die Nachfahren.
Für Kafka lastet die Erbsünde, die im katholischen Sinn ein Merkmal aller Menschen ist, doppelt. Ist es ein Makel, als Jude in einer christlichen Welt leben zu müssen ? Ein Makel, der von zwei Seiten gesehen werden muss. Sowohl aus jüdischer wie aus christlicher Sicht. Die Christen haben den Juden bis in die Gegenwart vorgeworfen, den Tod des göttlichen Sohnes mitverschuldet zu haben, der christlichen Heilslehre nicht gefolgt zu sein. Erst in den letzten Jahrzehnten zeigt sich deutliches Umdenken. Das katholisch christliche Vorurteil hat wesentlich dazu beigetragen, den Holocaust in Gang zu setzen.

Josef K. ist verleumdet worden. Die antisemitische Hetze der Nationalsozialisten kann als Verleumdung des Judentums insgesamt angesehen werden. Die Juden hatten keinerlei Gesetz gebrochen. Der Gegenstand der Anklage, niedergeschrieben im Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, beschlossen am 15. September 1935 auf dem Nürnberger Parteitag der NSDAP, ist allein die jüdische Herkunft.

Auch hier gab es im Sinne Kafkas keinen einzigen gerechtfertigten Anklagepunkt und auch hier wird das mörderische Urteil vollzogen, sowie K. im Prozess ums Leben gebracht wird. Mit dem dramatischen Unterschied, dass daraus ein Völkermord geworden ist, dem Kinder, Frauen und Männer zum Opfer gefallen sind. Welcher Gesetzesverletzungen sollten den die jüdischen Kinder, angeklagt werden, ausser eben dem einen Punkt, Juden gewesen zu sein.
So kann und muss man deutlich von Rassengesetzgebung wie Völkermord sprechen.

Wie unschlüssig das Prozess Gericht in sich gewesen ist, zeigt die Schlussszene.
K. wusste jetzt genau, dass es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er tat es nicht.
Und so mussten die Schergen eine Hinrichtung vollziehen, zu der in der Anklage keinerlei Anlass zu finden ist und ihre Hände wurden für immer vom Blut eines Unschuldigen überströmt.

Camus spricht in seinem Essay von mindestens zwei möglichen Auslegungen. Tatsächlich lässt sich der Prozess in unterschiedlichen Kontextierungen in mehr als zwei Möglichkeiten lesen.

An dem politischen Hintergrund, an den gesellschaftlichen Bedingungen hat sich die umfangreiche Kafka Literatur( so erwähnt Janko Ferk in seinem ausgezeichneten Buch die Existenz von mehr als 11000 sekundärliterarischen Arbeiten, abgesehen von der Unmenge an Aufsätzen, die zu Kafka bislang weltweit erschienen sind), abgesehen von den ausdrücklichen Hinweisen etwa Klaus Wagenbachs in dessen nach wie vor lesenswerter Kafka Monographie, meist vorbeigeschwindelt.

Richten wir den Blick in das Kapitel Erste Untersuchung:
Vor dem fünften Stockwerk entschloss er sich, die Suche aufzugeben, verabschiedete sich von dem freundlichen jungen Arbeiter, der ihn weiter hinauführen wollte.....
Nur diese Kleidung beirrte K., sonst hätte er das Ganze für eine politische Bezirksversammlung gehalten...
Unter den Bärten aber - und das war die eigentliche Entdeckung, die K.machte - schimmerten am Rockkragen Abzeichen in verschiedener Grösse und Farbe. Alle hatten diese Abzeichen, so weit man sehen konnte. Alle gehörten zueinander, die scheinbaren Parteien rechts und links, und als er sich plötzlich umdrehte, sah er die gleichen Abzeichen am Kragen des Untersuchungsrichters.
Das seltsame Gericht, dem sich Josef K. zu stellen hat, befindet sich in  Dachböden in Vorortebezirken, die vor allem von kleinen Handwerkern und Arbeiterfamilien bewohnt werden.
Josef K. mondänes Buero hingegen hat seinen Ort in der Prager Innenstadt.
In welcher Stellung befand sich doch K. gegenüber dem Richter, der auf dem Dachboden sass, während er selbst in der Bank ein grosses Zimmer mit einem Vorzimmer hatte und durch eine riesige Fensterscheibe auf den belebten Stadtplatz hinuntersehen konnte !

Und trotzdem nimmt K. dieses merkwürdige Gericht ernst. Er schlägt sogar eine private Einladung des stellvertretenden Direktors der Bank aus, die ihm die Möglichkeit gegegeben hätte, sich mit einem ebenso eingeladenen befreundeten Staatsanwalt der offiziellen k.u.k. Justiz über sein Problem zu bereden.
Eine Frage Herr K.: Möchten Sie mir Sonntag das Vergnügen machen, eine Partie auf meinem Segelboot mitzumachen? Es wird eine grössere Gesellschaft sein, gewiss auch Ihre Bekannten darunter. Unter anderem Staatsanwalt Hasterer.
Wollen Sie kommen ? Kommen Sie doch !
Doch K. nimmt die Einladung nicht an.
Vielen Dank ! Aber ich habe Sonntag leider keine Zeit, ich habe schon eine Verpflichtung. K. begibt sich zur ersten Untersuchung.

Das Dachbodengericht existiert also neben der legalen staatlichen Gerichtsbarkeit. Tatsächlich lassen sich charakteristische Züge der Illegalität herauslesen.
Im weiteren entdeckt man Merkmale einer illegalen, subversiven Untergrundbewegung, oder einer kriminellen Subkultur, oder auch des Sektiererwesens. Den Drang nach Beobachtung, Observation, Begleitung, Vereinnahmung, Herauslösung aus dem normalen Alltagsleben etc....eben Illegalität, bis hin zu zu verdeckten Versammlungen an scheinbar obskuren Orten. Man könnte einen Klassengegensatz konstatieren zwischen dem mondänen Büro des gehobenen Bankkaufmanns auf dem, sagen wir, Altstädter Ring, und den Anklägern am Rande der Stadt, in den dumpfen Vorstädten.

Tatsächlich ist Franz Kafka bereits in jungen Jahren mit sozialrevolutionären Bewegungen in Kontakt gekommen und hat sich zeit seines Lebens offen gegenüber der sozialistischen Idee und den damit verbundenen Haltungen gezeigt. Ein Engagement, das durch seine Tätigkeit in der Arbeiter Unfall Versicherungs Anstalt für das Königreich Böhmen, durch die tägliche Anschauung der widrigen Bedingungen, unter denen Arbeiter ihrem Lebenserwerb nachgehen mussten, verstärkt worden ist.
Kaum ein anderer Schriftsteller seiner Zeit hatte derart umfangreiche und konkrete Einsichten in das menschenschinderische industrielle System, schreibt Klaus Wagenbach. Kafka musste u.a. die Betriebe in Gefahrenklassen bewerten, das heisst kontrollieren, ob die tatsächliche Gefährdung der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz mit der gegenüber der Versicherungsgesellschaft angegebenen übereinstimmte.
Kafka besucht häufig politische Veranstaltungen und nahm an den Versammlungen des sozialrevolutionären Klubs Klub mladých teil. Der Klub, von der Obrigkeit als anarchistische Jugenorganisation eingeschätzt, wurde am 10.Oktober 1910 wegen Propagierung antimilitaristischer und anderer staatsgefährdender Ideen aufgelöst. Tatsächlich stellt die zu Beginn des 1.Weltkrieges entstandene und während des Krieges im November 1916 in München von Kafka öffentlich vorgetragene Erzählung In der Strafkolonie das Militärgesetz generell in Frage.
Hinzu käme, dass Kafka sich mehr oder minder auf der Seite des tschechischen nationalen Widerstandes sich befand. Er hatte wegen der deutschnationalen Einstellung den Besuch der Vorlesungen des Germanisten August Sauer, der im Nationalitätenhader der Donaumonarchie führend auf der deutschnationalen Seite hervorstach, abgebrochen und überlegte sich kurzfristig, seine germanistischen Studien in München fortzusetzen.

Der Sauer Schüler Josef Nadler hat dessen Theorie von der Stammes- und Landschaftsgebundenheit der Deutschen Literatur weiterentwickelt und zu einem späteren Zeitpunkt bis Mitte 1945 an der Wiener Universität gelehrt.

Kafka ist also ein durch und durch politisch denkender wie handelnder Mensch gewesen. Janko Ferk schreibt, dass Kafka einmal in der Angelegenheit der Invalidätsrentenanspruches eines Arbeiters einen hervorragenden Prager Anwalt insgeheim so unter Vertrag genommen hat, dass dieser die Ansprüche des Arbeiters gegenüber der Arbeiter Unfall Versicherungs Anstalt, vertreten durch Dr.Franz Kafka, erfolgreich durchzufechten hatte. Kafka hat diesen Prozess ehrenvoll wider seinen gemieteten Gegenspieler verloren. Das zeugt von einer subtilen Subversivität im Sinne von angewandter Gerechtigkeit, wie auch von Kafkas Fähigkeiten, mit illegalen Aktivitäten umzugehen. Wäre dieser Hintergrund offenbar geworden, hätte er seinen Job bei der Versicherung verloren.

Seine Freundschaft zu den revolutionären Schriftstellern Egon Erwin Kisch und Jaroslav Haschek zeugt ebenso von seinem sozialrevolutionären Interesse.

Andererseits wirkt Kafka in dieser aufmüpfigen Untergrundkultur des zerfallenden K.u.K. Reiches merkwürdig hineingeraten.
Er sass gewöhnlich allein, niemand kannte ihn, ein stiller aufmerksamer Zuhörer, ein Glas Bier vor sich, das er kaum anrührte. Am Saalausgang Beitragseinnahme, wie das damals so war: zugunsten politischer Gefangener, streikender nordböhmischer Bergleute, zum Decken der Auslagen...
Kafka beteiligte sich auch an der stürmischen und von der Polizei auseinander getriebenen Versammlung 1912 in „Uvelke Prahy“, wo Borek gegen die Hinrichtung des Anarchisten Liabeuf in Paris sprach. Es war schwer, einen Menschen wie Franz Kafka zu übersehen, der normal Sterbliche um mehr als einen Kopf überragte, und er bemühte sich auch nicht darum, blieb ruhig in der Schlägerei zwischen Polizei und Manifestanten stehen. Und da er sich, im Namen des Gesetzes, nicht entfernte, wurde er zur nächsten Polizeistation abgeführt. Dort war man im grossen und ganzen milde, ein Gulden Strafe oder 24 Stunden Arrest, nach dem sogenannten Prügelpatent. Kafka, der sicher jeden Morgen pünktlich ins Amt kam, blieb nicht über Nacht, zahlte den Gulden.
(Michal Mares, Setkani s Franzem Kafkou; Literarni Noviny; Prag 1946)
Kafkas politisches Engagement dürfte im Zuge dieser Amtshandlung aktenkundig geworden sein, so er nicht bereits unter Beobachtung stand.

Janko Ferk stellt deutlich in seiner Arbeit über die juristischen sachlichen wie fachlichen Hintergründe des Kafkaschen Werkes dem modernen Strafprozess, der auf objektivierender Tatbestandsaufnahme wie auch auf legitimen Verfahrens-und Verteidigungsrechten des Angeklagten beruht, die inquisitorische Justiz gegenüber.

Und tatsächlich hat das Dachbodengesetz, dem sich Josef K. ausgeliefert sieht, inquisitorischen Charakter. Kafka scheint von der potentiell revolutionären Gesetzgebung und seinem Vollzug, dem Volkstribunal zu recht nicht viel gehalten zu haben. Angeklagt der kapitalistischen Ausbeutung, angeklagt der linken, angeklagt der rechten Abweichung, angeklagt des Renegatentums, des Verrats, angeklagt nach Vergehen, die im bürgerlichen Gesetzbuch nicht entsprechend gewürdigt worden sind bzw. gar nicht aufscheinen.

Das inquisitorische Recht lässt sich zurückführen auf Heinrich Institoris Malleus maleficarum, approbiert vom Papst Innozenz VII, bekannt als Der Hexenhammer.
Tatsächlich war das Ergebnis solcher Prozesse nicht der authentische Indizienbeweis. Hexerei lässt sich sowohl schwer bestimmen wie auch nachweisen, sondern das durch Folter und psychologischen Terror erzwungene Geständnis des oder der unter Anklage gesetzten.
So wie in Kafkas Prozess ist auch hier das Vergehen nicht näher und schon gar nicht authentisch definiert.

Diese inquisitorischen Züge sind ebenso charakteristisch für die politischen Prozesse sowohl der Nazis wie auch der Stalinisten. Das zu erzielende Urteil stand von vornherein fest, das erzwungene Geständnis diente nur mehr der Legitimation des Anklägers, des Gesetzes. Eine weitere Parallele scheinen mir die McCarthy Hearings zu sein, die Arthur Miller mit Hexenjagden verglichen hat.
Dass Josef K. schuldig ist, wenn er sich selbst für schuldig hält (Janko Ferk) erweist sich als interessante Analogie der stalinistischen Schauprozesse der Folgezeit. Einige der Angeklagten schienen überzeugt davon gewesen zu sein, die Sache des Kommunismus im Sinne der Anklage verraten zu haben.
Diese freiwillige Selbstauslieferung an den Henker entspricht in gewisser Weise einer der Botschaften der Strafkolonie.
Die inquisitorischen Möglichkeiten sowohl der Prozesse der von den Nazis und den Stalinisten geführten Schauprozesse sind durchaus mit der  Vision Kafkas vergleichbar.
Der nationalsozialistische Volkgerichtshof kannte keine Rechtsmittel; schränkte die Verteidigerwahl ein; es gab keinen Beschluss über die Eröffnung des Hauptverfahrens; der Reichsjustizminister war berechtigt, auch alle sonstigen strafprozessualen Vorschriften zu verändern. Die unveräusserlichen Rechte des Individuums wurden gegenüber den Exzessen des staatlichen Bestrafungs- und Vernichtungsanspruches ausser Kraft gesetzt.

Vor dem Militärgerichtshof der Sowjetunion, vor welchem seit Jänner 1935 alle wichtigen Prozesse stattfinden, hat der Angeklagte überhaupt kein Recht auf einen Verteidiger. Der politische Strafprozess vor dem Militärgerichtshof und den sonstigen Ausnahmegerichten der Sowjetunion kennt genausowenig ein Rechtsmittel wie vor dem nazistischen „Volkgerichtshof“. Auch er kennt keine Voruntersuchung, das heisst also: Der Angeklagte und sein Verteidiger (über den er bei politischen Prozessen in Sowjetrussland ja ohnehin nicht verfügt) haben überhaupt keine Möglichkeit, vor der Hauptverhandlung entlastendes Beweismaterial, durch welches der Gang der Untersuchung beeinflusst werden könnte, zu sammeln und vorzubringen. Und endlich: Hat der nazistische Reichsjustizminister das Recht, alle strafprozessualen Vorschriften der Verhandlungen vor dem „Volksgerichtshof“ abzuändern, so ist diese wahrhaft genug schamlose Beugung aller Rechtsbegriffe ja immer noch weniger rechtsbrecherisch als der Umstand, dass für die Führung der Prozesse vor den stalinistischen Ausnahmegerichten Vorschriften von vornherein überhaupt gar nicht existieren.
So William Schlamm in seiner mutigen antistalinistischen Schrift Die Diktatur der Lüge 1937 erschienen im Verlag der Aufbruch, Zürich.
Schlamm war übrigens in den 20 er Jahren noch Chefredakteur der Roten Fahne in Wien gewesen, leitete kurzzeitig nach Ossietzkys Festnahme durch die Nazis die Wiener Exil Ausgabe der Weltbühne, ging dann nach Prag. Vor der Besetzung Prags durch die deutsche Wehrmacht verhalf ihm Kafkas Gefährtin Milena Jesenska, die elend im KZ Ravensbrueck zugrunde gegangen ist, zur Flucht. Die österreichische Sozialistin Rosa Jochmann, Mithäftling der Jesenska, hat über ihr Ende berichtet.
Dass Schlamm in den 50 er Jahren auf der Seite McCarthys zu finden ist, dass er gemeinsam mit Buckley die Urquelle des Neokonservatismus National Review, gründete und redigierte, zählt zu den schwer erklärlichen Wendungen in der Geschichte dieses Mannes. Schlamm spielt während des Kalten Krieges eine wesentliche Rolle in der Springer Presse und ist ein heisser Krieger gewesen. Er schreckte auch vor der Forderung nach einem atomaren Vernichtungsschlag gegenüber den Sowjets nicht zurück. Er hatte mittelbare Beziehungen zu dem juridischen Ausarbeiter der Nürnberger Rassengesetze, Globke, Kanzleramtsdirektor des Kabinetts Adenauer. Schlamms politische Spuren in Österreich finden wir bis zum Ende der 70 er Jahre. Auch hier zählt er als Begründer der neokonservativen Bewegung, die aktuell real die politische Macht erlangt hat.
Dass es den USA gelungen ist, enttäuschte Linke wie Schlamm oder Köstler, Sperber, Aron aus dem Münzenbergischen Konkurrenzunternehmen für Tätigkeiten im CIA wie im Kongress für Freiheit zu gewinnen und zu rekrutieren, gehört zu den leider viel zu wenig beachteten fragwürdigen Phänomenen des Kalten Krieges.
Trotz der merkwürdigen Karriere dieses Mannes halte ich sein Buch Die Diktatur der Lüge für eine der wesentlichsten Kampfschriften wider den stalinistischen, in sich gesetz- und gerechtigkeitslosen, Missbrauch der Justiz. Anstelle der Gerechtigkeit trat der ideologische Terror.

Josef K. im neunten Kapitel Im Dom: Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.

Janko Ferk zitiert einen vorbereitenden Kontext, dargestellt von Hans Kelsen:
Denn die rechtliche Verbindlichkeit der Rechtssätze, ihr normativer Charakter stammt aus einer ganz anderen Quelle als die verpflichtende Kraft der Sittengesetze. Was immer der Ursprung der Moralgebote sein mag, die Quelle der verbindlichen Rechtsgesetze ist - für die formaljuristische Betrachtung des modernen Rechts ausschliesslich und allein der Wille des Staates, der natürlich für die Normen der Moral niemals in Betracht kommen kann. Weil und nur insofern sie Wille des Staates sind, der durch die faktische Macht seinen Willen realisiert, haben Rechtssätze verbindliche Kraft - und für diese rechtliche Verbindlichkeit ist gleichgültig, ob sie mit Sittengesetzen übereinstimmen oder nicht. Nicht wegen Übertretung eines Sittengesetzes wird der Verbrecher bestraft, sondern weil ein Rechtsgesetz auf sein Verhalten Strafe setzt. Und die rechtliche Verbindlichkeit eines Rechtssatzes leidet nicht im geringsten, wenn er in Widerspruch eines Sittengesetzes steht.
Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt an der Lehre vom Rechtssatz, Tübingen 1911

Genau genommen muss K s Schuld jenseits juristischer Vorwerfbarkeit liegen, sozusagen in der Metaphysik eines Naturrechts, das die Wiener Schule durch den absoluten Machtanspruch des Staates ersetzte. (Janko Ferk)
Dazu Hans Kelsen:
Die Frage, die auf das Naturrecht zielt, ist die ewige Frage, was hinter dem positiven Recht steckt. Und wer die Antwort sucht, der findet, fürchte ich, nicht die absolute Wahrheit einer Metaphysik noch die absolute Gerechtigkeit eines Naturrechts. Wer den Schleier hebt und sein Auge nicht schliesst, dem starrt das Gorgonenhaupt der Macht entgegen.
Hans Kelsen, In Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtler, Heft 3, Berlin und Leipzig 1927,

Rückgewendet zu den Thesen von Hans Kelsen, bzw. zu seinem Gorgonenhaupt der Macht könnte man sagen, der politische Ankläger legt die Schuldhaftigkeit von vornherein fest und bestätigt diese im nachhinein unter Mitwirkung des Angeklagten in einem öffentlichen Schauprozess.

Doch Josef K. spielt dieses Spiel so nicht mit, andererseits kommt er dem in die Nähe. Er hadert mit dem imaginären Gericht, so wie Hiob mit Gott gehadert hat.
Josef. K an den Untersuchungsrichter:
Sie können einwenden, dass es ja überhaupt kein Verfahren ist, Sie haben sehr recht, denn es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne. Aber ich erkenne es also für den Augenblick jetzt an, aus Mitleid gewissermassen.
und weiter
„Es hilft nichts“, fuhr K. fort, „auch ihr Heftchen, Herr Untersuchungsrichter, bestätigt, was ich sage.“ Zufrieden damit, nur seine ruhigen Worte in der fremden Versammlung zu hören, wagte es K. sogar, kurzerhand das Heft dem Untersuchungsrichter wegzunehmen und es mit Fingerspitzen, als scheue er sich davor, an einem mittleren Blatte hochzuheben, so dass beiderseits die engbeschriebenen, fleckigen, gelbrandigen Blätter hinunterhingen.
„Das sind die Akten des Untersuchungsrichters.“ sagte er, und liess das Heft auf den Tisch hinunterfallen.

Später wird er den Advokaten Bloch entlassen, weil der mit der Verteidigungsschrift offensichtlich nicht weiterkommt, nicht weiter kommen will. K. kann und will sich dem Zeit-Takt des Gerichts nicht unterwerfen.
Vorher schon hat er sich mit der Haushälterin Blochs, Leni, in dessen Wohnung vergnügt, anstatt den Ausführungen seines Anwalts, dem er von seinem Onkel zugeführt worden ist, zu lauschen.
Josef K. missachtet das Gericht und nimmt seinen Anwalt nicht ernst.
Ab da an lässt ihn das Gericht jagen, mit oder ohne Anklage, mit oder ohne Verfahren, mit oder ohne Urteil. Noch ist er von Leni gewarnt, doch die Schergen suchen ihn, finden ihn auf und richten ihn auf einer Gstätten am Rande der Stadt hin.

Ähnlich verhalten haben sich Angeklagte aus der 68-er Rebellen Generation. Die Zuständigkeit der Gerichtsbarkeit wurde grundsätzlich in Frage gestellt. So antwortete ein des Landfriedensbruches angeklagter Kommunarde auf die Aufforderung des Richters, sich zu erheben mit dem Satz: Wenn es der Wahrheitsfindung dient.

Kafkas Werk nahm nicht allein eine Schlüsselposition in der Ausereinandersetzung mit dem Totalitarismus insgesamt,. Es diente auch als ein geistiges Modell der 68-er in der Auseinandersetzung mit der repressiv empfundenen Staatsmacht im Sinne aufklärender Subversion, die sich darin legitimiert, dass das Gesetz von der Staatsmacht selbst missachtet wird.
Kafkas Werk wohnt eine bestimmte Subversivität inne, die es insbesondere den orthodoxen Kommunisten suspekt machte. Er galt als kleinbürgerlicher Schwarzseher und Pessimist. In Wahrheit fürchtete man jedoch in der Rezeption Rückschlüsse auf die Allgegenwart des Staatssicherheitsdienstes und des KGBs, ebenso Analogieschlüsse zur herrschenden Willkür der Bürokratie.
Bertolt Brecht über Franz Kafka:
Bei ihm findet sich in merkwürdigen Verkleidungen vieles Vorgeahnte, was zur Zeit des Erscheinens der Bücher nur wenigen zugänglich war. Die faschistische Diktatur steckte den bürgerlichen Demokratien sozusagen in den Knochen, und Kafka schilderte mit grossartiger Phantasie die kommenden Konzentrationslager, die kommende Rechtsunsicherheit, die kommende Rechtsunsicherheit, die kommende Verabsolutierung des Staatsapparates, das dumpfe, von unzugänglichen Kräften gelenkte Leben der vielen einzelnen. Alles erschien wie in einem Albdruck und mit der Wirrheit und Unzulänglichkeit des Albdrucks.Und zu gleicher Zeit, wo der Intellekt sich verwirrte (mich erinnert Kafka immer an die Aufschrift am Tor der Danteschen Hölle: "Wir sind angekommen vor dem Tor des Lands / wo alles wehrlos ist, was leidet, / das hat verspielt das Erbgut des Verstands"), klärte sich die Sprache. Deutsche Schriftsteller werden unbedingt diese Werke lesen müssen, so schwer das ist, da die Stimmung der Ausweglosigkeit sehr stark ist und man zu allem einen Schlüssel braucht wie bei Geheimschriften.Ich sehe, ich habe viele Mängel aufgezählt in diesen kurzen Sätzen, mit denen ich eine Ehrung beabsichtige, und tatsächlich bin ich weit davon entfernt, hier ein Vorbild vorzuschlagen. Aber ich möchte diesen Schriftsteller nicht auf den Index gesetzt sehen bei allen seinen Mängeln.
Oft dienen die Schriftsteller uns auch mit dumpfen, dunklen und schwer zugänglichen Werken, die man mit grosser Kunst und Sachkenntnis lesen muss, als wären sie illegale Zuschriften, dunkel aus Furcht vor der Polizei. Und man kann auch mit Nutzen Werke voll von Irrtümern lesen, wenn sie auch anderes enthalten. Misstrauen vernichtet nicht das Lesen, sondern Mangel an Misstrauen.
(B.B. über die moderne tschechoslowakische Literatur, wahrscheinlich 1938 verfasst; siehe gesammelte Werk, Suhrkamp)

Die DDR ist dem Ansinnen Brechts nicht nachgekommen und hielt Kafka lange Zeit  weitgehend zurück. Die Zeilen von Brecht finden sich im Klappentext des ersten Bandes des von Klaus Hermsdorf 1983 bei Rütten & Loening herausgegebenen Werks.
Erinnern wir uns an die Forderung Ernst Fischers im Dialog der 60 er Jahre. Gebt Kafka endlich seinen Pass zurück !. Das betraf den Umgang der Tschechoslowakei mit Kafkas Werk.

Das, was Brecht in durchaus opportunistischer, sich selbst schützender Weise noch als Mangel ausdrückte, ist uns Heutigen eine wichtige Lehre und ein klarer Sinn für die wahren Verhältnisse. Welchen Index meint eigentlich Brecht 1938, zu einem Zeitpunkt, zu dem er sich auf der Flucht vor den Nazis befunden hat ? Die Goebbelsche Verbotsliste kann er nicht gemeint haben. Gab es zu diesem Zeitpunkt bereits eine interne Zensurliste der Nachfolgeorganisation der Komintern, die später etwa in der DDR angewandt und erweitert wurde ? Kafka selbst wäre wohl in der Sowjetunion Stalins den sogenannten antitrotzkistischen Säuberungen zum Opfer gefallen. Aber das ist ein rein hypothetisches Gedankenspiel.
Hat Brecht, selbst verfemt und auf einer Verbotsliste der Nazis stehend, umgekehrt über einen Index mit nachgedacht, dem u.a. auch sogenannte Links- oder Rechtsabweichler zum Opfer gefallen wären ? So wie Benedikt Kautsky auf die Zensurliste der Alliierten gelangte, die im wesentlichen von den Sowjets vorbereitet worden ist.

Doch auch die traditionelle westlichen Staatsmächte wussten um die Bitterkeit, die der innewohnende Kafkasche Gerechtigkeitssinn auszulösen imstande ist.
Tatsächlich wurde er in den 60 er Jahren von der nichtorthodoxen Linken rezipiert. Das herausgeberische Werk des ausgezeichneten Kafka Biografen Klaus Wagenbach lässt berechtigte Schlüsse zu.
Die akademisch orientierten Literaturwissenschaften beschäftigten sich jedoch weitgehend mit den formalen Aspekten des Kafkaschen Werks. Um ihn herum ist jedoch keiner gekommen und er ragt auch heute noch als Riesenstein mit unterschiedlichsten Facetten wie angelegten Brüchen eratisch aus dem weiten Feld der Weltliteratur in die Gegenwart wie in die Zukunft.

Günter Anders wusste um das subversive Potential Kafkas sehr genau Bescheid, wie seine im New Yorker Exil 1946 fertiggestellte, ausgezeichnete Schrift Kafka - Pro und Kontra eindrucksvoll unter Beweis stellt.
Als Fazit schreibt er:
Sein Werk ist nicht von heute, sondern von vorgestern. Die geschichtliche Situation, in der er verwendet wird, war von ihm nicht vorauszusehen. Die Anspielungen auf die Welt des Terrors und der Gleichschaltung, deren Zeitgenossen wir sind, waren für ihn keine Anspielungen.
Nun, das glaube ich nicht. Wenn es für Kafka keine Anspielungen gewesen sind, dann hat er vor seinen Zeitgenossen eine bereits im Keim bestehende Realität wahrgenommen, die in Folge sich auswuchs, die unsere Gegenwart noch immer mitbestimmt und und deren Düsternis auch aus der Zukunft hervorleuchtet.
Man kann mit Günter Anders sagen, dass Kafka im Heute noch wirksam ist, ja wirksam bleiben wird. Zu grundlegend sind die existentiellen wie auch transzendentalen Infragestellungen des Franz Kafka.
Was bedeutet das für Günter Anders:
Das heisst: Die Position, die er einnimmt, aufs Deutlichste bezeichnen; die in seinen Werken, teils direkt, teils indirekt investierten Nihilismen so durcherklären, dass sie ihre Lockung einbüssen; so, dass wer zur Verteidigung seines eigenen Verhaltens auf ihn sich beruft, oder wer ihn nachahmt, notorisch ist.
Man hat auch Warnungen zu erben. Und durch grosse Warnungen sich selbst zu erziehen und andere zu bilden. Die von ihm durchgeführte Zeichnung der Welt, wie sie nicht sein sollte; der Attitüden, die unsere nicht sein dürfen - als Warnungstafeln in unseren Seelen aufgestellt, werden von Nutzen sein. Und da sie von einem guten Menschen gezeichnet waren, der letztendlich zweifelte an der Brauchbarkeit seines Werkes und selbst für dessen Zerstörung plädierte, dürfen wir vielleicht hoffen, dass er als Warner das wird leisten können, was er als Ratgeber für sich oder andere nicht hatte leisten können: zu helfen.

Ein besonders autoritäre wie totalitäre Gesetzesauffassung demaskiert Kafka in seiner Erzählung In der Strafkolonie.
Dem Forschungsreisenden ist vom beauftragten Offizier eine Exekution eines Deliquenten in der von seinem hochverehrten Vorgänger konstruierten Belehrungs- wie Hinrichtungsmaschine vorzuführen.
Die Maschine schreibt dem Verurteilten das Gesetz buchstäblich auf den Leib, bläut es ihm nicht allein ein, peitscht es ihm nicht allein auf, sondern tätowiert es in vielen verschlungenen Zügen auf den nackten Leib, bis er sein Vergehen in seiner Tiefe versteht. Vor seiner endgültigen Auslöschung wird ihm das Gesetz beigebracht. Meist kennt der in Spangen geschlossene, zum Richtplatz geführte Delinquent nicht einmal sein Vergehen. Doch es wird ihm auf den Leib geschrieben werden.
Der Offizier zeigte auf den Mann: Diesem Verurteilten zum Beispiel wird auf den Leib geschrieben werden: Ehre deinen Vorgesetzten !
Die Einhaltung der Disziplin zählte zu den eifersüchtig mit Argusaugen gehüteten zentralen Ordnungsprinzipien des kaiserlichen und königlichen Heeres.
Im vierten Abschnitt des Dienstreglements aus dem Jahre 1873, Ausgabe 1904,  des k.u.k. Heeres finden wir die Verhaltungen des höheren Vorgesetzten.
Disziplin.
Die Disziplin ist der Inbegriff der einer Truppe innewohnenden Subordination, Pflichttreue und Ordnung.
Sie bedingt von Seite des Vorgesetzten unbeugsame Kraft in Handhabung der Zucht und in Durchführung der Befehle, von Seite der Untergebenen pünktlichen Gehorsam und beansprucht von den einen wie von den anderen Achtung vor dem Gesetz und Pflichten bis zur grössten Selbstverleugnung.
Die Disziplin umfasst gleich der Subordination die Personen aller Grade der bewaffneten Macht und der Gendarmerie, alle Truppen- und Armeekörper - das ganze Gefüge der Kriegsmacht. Sie ist für deren inneren Wert und deren Leistungsfähigkeit von höchster Wichtigkeit.
Die Grundlage der Disziplin in der Truppe ist die angemessene Erziehung des Soldaten zum unbedingten Gehorsam, zur gewissenhaften Pflichterfüllung und zur strengsten Genauigkeit im Detail des Dienstes.
Die Disziplin erfordert die unausbleibliche Bestrafung eines jeden, der den erlassenen Befehlen und Vorschriften nicht pünktlich nachkommt.

Der vorführende Offizier in der Strafkolonie weiss, dass die Gesetzesmaschinerie nicht mehr ganz zeitgemäss (1914) empfunden wird, und fürchtet, dass der Forschungsreisende nur eingeladen wurde, um der Welt den Schrecken dieses mechanischen Vollzugsapparates mitzuteilen.

Dieses Verfahren und diese Hinrichtung, die Sie jetzt zu bewundern Gelegenheit haben, hat gegenwärtig in unserer Kolonie keinen offenen Anhänger mehr. Ich bin ihr einziger Vertreter, gleichzeitig der einzige Vertreter des Erbes des alten Kommandanten.

Das Ende dieses Verfahrens scheint gekommen und der diensthabende Offizier begreift dies im Gespräch mit dem Reisenden. Er befreit den Delinquenten aus den Fesseln des Apparats und verfügt sich selbst an den Platz der Verurteilten. Der Offizier fühlte sich so sehr dem Gesetz verpflichtet, dass er kurzerhand beschloss, dessen bevorstehende Einstellung mit seiner Selbstaufopferung zu beschliessen. Die Soldaten der Beschrankung, die den Verurteilten unmittelbar zu bewachen hatten, weist er an, nach Hause zu gehen.
Die Maschine beginnt zu laufen und während des Vollzuges zerbricht sie und spiesst den Offizier dergestalt auf, dass ihm das eiserne Horn durch den Schädel dringt und aus der Stirne hervorragt.
So wohnte der Forschungsreisende dem Ende des grausamen Militärgesetzes bei.

Halten wir uns vor Augen, dass Kafka diese Geschichte zu Beginn des 1.Weltkrieges geschrieben hat, sie öffentlich vorgetragen hat und mit dem Verleger Wolff über die Drucklegung verhandelte. Tatsächlich erschien sie erst nach dem Kriege im Jahre 1919.

Kafka, der ausgebildete und praktizierende Jurist, muss sich dessen bewusst bewusst gewesen sein, dass er damit einen Aufruf zur absoluten Insubordination, zur definitiven Zerschlagung des Militärsgesetzes verfasst hat. Das kam in solcher Zeit dem Hochverrat nahe. Doch ihm ist wundersamerweise nichts geschehen. Die Nazis hätten ihn wegen Wehrkraftzersetzung vor ein Standgericht geschleift. Kafka ist also ein sehr mutiger Mann gewesen.

Es sei nun noch eine kleine, aber nicht unwesentliche Randnote der Geschichte erwähnt. Josef Stalin hat sich kurz vor Ausbruch bzw. während des 1.Weltkrieges für längere Zeit in ein kleines Hotel in der Schönbrunner Schlossstrasse zurückgezogen und sich sozusagen im nächsten Umfeld der Kaisers aufgehalten. Es wird erzählt, dass Stalin während seines Wiener Aufenthaltes k.u.k Finanzrecht, Völker- und Militärrecht studiert habe...

In anderer Weise ist die Metapher der Maschine heute noch gültig. Der Befehlskanon der Computer wird uns zwar nicht auf den Leib, aber doch ins Hirn geschrieben. Und wir müssen es hinnehmen, ob wir wollen oder nicht.
Sollte es uns nicht auch mit Sorge erfüllen, dass wir der Technik mehr Realität zubilligen, als wir aus unserem eigenen Leben zu geben fähig sind? Werden wir gar wie der Offizier der Strafkolonie mit der Technik untergehen?

So wie ich diesen Text mit der Beschreibung eines Bildes begonnen habe, möchte ich diesen ersten Teil einer umfangreichen Auseinandersetzung mit Franz Kafka mit einer Bildbeschreibung von ihm aus dem Prozess beenden.

Besonders fiel ihm ein grosses Bild auf, das rechts von ihm an der Tür hing, er beugte sich vor, um es besser zu sehen. Es stellte einen Mann im Richtertalar dar; er sass auf einem hohen Thronsessel, dessen Vergoldung vielfach aus dem Bilde hervorstach. Das Ungewöhnliche war, dass dieser Richter nicht in Ruhe und Würde dort sass, sondern den linken Arm fest an Rücken- und Seitenlehne drückte, den rechten Arm aber völlig frei hatte und nur mit der Hand die Seitenlehne umfasste, als wolle er im nächsten Augenblick mit einer heftigen und vielleicht empörten Wendung aufspringen, um etwas Entscheidendes zu sagen oder gar das Urteil zu verkünden...

Doch welches Gesetz sollte der Richter heute verkünden. Etwa die Auffassung von John Rawls, eines amerikanischen Rechtsphilosophen, wie sie Janko Ferk beschreibt. Für Rawls wäre die Pflicht unbestritten "einem ungerechten Gesetz zu gehorchen". Die Verpflichtung beruhe auf den "Grundsätzen der Pflicht und dem Fairnessgrundsatz". Es sei unrichtig, ungerechten Regelungen nie gehorchen zu müssen. "Die Ungerechtigkeit eines Gesetzes ist nicht allgemein ein hinreichender Grund, sich nicht an es zu halten."
Falls die Grundstruktur der Gesellschaft einigermassen gerecht sei und das Gesetz ein gewisses Mass an Ungerechtigkeit nicht überschreitet, ist es nach Rawls bindend. Hier wären die Forderungen der politischen Pflicht und Verpflichtung abzuwägen.

Oder halten wir uns an gleich an einen der wesentlichsten Primärcodes:
Matthäus 7,12 Die Goldene Regel
Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch; darin besteht das Gesetz und die Propheten.
und 7,1-5 Vom Richten
Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet ! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Mass, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken im eigenen Auge bemerkst du nicht ? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen ! - und dabei steckt in deinem Auge ein Balken? Du Heuchler ! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders heraus zu ziehen.
Nach der Einheitsübersetzung des Neuen Testamentes.
 
 


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